Nach § 14 Abs. 1 Nr. 5 SGB XIV steht die erhebliche Vernachlässigung von Kindern einer Gewalttat gleich. Das BMAS wurde gebeten, zur Auslegung dieses Tatbestandes und seines Anwendungsbereiches Stellung zu nehmen.
1. Auslegung "erhebliche Vernachlässigung"
Der Tatbestand setzt zunächst eine Vernachlässigung voraus. Eigenständige Relevanz kommt dem Tatbestand bei Verhaltensweisen zu, die nicht bereits durch den Begriff der (physischen oder psychischen) Gewalt erfasst werden.
Der Begriff "Vernachlässigung“ ist im Gesetz nicht näher definiert. Da das Soziale Entschädigungsrecht auf gesundheitliche Schädigungen abstellt, bietet es sich an, an die im medizinischen Bereich gebräuchliche Auslegung des Begriffs anzuknüpfen. Die Leitfäden der Länder zum Kinderschutz, die über die Homepage der Bundesärztekammer abrufbar sind, definieren die Vernachlässigung als die wiederholte oder andauernde Unterlassung fürsorglichen Handelns durch sorgeverantwortliche Personen, das zur Sicherung der seelischen und körperlichen Bedürfnisse des Kindes notwendig wäre.
Eine Vernachlässigung körperlicher Bedürfnisse liegt u. a. bei unzureichender Nahrung oder Verweigerung medizinisch notwendiger Hilfe (vgl. dazu auch die Gesetzesbegründung zu § 14) vor. Eine Vernachlässigung seelischer Bedürfnisse kann etwa in mangelnder Zuwendung, fehlender sprachlicher Förderung oder in einem abwertenden Verhalten liegen. Zu beachten ist, dass es sich grundsätzlich um ein wiederholtes oder andauerndes Verhalten handeln muss. Nur im Ausnahmefall kann ein einmaliges Verhalten eine Vernachlässigung i.d.S. darstellen; es muss sich dann um ein besonders ausgeprägtes, schwerwiegendes Verhalten handeln.
Ein vorsätzliches Verhalten ist nicht erforderlich; erfasst sind auch Fälle, in denen die Sorgeberechtigten vorsatzlos handeln. Ein Bezug zum Straftatbestand des § 225 StGB besteht nicht, sodass es nicht darauf ankommt, ob die Vernachlässigung böswillig erfolgte.
Die Vernachlässigung muss erheblich sein. Wann die Erheblichkeitsgrenze überschritten ist, kann nicht pauschal definiert werden. Vielmehr ist eine Einzelfallbetrachtung notwendig, bei der insbesondere das Alter und die Einsichtsfähigkeit des Kindes eine Rolle spielen. So wird man ein dreijähriges Kind nicht, ein zwölfjähriges dagegen schon regelmäßig alleine zu Hause lassen können. Häufige Wiederholungen oder ein lange andauerndes Fehlverhalten können für die Erheblichkeit der Vernachlässigung sprechen, ebenso die Intensität des Verhaltens. Für die Annahme einer erheblichen Vernachlässigung genügt es nicht, wenn die Entwicklung des Kindes nicht bestmöglich verläuft.
Die Erheblichkeit ist im Regelfall dann zu bejahen, wenn durch die Vernachlässigung das Kindeswohl derart gefährdet wird, dass eine räumliche Trennung des Kindes von seinen Eltern gegen deren Willen nach § 1666 BGB gerechtfertigt wäre. Da dies den stärksten Eingriff in das Elterngrundrecht aus Art. 6 Abs. 3 GG darstellt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. April 2018 - 1 BvR 383/18), sind hier hohe Anforderungen zu beachten. Sind diese erfüllt, ist davon auszugehen, dass die Vernachlässigung auch erheblich i. S. d. § 14 Abs. 1 Nr. 5 SGB XIV ist.
2. Anwendungsbereich des § 14 Abs. 1 Nr. 5 SGB XIV
a) Persönlicher Anwendungsbereich
Die Norm erfasst nur die erhebliche Vernachlässigung von Kindern. Da das SGB XIV an verschiedenen Stellen zwischen Kindern und Jugendlichen differenziert (vgl. etwa § 5 Abs. 1 und § 34 Abs. 1), ist davon auszugehen, dass damit nicht alle Personen erfasst sein sollen, die noch nicht volljährig i. S. d. § 2 BGB sind. Vielmehr bietet sich an, auf die Definition des § 7 Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII zurückzugreifen: Hiernach sind Kinder Personen unter 14 Jahren und jugendliche Personen über 14, aber unter 18 Jahren (so im Ergebnis auch Bischofs, SGb 2022, S. 24 unter Verweis auf den „allgemeinen rechtlichen Gebrauch der Termini“). Eine Anwendung auf über 14-Jährige ist mithin von der Norm nicht umfasst. Abweichend hiervon sind in Anlehnung an § 7 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 SGB VIII bei Vorliegen einer Behinderung i. S. d. § 7 Abs. 2 SGB VIII als Kinder Personen anzusehen, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben.
b) Zeitlicher Anwendungsbereich
Der zeitliche Anwendungsbereich ergibt sich aus §§ 137 f. SGB XIV. Grundsätzlich gilt bei Anträgen, die ab dem 1. Januar 2024 gestellt werden, das SGB XIV. Hat die erhebliche Vernachlässigung ausschließlich ab diesem Zeitpunkt stattgefunden, gelten die Vorschriften des SGB XIV uneingeschränkt; es gilt das zuvor zur Auslegung des Tatbestandes der erheblichen Vernachlässigung und zum persönlichen Anwendungsbereich Ausgeführte.
Bei Schädigungen zwischen dem 16. Mai 1976 und dem 31. Dezember 2023 ist § 138 Abs. 1 SGB XIV zu beachten. Hiernach besteht ein Anspruch auf Leistungen des SGB XIV nur dann, wenn die Voraussetzungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in der zum Tatzeitpunkt geltenden Fassung erfüllt waren (§ 138 Abs. 1 S. 1 SGB XIV). Das bedeutet, dass bei Anträgen für Schädigungen vor dem 1. Januar 2024 zu prüfen ist, ob die Vernachlässigung des Kindes tatbestandsmäßig i. S. d. OEG war. Hierzu hat sich das Bundesministerium für Arbeit in seinem Rundschreiben vom 13. Februar 2002 geäußert. Die dortigen Ausführungen haben weiterhin Geltung - eine erhebliche Vernachlässigung von Kindern wird nur dann vom OEG erfasst, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen, die im genannten Rundschreiben konkretisiert wurden, vorliegen. Danach kann eine erhebliche Vernachlässigung von Kindern dann in den Schutzbereich des OEG einbezogen werden, "wenn die zugrundeliegende Tat oder Unterlassung geeignet ist, schwere gesundheitliche Schädigungen hervorzurufen, und zudem nach dem StGB (§ 225) strafbar ist."
Hat ein Teil der Vernachlässigung nach dem 31. Dezember 2023 stattgefunden, findet das SGB XIV - einschließlich § 14 Abs. 1 Nr. 5 SGB XIV - Anwendung (§ 138 Abs. 1 Satz 2 SGB XIV).