Am 1. Januar 2024 tritt das SGB XIV in Kraft. Es enthält in § 4 Absatz 5 eine Vermutungsregelung für die Kausalität bei psychischen Gesundheitsstörungen. Hinweise zur Durchführung dieser Vermutungsregelung gibt es in dem ebenfalls am 1. Januar 2024 in Kraft tretenden Teil C Nr. 3.4.4 bis 3.4.6. der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (siehe Anlage).
Die neuen Regelungen haben zu Diskussionen in der Fachöffentlichkeit und im Deutschen Bundestag geführt. Aus diesem Anlass möchte ich Ihnen meine Auffassung dazu mitteilen.
Im Sozialen Entschädigungsrecht genügt seit jeher für die Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Diese ist gegeben, wenn mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang zwischen schädigendem Ereignis, gesundheitlicher Schädigung und Schädigungsfolge spricht. In der Prüfung müssen diese drei Tatsachen zunächst ermittelt werden. Danach ist zu prüfen, ob mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang zwischen diesen Tatsachen spricht, der Kausalzusammenhang zwischen ihnen also wahrscheinlich ist (siehe auch: Teil C Nr. 1 bis 3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze).
Für psychische Gesundheitsstörungen wird die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs künftig gemäß § 4 Absatz 5 SGB XIV vermutet, sofern diese Vermutung nicht durch einen anderen Kausalverlauf widerlegt wird. Der Sinn einer Vermutung besteht darin, dass im Regelfall keine Prüfung der Voraussetzungen mehr vorgenommen wird. Das bedeutet: Im Regelfall ist die Kausalität ohne weitere Prüfung zu bejahen.
In Nr. 3.4.5 und Nr. 3.4.6 werden Ausnahmen von diesem Regelfall genannt. Flier sind als Regelbeispiele vier Fallkonstellationen aufgeführt, in denen sich die Unrichtigkeit der Vermutung geradezu aufdrängt:
- Das schädigende Ereignis ist nicht geeignet, eine psychische Gesundheitsstörung hervorzurufen, z. B. eine Rangelei oder Ohrfeige (Nr. 3.4.6 Buchstabe a).
- Die psychische Störung geht dem schädigenden Ereignis zeitlich voraus (Nr. 3.4.6 Buchstabe b)
- Bei der Tatsachenfeststellung ergeben sich Hinweise auf ein nicht nach dem Sozialen Entschädigungsrecht geschütztes schädigendes Ereignis, z. B. Unfall oder Suizid bei Lokführer (Nr. 3.4.6 Buchstabe c).
- Bei der psychischen Störung handelt es sich um eine Demenz oder eine Intelligenzstörung (Nr. 3.4.6 Buchstabe d).
In derartigen Ausnahmefällen wird die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs geprüft. Erst nach dieser Prüfung kann sie bejaht oder verneint werden.
Um den in der Gesetzesformulierung zum Ausdruck kommenden gesetzgeberischen Willen umzusetzen, muss sich die Vermutung auch in der Versorgungsmedizinischen Begutachtung niederschlagen. Eine Auslegung dahingehend, dass in jedem Einzelfall geprüft wird, ob vielleicht eine Ausnahme vorliegen könnte, halte ich mit dem Willen des Gesetzgebers für nicht vereinbar, weil das eine Verkehrung von Regel und Ausnahme wäre.
Im Ergebnis bin ich deshalb der Auffassung, dass bei der Versorgungsmedizinischen Begutachtung von psychischen Störungen nach dem Sozialen Entschädigungsrecht im Regelfall gemäß § 4 Absatz 5 SGB XIV die Kausalität als vorliegend anzunehmen ist und eine Prüfung nur dann durchgeführt wird, wenn sich die Unrichtigkeit der Vermutung aufdrängt. Maßstab hierfür sind die in Teil C Nr. 3.4.6 Buchstaben a bis d aufgeführten Fallkonstellationen.
Anlage
§ 4 Absatz 5 Sozialgesetzbuch Vierzehntes Buch (SGB XIV)
Bei psychischen Gesundheitsstörungen wird die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs im Einzelfall vermutet, wenn diejenigen medizinischen Tatsachen vorliegen, die nach den Erfahrungen der medizinischen Wissenschaft geeignet sind, einen Ursachenzusammenhang zwischen einem nach Art und Schwere geeigneten schädigenden Ereignis und der gesundheitlichen Schädigung und der Schädigungsfolge zu begründen und diese Vermutung nicht durch einen anderen Kausalverlauf widerlegt wird.
Teil C Nr. 3.4.4 bis 3.4.6 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung)
3.4.4
Bei der Anwendung der Vermutungsregelung des § 4 Absatz 5 des Vierzehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB XIV) gilt Folgendes: Bei einer psychischen Gesundheitsstörung wird der ursächliche Zusammenhang kraft Gesetzes vermutet, wenn die Vermutung nicht durch einen anderen Kausalverlauf widerlegt wird (§ 4 Absatz 5 SGB XIV). Voraussetzung ist, dass die psychische Gesundheitsstörung nach einer der international anerkannten Klassifikationen (ICD-10 bzw. ICD-11 oder DSM-5) unter Verwendung der dortigen Bezeichnungen auf der Grundlage des aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Kenntnisstandes durch behandelnde Ärzte und Fachärzte diagnostiziert worden ist. Das schädigende Ereignis muss in seiner Art und Schwere nach den Erfahrungen der medizinischen Wissenschaft geeignet sein, diese Gesundheitsstörung zu begründen. Die Diagnosesicherung beinhaltet auch die Differenzierung zwischen Entstehung und Verschlimmerung der psychischen Gesundheitsstörung. Liegen diese Voraussetzungen vor, ist die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs im Sinne einer Kausalitätsprüfung (Nummer 3.4.1 bis 3.4.3) zu vermuten, wenn keine Anhaltspunkte für einen anderen ursächlichen Zusammenhang vorliegen.
3.4.5
Bei Vorliegen von Anhaltspunkten für einen anderen Kausalverlauf ist die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs nach Nummer 3.4.1 bis 3.4.3 zu prüfen.
3.4.6
Anhaltspunkte für einen anderen Kausalverlauf liegen insbesondere dann vor,
a) wenn Art und Schwere des Ereignisses nicht geeignet sind, eine psychische Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge hervorzurufen,
b) wenn sich bei der Tatsachenfeststellung nach Nummer 2 Hinweise auf eine bereits vor dem schädigenden Ereignis bestehende psychische Gesundheitsstörung ergeben,
c) wenn sich bei der Tatsachenfeststellung nach Nummer 2 Hinweise auf ein anderes, jedoch nicht nach § 4 Absatz 1 des Vierzehnten Buches Sozialgesetzbuch zu berücksichtigendes schädigendes Ereignis ergeben, das nach Art und Schwere für sich betrachtet geeignet ist, eine psychische Gesundheitsstörung hervorzurufen, oder
d) wenn nach aktuellem medizinisch-wissenschaftlichem Kenntnisstand ein Ursachenzusammenhang zwischen einem auf die Psyche einwirkenden schädigenden Ereignis und einer psychischen Gesundheitsstörung nicht vorliegen kann, wie dies insbesondere bei der Entstehung von dementieilen und Intelligenzstörungen der Fall ist; das Auftreten einer komorbiden psychischen Gesundheitsstörung oder eine Verschlechterung der Auswirkungen von dementiellen oder Intelligenzstörungen auf die Teilhabe als Folge eines auf die Psyche einwirkenden schädigenden Ereignisses ist dadurch nicht ausgeschlossen.