- Datum:
- 04.12.2023
Die ZEIT: Angenommen Sie wären der König von Deutschland, was würden Sie auf der Stelle ändern?
Hubertus Heil: Als Demokrat kann ich diese Königsfrage so nicht akzeptieren, aber sagen wir so: Wenn ich mit anderen zusammen in Deutschland etwas schnell verbessern könnte, wäre das etwas sehr Praktisches. Ich würde eine Berufsorientierung für alle Kinder ab der siebten Klasse einführen, egal welche Schulform, damit junge Menschen frühzeitig eine Chance bekommen auf eine bessere Zukunft.
ZEIT: Wenn man nun aber nicht König ist, sondern Minister in einer Koalitionsregierung: Wie kriegt man so etwas hin, also die frühe Berufsorientierung an Schulen?
Heil: Als Arbeitsminister kann ich das nicht allein durchsetzen, denn es liegt in der Kompetenz der Kultusminister der Länder. Aber um wichtige Vorhaben umzusetzen, muss man Verbündete suchen, Mehrheiten, Mitstreiter, die das auch wollen. Dann brauchen wir einen Plan. Und dann geht die Arbeit los.
ZEIT: Hört sich anstrengend an. Passt aber zu unserem Thema: Wir wollen mit Ihnen über die Kunst des Kompromisses sprechen.
Heil: Helmut Schmidt hat mal gesagt, das Wesen der Demokratie ist der Kompromiss, und wer für den Kompromiss nicht taugt, taugt nicht für die Politik. Ich teile diese Einschätzung.
ZEIT: Reden wir über den Mindestlohn. Das war so ein Kompromiss: Nach jahrlangen vergeblichen Mühen wurde er 2015 eingeführt. Was waren die dicksten Brocken, die beseitigt werden mussten?
Heil: Das hatte einen langen Vorlauf. Eigentlich galt in Deutschland der Konsens: Die Tarifpartner bestimmen die Höhe der Löhne. Aber dieser Konsens löste sich nach und nach auf, es gab immer weniger Tarifbindung und zugleich keine Lohnuntergrenze. Die SPD hat um eine Mehrheit dafür gekämpft, viele Jahre vergebens. Dann kamen die Koalitionsverhandlungen 2013, in denen wir die Einführung des Mindestlohnes durchgesetzt haben. Andrea Nahles, meine Amtsvorgängerin, brachte den Gesetzentwurf auf den Weg. Und 2015 wurde der Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro eingeführt. Es war noch nicht alles schön, aber man hatte den Fuß in der Tür.
ZEIT: Jahrzehntelange Mühen und am Ende kein perfektes Ergebnis. Ist das ein Beispiel für gute Politik?
Heil: Genauso würde ich das sagen. Das war der mühsame Anfang. Heute beträgt der Mindestlohn 12 Euro.
ZEIT: Es sind jetzt schon entscheidende Wörter gefallen: Kompromiss, Mehrheit, Verhandlungen. Wie schafft man einen guten Kompromiss? Sie gelten im Politikbetrieb als jemand, der das kann.
Heil: Ich verhandle gerne und zwar aus Prinzip. Denn Interessenausgleich ist im gesamtgesellschaftlichen Interesse und wer Fortschritt will, muss zum Kompromiss bereit sein.
ZEIT: Was steht am Anfang eines Kompromisses?
Heil: Man muss am Anfang wissen, was für einen selbst das Mindestergebnis ist, das man erzielen will – ohne dies dem Verhandlungspartner mitzuteilen. Dieses Ziel muss man in den Verhandlungen versuchen zu halten. Es ist empfehlenswert, auch die Interessen der anderen Seite zu kennen, es schadet nie, sich in das Gegenüber hineinzuversetzen. Ohne Arroganz. Man sollte den anderen nicht für blöd halten, nur weil er in der Sache anders denkt.
ZEIT: Stimmt es, dass es Ihre Taktik ist, 120 Prozent zu verlangen, um 100 Prozent zu bekommen?
Heil: Nein, so simpel ist es nicht, und so ein Trick würde sich auch sofort abnutzen. Aber es ist klug zu wissen, dass man in Verhandlungen meist nie 100 Prozent seiner Vorstellungen umsetzen kann.
ZEIT: Woran merkt man, dass in Verhandlungen etwas schiefläuft?
