- Datum:
- 24.06.2022
Wirtschaftswoche: Herr Heil, die Preise steigen, gerade der tägliche Einkauf wird teurer und teurer. Sollte die Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel oder auf Obst und Gemüse gestrichen werden, um das Leben für die Menschen erschwinglicher zu machen?
Hubertus Heil: Die Inflation ist im Moment sicher die größte soziale Frage in unserem Land. Wir haben die höchsten Preissteigerungen seit 50 Jahren. Man kann mit mir über alle Vorschläge reden, man muss dann nur dafür sorgen, dass Entlastungen auch ankommen – und nicht wieder bei Konzernen hängenbleiben. Die Bundesregierung hat im Übrigen schnell reagiert, mit Entlastungen im Umfang von 30 Milliarden Euro. Sie werden jetzt im Sommer erst so richtig wirken.
Wirtschaftswoche: Viele dieser Maßnahmen wirken nur vorübergehend, der Kinderbonus zum Beispiel, der umstrittene Tankrabatt. Ist es nicht an der Zeit für nachhaltige Antworten statt einer Flut an Wohltaten?
Heil: Stimmt, es sind zeitlich begrenzte Entlastungen dabei – aber auch solche, die dauerhaft wirken: Die Abschaffung der EEG-Umlage, immerhin 25 Milliarden Euro, nützt Wirtschaft und Verbrauchern. Die Erhöhung des steuerlichen Grundfreibetrags bleibt auch. Aber natürlich müssen wir Antworten finden, wie es dauerhaft weitergeht. Deshalb hat Kanzler Olaf Scholz Arbeitgeber und Gewerkschaften zu einer Konzertierten Aktion eingeladen. Vom 4. Juli an werden wir beraten, wie alle Beteiligten Deutschland durch diese schwierige Zeit führen können. Ich finde das einen sehr klugen Ansatz.
Wirtschaftswoche: Ist es denn klug von der IG Metall, schon vor dem ersten Treffen eine Tariferhöhung von sieben bis acht Prozent für die Metall- und Elektroindustrie zu fordern?
Heil: Ich habe große Achtung vor der Tarifautonomie, da finde ich es erst einmal legitim, dass Gewerkschaften Lohnforderungen erheben. Am Ende kommt es ja auf die Ergebnisse von Tarifverhandlungen an. Bevor Gewerkschaften, Unternehmen und der Staat an die Therapie der Inflation gehen können, muss aber erst einmal gemeinsames Verständnis stehen, woher diese Inflation kommt. Die Ursachen in den USA sind durchaus andere als in Europa und Deutschland.
Wirtschaftswoche: Inwiefern?
Heil: In den USA mögen ihre Ursachen in der expansiven Geldpolitik der Regierungen Trump und Biden liegen; die Gründe in Europa haben dagegen mit Putins furchtbarem Krieg, hohen Energiepreisen und gestörten Lieferketten zu tun.
Wirtschaftswoche: Ist das die verklausulierte Botschaft, mit Zinserhöhungen vorsichtig zu sein – weil es gar nicht am billigen Geld liegt?
Heil: Das zu entscheiden, ist Aufgabe der Zentralbanken. In den USA gibt es bereits eine scharfe Zinswende, man wird sehen, was das mit der amerikanischen Wirtschaft macht. In Deutschland haben wir im Moment sehr hohe Preise und müssen die gezielt ausgleichen. Aber wir rechnen noch mit Wachstum. Und es gibt eine weitere gute Nachricht: Wir haben durch Kurzarbeit den Arbeitsmarkt in der Krise stabil gehalten. Wir sollten trotzdem alles unterlassen, uns selbst in eine noch schwierigere Situation zu bringen – etwa in eine Stagflation. Also eine gefährliche Mischung aus Rezession und noch höheren Preisen.
