- Datum:
- 01.08.2025
RND: Frau Bas, Im Herbst will die Koalition große Sozialreformen anstoßen. Zuletzt hat das vor über 20 Jahren der damalige Kanzler Gerhard Schröder gemacht mit der "Agenda 2010". Kommt jetzt die Agenda 2030?
Bärbel Bas: Den Begriff würde ich nicht nochmal nutzen. Und wir sollten nicht mit einem griffigen Begriff Erwartungen wecken, die wir am Ende nicht erfüllen können. Wir haben uns vorgenommen, unsere Sozialsysteme gründlich zu überprüfen. Die Herausforderung ist: Wir haben viele verschiedene Kommissionen, die in diesem Bereich parallel laufen. Es gibt einen Staatssekretärsausschuss zum Bürokratieabbau. Im September startet die Sozialstaatskommission. Außerdem gibt es eine Renten-, eine Gesundheits- und eine Pflegekommission. Die Kunst wird sein, alle Ergebnisse zusammenzufassen. Das ist ein sehr ambitionierter Plan. Wenn der große Wurf gelingt, werden wir dafür einen Namen finden.
RND: Gehen wir in die Details: Die geburtenstarken Jahrgänge kommen ins Rentenalter, sie brauchen altersbedingt auch mehr Pflege. Müssen sich die Jüngeren darauf einstellen, dass sie künftig mehr Beiträge und Steuern zahlen, um das zu finanzieren?
Bas: Die Babyboomer haben einen Anspruch auf Leistungen aus den Sozialversicherungen, in die sie jahrzehntelang eingezahlt haben. In Ostdeutschland haben 74 Prozent der Menschen nur die gesetzliche Rente und nicht zusätzlich eine Betriebsrente oder private Vorsorge. Da kann man nicht sagen: Pech gehabt, wir senken das Rentenniveau. Sonst wird der Vertrauensverlust in den Staat noch größer. Demografiebedingt werden die Beiträge nach unseren Prognosen in den nächsten Jahren moderat steigen. Auch den jungen Menschen müssen wir die Sicherheit geben, dass sie auf die Rente vertrauen können. Dafür streben wir eine Reform bis 2031 an.
RND: Die Schrauben, an denen Sie drehen können, sind neben höheren Steuern und höheren Beiträgen auch die Lebensarbeitszeit.
Bas: Eine entscheidende Schraube haben Sie vergessen. Entscheidend ist die Situation auf dem Arbeitsmarkt. Je mehr einzahlen, desto stabiler ist die Rente. Frauen aus der Teilzeitfalle holen, ältere Menschen freiwillig länger arbeiten lassen, junge Menschen ohne Ausbildung qualifizieren und ausländische Fachkräfte gewinnen, das wirkt. Und es könnten noch weitere Personengruppen in die Rentenversicherung einzahlen, die Beamten, die Abgeordneten oder die Selbstständigen. Das ist auch eine Frage der Generationengerechtigkeit. Darüber müssen wir diskutieren. Die Frage ist, ob wir am Ende den Mut zu so einer Reform haben.
RND: Und? Haben Sie den Mut?
Bas: Die Koalitionspartner sind an vielen Stellen sehr unterschiedlich unterwegs. Aber wir sehen die Notwendigkeiten. Und wir werden über alles diskutieren.
RND: Im Zweifel stimmt die SPD dann auch einer längeren Lebensarbeitszeit zu?
Bas: Nein, das sehe ich nicht. Das ist eine Schein-Debatte. Viele erreichen aus gesundheitlichen Gründen bereits das jetzige Renteneintrittsalter nicht. Für diese Menschen wäre das eine Rentenkürzung. Wir müssen also erstmal dafür sorgen, dass die Leute länger gesund arbeiten können. Ich halte auch nichts davon, die Rente für langjährig Versicherte abzuschaffen. Wer 45 Jahre geackert hat, für den muss auch mal Schluss sein.
Wer gleichzeitig über eine Erhöhung der Lebensarbeitszeit und die Abschaffung der Rente für langjährig Versicherte spricht, hat von der Lebensrealität vieler Menschen keine Ahnung und macht ihnen Angst.
RND: Was halten Sie von der Aktivrente-Idee der Union, wonach Rentner 2000 Euro steuerfrei dazuverdienen können sollen?