Heil: Wenn gepoltert wird. Wenn provoziert wird. Wenn es nicht um die Sache geht, sondern etwas kaputtgemacht werden soll.
ZEIT: Können Sie ein Beispiel nennen?
Heil: Ich erzähle eine Geschichte aus der Vergangenheit. Ich war der Verhandlungsführer von der SPD, eine Kollegin von der CSU leitete die Union-Gruppe. Wir verstanden uns gut. Ich nenne keine Namen, aber ich schätze die Kollegin von der CSU noch heute. Das Problem war: Wir hatten beide Stellvertreter, die auf Krawall aus waren. Die sind richtig aufeinander losgegangen. Wir mussten was tun. Also haben wir beschlossen, die beiden sollen sich allein in ein Zimmer zurückziehen und eine Kompromisslösung formulieren. Erst nachdem sie bei dieser Aufgabe gescheitert waren, gelang es uns Verhandlungsführern, einen Kompromiss zu finden.
ZEIT: Lassen Sie sich provozieren?
Heil: Neulich ist es mir mal passiert. Ich habe mich am Ende einer langen Verhandlung über etwas sehr geärgert. Da bin ich laut geworden. Leider. Ich habe eigentlich gedacht, so etwas passiert mir nicht mehr.
ZEIT: Wie meinen Sie das?
Heil: Ein guter Verhandler sollte sich mit sich selbst beschäftigen. Es gibt ein Bewusstsein, ein Unterbewusstsein, all das spielt eine Rolle, wie man auf bestimmte Situationen reagiert. Stichwort Impulskontrolle. Ich habe da viel gelernt und kann mich in der Regel beherrschen, weil man in Verhandlungen nur vorankommt, wenn man auf der Sachebene bleibt und sich nicht von Gefühlen leiten lässt.
ZEIT: Kann man sich da entschuldigen?
Heil: Das habe ich getan. Die Entschuldigung wurde auch angenommen. Wenn was schiefläuft in Verhandlungen, sollte man es offen ansprechen. Damit habe ich gute Erfahrungen gemacht. Wenn man Misstöne beseitigt, kann das sogar hilfreich sein für ein dann besseres Vertrauensverhältnis.
ZEIT: Wie ärgerlich ist es, wenn aus Verhandlungen Informationen an die Öffentlichkeit durchgestochen werden?
Heil: Das ist ärgerlich, weil es wichtig ist, dass in Verhandlungen alle möglichen Vorschläge auf den Tisch kommen und man offen sprechen kann. Ständig Wasserstände rauszugeben ist unprofessionell und kontraproduktiv. Wenn es nur noch um öffentliche Gesichtswahrung geht, sind Lösungen schwer zu erreichen. Meistens steckt hinter solchen Indiskretionen übrigens kein böser Trick, sondern schlichte Wichtigtuerei von Menschen, die Verhandlungszwischenstände aufgeschnappt haben.
ZEIT: Einerseits verlangt eine moderne Demokratie nach Transparenz, andererseits benötigen gewisse Verhandlungen Verschwiegenheit: Leiden Sie unter diesem Widerspruch?
Heil: Es geht nicht um Geheimniskrämerei, aber eine Demokratie braucht Orte der vertraulichen Rede, braucht einen geschützten Austausch von Gedanken. Das ist nicht leichter geworden in Zeiten von Social Media. Aber man muss in Ruhe Dinge ausloten können, ohne gleich öffentlich dafür kritisiert zu werden und ohne sich von Dritten die Hände auf den Rücken binden zu lassen. Lösungsorientierte Verhandlungen sind lebenswichtig für eine Demokratie, und es gibt heutzutage manchmal einen speziellen Blick darauf, der mich nervt.
ZEIT: Erzählen Sie.
Heil: Ich habe manchmal das Gefühl, dass viele Menschen dem Wort Kompromiss beinahe automatisch ein anderes Wort hinzufügen: faul. Fauler Kompromiss. Als wäre ein Kompromiss immer was Schlechtes, als würden hinter verschlossenen Türen irgendwelche miesen Beschlüsse ausgefeilscht. Das ärgert mich.
ZEIT: Aber es gibt doch faule Kompromisse?