Wirtschaftswoche: Sie haben eben den geplanten Runden Tisch des Kanzlers gelobt. Vorbild ist die Konzertierte Aktion des SPD-Wirtschaftsministers Karl Schiller, das war 1967. Was bringen Sie 2022 als Bundesregierung mit?
Heil: Als Staat werden wir auch unseren Beitrag leisten. Aber die Bundesregierung liefert ja schon. Der Staat, auch das gehört zur Wahrheit, kann auch nicht für alle alles ausgleichen. Aber es bleibt unsere Verantwortung, Menschen mit normalen und geringen Einkommen zu unterstützen. Ich ärgere mich auch im Supermarkt, wenn das Päckchen Butter mehr als drei Euro kostet. Ich kann das bei meinem Einkommen verkraften – für viele andere ist es ein Problem.
Wirtschaftswoche: Der Chef des Industrieverbands BDI, Siegfried Russwurm, hat gerade eine 42-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich ins Spiel gebracht. Mehr arbeiten, um mehr Geld in der Tasche zu haben: Wie finden Sie das?
Heil: Das ist nicht mein Weg. Wenn man über Arbeitsvolumen redet, wäre es richtiger, dafür zu sorgen, dass alle Frauen die nicht nur Teilzeit arbeiten wollen, auch Vollzeit arbeiten können. Herrn Russwurm und mich verbindet aber ein gemeinsames Thema: die Fachkräftesicherung.
Wirtschaftswoche: Sie haben als Ausgleich für steigende Energiepreise ein soziales Klimageld vorgeschlagen, eine Zahlung für Menschen mit Bruttoeinkommen von weniger als 4000 Euro. Ist das vom Tisch?
Heil: Nein. Es gibt Leute, die bei dieser hohen Preisentwicklung kaum oder keine Reserven haben. Im Koalitionsvertrag ist bekanntlich ein Klimageld pro Kopf vorgesehen, als Ausgleich für steigende CO2-Preise. Wir sollten darüber nachdenken, ob wir das vorziehen können – und angesichts knapper öffentlicher Finanzen sozial staffeln.
Wirtschaftswoche: Das wäre ein weiterer Umverteilungsmechanismus, der mit der ökologischen Ursprungsidee, mit Verlaub, nichts zu tun hat.
Heil: Einspruch. Das Klimageld soll sozialen Ausgleich organisieren. Wann bräuchten wir denn mehr als jetzt im Angesicht einer historischen Herausforderung? Wenn es zu meinem Vorschlag vernünftige Alternativen gibt, die die knappen Ressourcen so einsetzen, dass sie Menschen mit normalen und geringen Einkommen zielgerichtet entlasten, höre ich mir die gerne an. Bis jetzt sehe ich da keine.
Wirtschaftswoche: Doch. Sie könnten das ungute Zusammenspiel aus höheren Preisen, steigenden Löhnen und wachsender Steuerlast unterbinden – also die Einkommensteuertarife so ändern, dass die kalte Progression verhindert wird.
Heil: Hier gilt das Gleiche wie bei der Mehrwertsteuer: Ich schließe keine steuerlichen Maßnahmen aus. Aber allgemeine Steuersenkungen für Menschen mit sehr gutem Einkommen wird es nicht geben. Wir müssen mit den knappen öffentlichen Ressourcen gezielt haushalten.
Wirtschaftswoche: In ihrem ersten Haushalt hat die Ampelkoalition bisher gar nicht gespart. Außer beim Fortschritt: Die Aktienrente ist bislang nicht im Bundesetat eingeplant. Kommt sie oder kommt sie nicht?
Heil: Ich kann Sie beruhigen: die Aktienrente kommt. In der zweiten Jahreshälfte werde ich einen Gesetzesentwurf vorlegen, mit dem wir das Rentenniveau langfristig sichern und den Aufbau eines langfristigen Kapitalstocks starten.
Wirtschaftswoche: Bedingt das eine das andere: Die FDP bekommt die Aktienrente, die SPD eine Rentengarantie?
