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Die Grundsicherung neu ausrichten

Ein Gastbeitrag des Bundesministers für Arbeit und Soziales, Hubertus Heil, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) vom 29.3.2018

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29.03.2018

Ostern steht vor der Tür und der Festtagsbraten auf dem Tisch? Oder sind "die fetten Jahre" vorbei? Deutschland geht es so gut wie schon lange nicht mehr. Trotzdem erleben viele Menschen, dass der Wohlstand in unserer Gesellschaft nicht gerecht verteilt ist. Die einen halten unser Sozialsystem für ausufernd und zu teuer, die anderen für unzureichend und fehlgesteuert.

Ich bin davon überzeugt, dass es Aufgabe des Sozialstaates ist, allen Bürgerinnen und Bürgern ein Leben in Würde zu garantieren. Wenn es um die Zukunft des Sozialstaates geht, geht es auch um unsere Zukunft in Arbeit. Die Qualität des Sozialstaates bemisst sich nicht nur an der Höhe der Transfers für Nahrung und Wohnraum. Wichtig ist auch sein "Umgangston" (und der mancher Parteien) gegenüber denen, die nicht aus eigener Kraft für sich sorgen können. Den Sozialstaat zu brauchen ist keine Schande und darf niemals peinlich sein. Es entspricht weder meinem Menschenbild noch meinem Verständnis von politischer Verantwortung, wenn Empfänger gerade nur so viel monetäre Hilfe bekommen, dass sie für sich keine andere Möglichkeit mehr sehen, als sich in einem Leben in Armut einzurichten. Der Sozialstaat muss auch immer wieder eine Chance auf ein selbstbestimmtes Leben und auf ein Ende der Hilfsbedürftigkeit anbieten, solange dies realistisch möglich ist. In einer Gesellschaft, in der alle immer älter werden, sollten wir uns allen nicht nur eine zweite, sondern auch eine dritte oder vierte Chance bieten. Eine Chance auf (Weiter)Bildung, auf Gesundheit und Rehabilitation und vor allem: eine Chance auf Arbeit.

Es wird nicht überraschen, dass ich als Arbeitsminister den Schlüssel dazu im Wert der Arbeit sehe. Deswegen lehne ich ein bedingungsloses Grundeinkommen ab. Ich möchte auch im Zeitalter des digitalen Wandels nicht, dass Unternehmen ihre Verantwortung für die Beschäftigungsfähigkeit ihrer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aufgeben und vollständig an den Staat und die Steuerzahler delegieren. Thomas Mann hat es auf die Formel gebracht: "Arbeit ist schwer, ist oft genug ein freudloses und mühseliges Stochern; aber nicht arbeiten - das ist die Hölle." Denn Arbeiten heißt längst nicht nur, Geld zu verdienen. Arbeiten bedeutet auch, eine Aufgabe zu haben, Anerkennung zu bekommen, soziale Kontakte zu pflegen und einen Beitrag zu leisten, auf den man stolz sein kann.

Dem überwiegenden Teil von uns allen gelingt das. Im Jahresdurchschnitt 2017 waren über 44 Millionen Menschen in Deutschland erwerbstätig. Das ist die höchste Zahl an Erwerbstätigen seit der Wiedervereinigung und eine Halbierung der Arbeitslosigkeit im Vergleich zu vor wenigen Jahren.

Diese Entwicklung ist gut, birgt aber eine doppelte Herausforderung: Immer mehr Unternehmen finden keine passenden Fachkräfte mehr. Und trotz guter Lage auf dem Arbeitsmarkt und vielfachen Engagements der Beschäftigten in den Jobcentern finden viele Menschen keine passende Stelle. Jene, die Arbeit suchen, und jene, die Arbeit bieten, passen immer häufiger nicht mehr zusammen.

Diese Herausforderung packe ich jetzt an: Wir werden vier Milliarden Euro für einen "Sozialen Arbeitsmarkt" einsetzen, der von Kommunen und Sozialverbänden seit vielen Jahren gefordert wird: gesellschaftlich sinnvolle Aufgaben für Langzeitarbeitslose in der freien Wirtschaft, bei Wohlfahrtsverbänden oder gemeinnützig in den Kommunen in sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen mit längerfristiger Perspektive. So wollen wir zunächst 150.000 Menschen mittelfristig an den allgemeinen Arbeitsmarkt heranführen. Damit dies gelingt, ist neben den Lohnkostenzuschüssen auch Coaching und Begleitung vorgesehen. Denn wer mehrere Jahre arbeitslos war, kann nur selten ganz allein von null auf 100 durchstarten. Das ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg hin zu einem solidarischen Grundeinkommen. Weitere müssen folgen, denn ich weiß: Die Arbeitswelt von heute ist nicht die Arbeitsrealität der ausgehenden 90er Jahre. Digitalisierung und Globalisierung schaffen Unsicherheiten, und die Menschen fragen, was wir dagegen tun.

Wenn wir dieser Tage über "Hartz IV" und die Zukunft der Arbeit und der sozialen Sicherungssysteme sprechen, ist es mein Anspruch, Antworten zu finden, die auch noch in 10 oder 15 Jahren gelten. Am Ausbau der Arbeitslosenversicherung zu einer Arbeitsversicherung müssen wir weiterarbeiten, denn wir brauchen ein Recht auf Weiterbildung. Und: Wir müssen die Grundsicherung neu ausrichten, um soziale Teilhabe und Respekt in unterschiedlichen Lebenslagen zu verwirklichen.

Dafür werde ich einen Dialog zur Zukunft der Arbeit und der sozialen Sicherungssysteme starten. Einen Dialog ohne "heilige Kühe", in dem auch unbequeme Fragen gestellt und vorgefertigte Antworten hinterfragt werden. Dabei beziehen wir alle ein, die das gegenwärtige System kennen: die Betroffenen genauso wie die Beschäftigten in den Jobcentern und der Arbeitsförderung. Kurzum: Es wird ein offener Dialog, der sich im Ergebnis nicht davor fürchtet, grundlegende Änderungen vorzunehmen.