Heil: Ja, die gibt es. Es gibt immer negative Beispiele. Wir leben in einer Gesellschaft, in der es leicht ist, mit wilden Reden und Maximalpositionen Menschen zu polarisieren und auseinander zu treiben. Man kann es sich etwa einfach machen und Menschen mit geringen Einkünften gegen Menschen ohne Einkünfte gegeneinander ausspielen. Oder man sortiert die Dinge, indem man für Lohngerechtigkeit und soziale Sicherung sorgt. Man kann Menschen, die gendern, gegen Menschen aufhetzen, die nicht gendern mögen und dafür auch ihre Gründe haben. Oder man respektiert unterschiedliche Lebensstile. Man kann eine Gesellschaft zwischen Klimaleugnern und Klimaklebern spalten oder man macht sich tatsächlich an die Aufgabe, unsere Industriegesellschaft so zu erneuern, dass wir dem menschengemachten Klimawandel entgegentreten. Und sicherlich kann man eine Gesellschaft mit wilden Reden beim Thema Migration spalten. Oder man sorgt für Humanität, Ordnung und Vernunft. Grundsätzlich sollte jeder wissen, dass es in einer vielfältigen Gesellschaft mit unterschiedlichsten Interessen immer auch um Balancen geht. Niemand hat zu hundert Prozent Recht, so einfach ist das Leben nicht. Wir müssen uns aufeinander zubewegen. Anders wird es nicht gehen. Deshalb kämpfe ich leidenschaftlich für gute Kompromisse.
ZEIT: Erzählen Sie uns, wie das geht, wenn man einem Politiker wie Horst Seehofer gegenübersitzt: Mit ihm, damals war er Innenminister, handelten sie im Jahr 2018 ein erstes Einwanderungsgesetz aus.
Heil: Ich kannte ihn bis dahin mehr aus der Öffentlichkeit als persönlich. Ich hatte ein Bild vor mir: Wie er bei Flüchtlingsfragen mit der damaligen Kanzlerin Angela Merkel auf offener Bühne stritt. Es war also kein besonders positives Bild. Am Ende, nach vielen, vielen gemeinsamen Stunden, hatte sich mein Bild von ihm gedreht: Horst Seehofer ist ein guter und zuverlässiger Verhandlungspartner, ich habe ihn sehr schätzen gelernt. Von ihm kann man ein einiges lernen.
ZEIT: Was denn?
Heil: Ich habe viel von ihm erfahren. Wie schwierig seine Position war, im Spannungsfeld seiner Partei zwischen ökonomisch sinnvoller Einwanderung und den Ängsten vor ungezügelter Einwanderung, gerade in Bayern. Seehofer war mutig und verlässlich in den Verhandlungen, er ist nie zurückgerudert. Wenn sich Leute aus der CSU mit immer neuen Bedenken gemeldet haben, hat er sie zurückgepfiffen. Er verteidigte den Kompromiss, den wir ausgehandelt haben.
ZEIT: Ist in Verhandlungen ein verlässlicher Gegner wichtiger als ein wackliger Freund?
Heil: Da ist was dran. Man muss zu einem Kompromiss stehen, auch wenn er unbequeme Seiten hat. Man darf sich nicht vom Acker machen, nach dem Motto: Na ja, ich wollte eigentlich was Anderes. Wenn das aus dem eigenen Lager kommt, ist das besonders schmerzlich.
ZEIT: Ludwig Erhard hat mal gesagt, die Kunst des Kompromisses ist es, den Kuchen so zu verteilen, dass jeder glaubt, er habe das größte Stück bekommen.
Heil: Ich kann darüber schmunzeln, aber ich würde es anders beschreiben. Ich finde, man sollte sich verabschieden von dem Sieger-Verlierer-Schema, das bringt nichts. Manchmal kriegt keiner, was er will, dann geht es bei solchen Kompromissen um burden sharing. Um die Frage: Wer trägt welche Last?
ZEIT: Wie darf man sich das Ende von erfolgreichen Verhandlungen vorstellen?
Heil: Das kann man nicht verallgemeinern. Manchmal liegen am Ende Ergebnisse einzelner Verhandlungsstränge vor. Dann kann es eine Methode sein, dass die eine Seite den Kuchen sozusagen teilt, und die andere Seite entscheidet, wer welches Stück bekommt. Richtig anstrengend wird es, wenn Themen, die nichts miteinander zu tun haben, in Verhandlungen verknüpft und aufgerechnet werden.