Heil: Das sind zwei Seiten derselben Medaille. Es geht um eine solide und stabilisierende Finanzierung und die Leistungsfähigkeit des Rentensystems. Die gesetzliche Rente ist und bleibt die tragende Säule unseres Alterssicherungssystems – und sie bleibt nicht von alleine stabil, sondern muss weiterentwickelt werden.
Wirtschaftswoche: Der Aktien-Kapitalstock soll zunächst mit zehn Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt befüllt werden, eine vergleichsweise kleine Summe. Wie viel braucht es mindestens, damit das Konzept nachhaltig funktioniert?
Heil: Wir werden anfangen, diese Reserve aufzubauen. Jeder weiß, dass das Geld dann langfristig vernünftig angelegt werden muss, damit es die entsprechenden Erträge gibt...
Wirtschaftswoche: ... mit der Bundesbank als Verwalterin?
Heil: Warten Sie meinen Gesetzentwurf ab. Das Thema benötigt Solidität, man sollte kein Stückwerk fabrizieren. Jeder kann sich aber darauf verlassen: Es wird das sein, was wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben.
Wirtschaftswoche: Dort steht auch, das Rentenniveau "dauerhaft" zu sichern. Heißt das über die Legislaturperiode hinaus?
Heil: Langfristig weit über 2025 hinaus. Das ist übrigens gerade im Interesse der jüngeren Generation, die dann später auch einmal davon profitieren wird.
Wirtschaftswoche: Und wie soll das gehen, wenn die geburtenstarken Jahrgänge von 2025 an in Rente gehen?
Heil: Es braucht dafür eine solide Basis am Arbeitsmarkt. Je mehr Menschen einzahlen, desto stabiler ist die Rente. Dahinter steckt die große Frage, wie wir Fachkräftesicherung organisieren. Wir müssen dafür sorgen, dass möglichst jeder junge Mensch eine Ausbildung absolviert. Die Frauenerwerbsbeteiligung muss steigen. Es geht um Weiterbildung. Und dann brauchen wir – wenn wir alle diese Register gezogen haben – noch deutlich mehr qualifizierte Zuwanderung.
Wirtschaftswoche: Warum wehren Sie sich so vehement dagegen, das Rentenalter an die Lebenserwartung zu koppeln? Deshalb gäbe es nicht morgen und auch nicht übermorgen die Rente mit 70.
Heil: Das Renteneintrittsalter ist in Deutschland mit 67 international gesehen schon am oberen Rand. Mit mir kann man immer über flexible Übergänge in den Ruhestand reden. Aber eine weitere starre Anhebung des Eintrittsalters für alle – das sind Hirngespinste von Menschen, die nicht in harten körperlichen Berufen arbeiten.
Wirtschaftswoche: Sogar die Bundesbank hat gerade eine Rente mit 69 ins Spiel gebracht – und deren Präsident ist bekanntlich Sozialdemokrat.
Heil: Die Bundesbank ist eine ausgezeichnete Institution. Ich frage mich trotzdem, welche Glaskugel Experten haben müssen, um exakte Prognosen für 2070 anzustellen. Schon die Prognosen von vor zehn Jahren waren falsch. Damals wurde behauptet, dass die Beiträge heute viel höher und das Rentenniveau viel niedriger sein sollten. Man hat sich verrechnet, weil wir heute vier Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte mehr haben als damals prognostiziert.
Wirtschaftswoche: Keine höheren Beiträge, kein späterer Renteneintritt, stabiles Niveau: Sie müssen ja fast hoffen, ab 2025 nicht mehr Arbeitsminister zu sein – denn außer einem immer höheren Steuerzuschuss bleiben Ihnen sonst nicht mehr viele Optionen, um das System am Laufen zu halten.