Bas: Das setzen wir jetzt um. Wer freiwillig länger arbeiten möchte, braucht attraktive Bedingungen. Wir heben auch das bisher geltende Vorbeschäftigungsverbot auf. Es ist kontraproduktiv, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die nach Erreichen des Rentenalters weiterarbeiten wollten, nicht einfach zum alten Arbeitgeber zurückkehren dürfen.
Wir werden weitere Hürden beseitigen, so werden wir etwa bei der Witwenrente die Freibeträge deutlich erhöhen.
RND: 2031 sollte die Reform greifen. Kann man bis dahin Arbeitgebern und Arbeitnehmern steigende Beiträge – nicht nur in der Rente, sondern auch bei Kranken- und Pflegeversicherung, zumuten?
Bas: Wenn wir das vermeiden wollen, brauchen wir Reformen und am Ende auch die finanziellen Mittel zur Erhöhung von staatlichen Zuschüssen. Die Koalition hat für diese Wahlperiode Steuererhöhungen ausgeschlossen. Es ist fraglich, ob das dauerhaft funktionieren kann. Wir tun in der Koalition alles dafür, dass die Konjunktur trotz der Weltlage und der ständig wechselnden US-Zollpolitik anzieht.
RND: Finanzminister Lars Klingbeil hat gerade einen neuen Sparkurs angekündigt, im Haushalt fehlen trotz Sondervermögen Milliarden Euro. Wo spart das Arbeitsministerium mit seinem großen Etat?
Bas: Ich habe wenige Möglichkeiten, weil viele Gelder als gesetzliche Leistungen fest verplant sind. Aber ich bin ambitioniert. Sicher ist, dass die Bürgergeldempfängerinnen und Bürgergeldempfänger kein großes Loch stopfen können. Und wenn ich andere Ausgaben kürze, wie etwa Deutschlernprogramme, ist das für den Arbeitsmarkt kontraproduktiv.
RND: Wie groß ist der Anteil der Bürgergeldempfänger, die arbeiten könnten, es aber nicht tun?
Bas: Etwa 1,8 Millionen der 5,5 Millionen Bürgergeldempfängerinnen und Bürgergeldempfänger stehen dem Arbeitsmarkt tatsächlich zur Verfügung. Von diesen sind jedoch viele nicht qualifiziert, haben also keinen Schul- oder Ausbildungsabschluss. Darunter sind viele Alleinerziehende, die Kinder betreuen oder Angehörige pflegen. Sie können nur wenige Stunden am Tag arbeiten. Diese Menschen in Arbeit zu bringen, ist bei schwacher Konjunktur eine Riesenaufgabe. Ich möchte diesen Menschen helfen. Wer sich im System aber gut eingerichtet hat und nebenbei schwarz arbeitet, dem werden wir das Leben deutlich schwerer machen.
RND: Wann legen Sie das Bürgergeld-Gesetz vor?
Bas: Das wird im Herbst ins Kabinett gehen.
RND: Wie sieht es mit dem Renten-Sofortprogramm aus?
Bas: Mütterrente und Stabilisierung des Rentenniveaus kommen nächsten Mittwoch ins Kabinett. Für die Stärkung der Betriebsrente brauchen wir wenige Wochen länger. Damit können dann auch kleine Betriebe künftig leichter eine Betriebsrente anbieten, indem sie sich an ein Modell eines anderen Unternehmens andocken.
RND: Die Arbeitslosenzahl ist im Juli auf knapp drei Millionen gestiegen. Wie lassen sich mehr Menschen in Arbeit bringen?
Bas: Durch ein starkes Wirtschaftswachstum. Dafür legen wir gerade ein gigantisches Investitionspaket auf. Und durch Qualifizierung. Im Koalitionsvertrag steht, dass wir jedem jungen Menschen einen Schulabschluss oder eine Ausbildung ermöglichen. Zusammen mit mehr Berufsberatung in den Schulen ist das der richtige Weg, um Arbeitslosigkeit gar nicht erst entstehen zu lassen. Und wir werden die Menschen schnellstmöglich in Arbeit vermitteln, die arbeiten können.
RND: Trotz steigender Arbeitslosigkeit gibt es weiter Fachkräftemangel. Die Anwerbeprogramme der vergangenen Jahre scheinen daran nicht viel geändert zu haben. Haben Sie eine andere Idee?