ZEIT: Wir haben uns umgehört: Sie haben den Ruf eines exzellenten Verhandlers. Aber es gibt auch Leute, die sagen: Wenn man Hubertus Heil die Hand gibt, muss man aufpassen, dass danach noch alle Finger dran sind. Ein anderer meinte: Mit Hubertus Heil kann man Pferde stehlen, aber man muss schon schauen, ob das Pferd am Ende nicht ganz weg ist.
Heil: Ich verhandle gerne, und sehe Kompromiss als Errungenschaft und nicht als Schimpfwort. Deshalb bin ich mit diesen Aussagen nicht so glücklich, weil ja mitschwingt: der führt sein Gegenüber hinter die Fichte, der legt Leute rein. Und das stimmt nicht. Ich tue das nicht, und zwar aus einem einfachen Grund: man sieht sich immer zweimal im Leben. Wenn ich jemanden getäuscht habe, kann ich die nächste Verhandlungsrunde vergessen. Ein kurzer Triumph bringt in diesem Geschäft nichts.
ZEIT: Wurden Sie selber schon mal hinter die Fichte geführt?
Heil: Ja. Ich nenne keinen Namen. Aber das merkt man sich, natürlich.
ZEIT: Sie haben mal gesagt: Ich bin nicht in Taktik verliebt, sondern in Strategie. Was heißt das?
Heil: Taktik ist kurzfristig. Strategie ist langfristig, das liegt mir mehr.
ZEIT: Sie waren auch mal Generalsekretär der SPD, also ein Mann der kurzfristigen Attacke.
Heil: Aus heutiger Sicht würde ich sagen: Das war nicht der ideale Job für mich. Ich habe gerade ein Jubiläum gefeiert: Ich sitze seit 25 Jahren im Deutschen Bundestag. Ich habe schon einiges hinter mir, auch Niederlagen. Ich weiß, wie sich das anfühlt. Ich habe eine Menge gelernt, auch über mich. Als ich anfing, war ich noch nicht so richtig konfliktfähig. Ich wurde einfach nur laut, aber das kann es nicht sein. Heute denke ich: Ich bin mehr ein Mann des Ausgleichs, das hat auch mit meiner eigenen Biografie zu tun. Die Attacke ist weniger meine Sache.
ZEIT: Sie haben dicke Brocken verhandelt: Bürgergeld, Fachkräfteeinwanderungsgesetz, Grundrente. Wie lernt man das, wie wird man einer, der verhandeln kann? Im Schülerrat? In der SPD-Parteischule, bei den Jusos? Da waren Sie überall. Oder lernt man von den Alten?
Heil: Von allem etwas. Ich habe auch viel Theorie gelesen, die Harvard-Methode zum Beispiel, die sagt, dass man vor allem die Sach- und die Beziehungsebene voneinander trennen muss. Das stimmt. Von Egon Bahr stammt der Satz, man muss die Realitäten anerkennen, um sie dann zu verändern. Oder Franz Müntefering: Man muss die Wirklichkeit so nehmen wie sie ist, aber man darf sie nicht so lassen. Kluge Sätze. Fallen mir schon mal ein, während einer ewigen Verhandlungsrunde. Manchmal muss man auch aufpassen, nicht einfach nur aus Müdigkeit etwas zuzustimmen, was man eigentlich nicht will.
ZEIT: Sie haben mal gesagt: Das Schlimmste für Sie wäre, wenn man Ihnen Illoyalität vorwerfen würde. Hört sich ein bisschen edel an, für einen Politiker Ihrer Preisklasse.
Heil: Kann sein. Hört sich vielleicht abgeschmackt an, aber ich mag keine fiesen Leute. Ich will so nicht behandelt werden. Aber natürlich kracht es manchmal. Und Leute sind sauer auf mich. Nach einem Streit hat mir neulich einer eine SMS geschickt: Du Arschloch. Ich habe versucht es zu ignorieren, aber es ging nicht. Es hat mich verletzt. Das habe ich ihm gesagt. Er hat sich entschuldigt. Habe ich akzeptiert.
ZEIT: Welchen Kompromiss bewundern Sie am meisten?
Heil: Die Friedensschlüsse in Münster und Osnabrück, im Jahr 1648.
ZEIT: Da waren Sie noch nicht dabei.
Heil: Nee, aber das war eine tolle Sache. Diese Kompromisse haben den 30jährigen Krieg beendet.