Heil: Ich unterschätze überhaupt nicht die Größe der Aufgabe. Aber ich mache den Job nicht, weil er leicht ist. Im Übrigen: Die Einzigen, die in der Vergangenheit verlässlich falsch lagen, waren die Renten-Untergangspropheten. Ich werde in der Rente die Weichen richtig stellen und wir werden gemeinsam durch Fachkräftesicherung den Arbeitsmarkt stärken.
Wirtschaftswoche: Die Rente ist nicht Ihre einzige Großreform. Der Umbau von Hartz IV zum Bürgergeld ist mindestens so komplex. Im Ausland galt der deutsche Weg oft als beispielhaft. Warum wollen Sie das System loswerden?
Heil: Das System ist zu bürokratisch und nicht mehr zeitgemäß. Ein Beispiel: Zwei Drittel der Langzeitarbeitslosen haben keinen Berufsabschluss. Das heutige System bringt sie manchmal vorübergehend in Arbeit, schafft aber keine nachhaltige Integration in den Arbeitsmarkt. Wenn wir stattdessen Arbeitslosen ermöglichen, einen Abschluss zu machen statt ungelernt loszulegen, helfen wir ihnen langfristig. Das ist ein Lerneffekt aus Gesprächen mit Praktikern in den Jobcentern.
Wirtschaftswoche: Sie müssen auch entscheiden, ob und wie sich die Regelsätze ändern sollen.
Heil: Ja, der bisherige Mechanismus, wie die Leistungen angepasst werden, hinkt der tatsächlichen Inflation hinterher. Mein Vorschlag lautet deshalb, das System zu ändern – mit dem Ergebnis, dass wir einen Zuschlag von acht bis zehn Prozent hätten, etwa 40 bis 50 Euro pro Monat.
Wirtschaftswoche: Aufstocker, also arbeitende Geringverdiener, die zusätzlich vom Amt Geld bekommen, hängen auch ziemlich würdelos in den Hartz-IV-Regeln fest. Sie haben bisher ebenfalls kaum Möglichkeiten für eine Aus- oder Weiterbildung. Warum?
Heil: Das ist ein Fehler – und den werden wir korrigieren. Auch Aufstocker werden ein Recht auf Ausbildung bekommen. Wir setzen da in Zukunft sogar finanzielle Anreize, sich aufzurappeln, belohnen also die Anstrengung. Mein Ziel ist nicht, Langzeitarbeitslosigkeit zu verwalten, sondern Wege heraus zu schaffen.
Wirtschaftswoche: Und wie geht es mit den umstrittenen Sanktionen weiter?
Heil: Ich möchte keine ideologischen Schlachten von gestern schlagen. Diese Debatte sollten wir entgiften.
Wirtschaftswoche: Wie genau?
Heil: Indem wir als Sozialstaat Hilfsbedürftigen grundsätzlich einen Vertrauensvorschuss geben und die extrem bürokratischen Eingliederungsvereinbarungen – allein das Wort! – entschlacken. Für die harten Fälle, in denen Menschen dauerhaft Mitwirkungspflichten verletzen, muss es und wird es weiter Folgen haben.
Wirtschaftswoche: Bleibt Fördern und Fordern noch das Leitmotiv?
Heil: Jeder muss tun, was er kann. Es gibt aber auch Menschen, die wirklich unverschuldet in Not oder aus der Bahn geraten. Denen werden wir weiterhin helfen – ganz praktisch, ohne Slogans.
Wirtschaftswoche: Ganz praktisch bleibt die Langzeitarbeitslosigkeit aber leider recht konstant.
Heil: Nein, wir sehen erste Fortschritte. Bei Langzeitarbeitslosen, die lange draußen waren, kommen wir nicht umhin, Brücken zu bauen. Dafür haben wir den sozialen Arbeitsmarkt geschaffen, bei dem die Betreuung besonders intensiv ist und auch Lohnzuschüsse gezahlt werden. Auf diesem Weg haben immerhin schon 50.000 Menschen wieder Tritt gefasst und sozialversicherungspflichtige Arbeit gefunden.