Bas: Oft hapert es an zu viel Bürokratie. Deshalb wollen wir die Verfahren zentralisieren, die bisher in jeder Kommune, jeder Ausländerbehörde einzeln laufen. In der "Work-and-Stay-Agentur" sollen alle Schritte gebündelt werden, damit sind auch die Ansprechpartner klarer. Dazu werden wir noch in diesem Herbst Eckpunkte vorlegen. Und die Wirtschaft ist gefragt: Wer Fachkräfte braucht, muss auch dafür sorgen, dass sie ausgebildet werden. Außerdem ist es nicht hilfreich, wenn Menschen mit einem Arbeits- oder Ausbildungsplatz abgeschoben werden. Diese Praxis führt auch dazu, dass Arbeitgeber Menschen mit unklarer Aufenthaltsperspektive gar nicht erst einstellen. Sie wissen ja nicht, wie lange diese Menschen bleiben können. Die Rechtslage wurde in der letzten Wahlperiode verändert. Wir müssen aufpassen, dass die schärfere Migrationspolitik nicht den Fachkräftemangel erhöht.
RND: Die Koalition will für mehr Tarifverträge sorgen. Nun gibt es Fälle wie den Lebensmittel-Bringdienst Lieferando, bei dem Fahrer entlassen werden, nachdem für Tarif-Verträge gestreikt wurde. Der Ersatz läuft dann über Subunternehmen. Wie reagieren Sie?
Bas: Gute Arbeitsbedingungen müssen auch für die Angebote der Lieferdienste und andere Bereiche der Plattformökonomie gelten. Dafür setzen wir jetzt schnell eine entsprechende EU-Richtlinie um.
RND: Kommen wir zur SPD. Die liegt in Umfragen weiter bei um die 15 Prozent. Wie kommt die Partei aus der Krise?
Bas: Die SPD ist in keinem guten Zustand. Wir müssen wieder Vertrauen bei den Wählerinnen und Wählern gewinnen. Wir müssen eine Politik anbieten, die verstanden wird. Was wir auf Bundesparteitagen diskutieren ist oft weit weg von dem, was die SPD-Basis beschäftigt. Wir müssen unseren Mitgliedern wieder den Spaß an der eigenen Partei und auch den Stolz wiedergeben. Und die SPD muss wieder Kümmererpartei werden, zu der man wie früher kommen konnte, zum Beispiel mit einem Behördenbrief. Die Menschen spüren im Moment nicht, wieso sie Politik oder Parteien brauchen in ihrer Lebenswelt. Das müssen wir wieder hinkriegen. Das wird nicht von heute auf morgen gehen. Aber drei, vier Jahre Zeit haben wir auch nicht.
RND: Schwarz-Rot regiert seit rund 100 Tagen. Wie ist die Stimmung?
Bas: Wir haben schon viel geschafft. Und alle Ressorts ackern in der Sommerpause, da wird viel angeschoben. Woran wir noch ein bisschen arbeiten müssen, ist die Vertrauensbasis. Man muss dem jeweils anderen Koalitionspartner auch etwas gönnen können.
RND: Die Wahl der Verfassungsrichter hat zu einem Riesenkonflikt in der Koalition geführt. Wie löst man den und was folgt daraus?
Bas: Die SPD hält an Frauke Brosius-Gersdorf als Kandidatin fest. Sie ist eine exzellente Juristin, ihre Eignung für das höchste Gericht steht für uns außer Frage. Der Vorgang weist aber über ihre Person hinaus. Denn trotz der klaren Empfehlung des Wahlausschusses zu Beginn der letzten Sitzungswoche, sie zu wählen, gab es noch auf den letzten Metern durch Desinformationen von rechten Netzwerken und plötzlichen Plagiatsvorwürfen den Versuch, ihre endgültige Wahl im Plenum zu verhindern.
Das Ganze zeigt auch, dass bei aufkommenden Zweifeln und Kritik von Abgeordneten früher klar sein muss, wie eine Fraktion zu Vorhaben der Regierung oder Koalition steht und ob es dafür die nötigen Mehrheiten gibt. Wir brauchen Frühwarnsysteme in den Fraktionen. Auch sollte der Begriff der Gewissensentscheidung nicht überstrapaziert werden. Spätestens im September brauchen wir Mechanismen zur internen Konfliktlösung, damit sich derartige Vorgänge nicht wiederholen.