- Datum:
- 20.07.2021
Süddeutsche Zeitung: Herr Heil, zum 20. Juli erzählen Sie die Geschichte einer weitgehend unbekannt gebliebenen Widerstandskämpferin, Liane Berkowitz. Wie sind Sie auf sie gestoßen?
Hubertus Heil: Ich habe in einer Publikation der Stiftung 20. Juli 1944 über sie gelesen. Meistens wird ja nur über Ikonen berichtet, wie Sophie Scholl. Was ja auch angemessen ist. Aber hier haben wir eine junge Frau von 19 Jahren, die in der Widerstandsgruppe "Rote Kapelle" aktiv war. Sie klebte 1942 in Berlin-Charlottenburg entlang der Straßen Zettel, auf denen stand: "Ständige Ausstellung – Das Naziparadies – Krieg – Hunger – Lüge – Gestapo – Wie lange noch?" Sie war schwanger, als sie verhaftet wurde, weshalb sogar das Reichskriegsgericht an Hitler die Empfehlung aussprach, sie zu begnadigen. Aber der lehnte ab. Ihre Tochter durfte sie noch in der Haft zur Welt bringen. Das Mädchen wurde dann kurz nach der Mutter ermordet. Ich finde, diese Frau hat ein Denkmal verdient.
SZ: Wen erreicht man mit Gedenkveranstaltungen?
Heil: Das ist eine große Frage. Ich bin Jahrgang 1972, ich kenne noch Erzählungen aus erster Hand, von Überlebenden. Diese Möglichkeit werden meine Kinder nicht mehr haben. Wir müssen also neue Zugänge finden, das ist nicht leicht, aber möglich. Viele Einwanderer-Familien kennen den Schrecken von Diktatur und Verfolgung aus dem eigenen Erleben, so wie damals Liane Berkowitz. Sie wissen, was Flucht vor Verfolgung bedeutet. Und sie wissen, wieviel es bedeutet, Widerstand zu leisten. Das sind Erfahrungen, die Zugang bieten auch zur Geschichte unseres Landes.
SZ: Es hören allerdings meistens Diejenigen zu, die ohnehin aufgeschlossen sind für das Thema, und weniger Diejenigen, die dringend Geschichtskenntnis bräuchten.
Heil: Überzeugte Neonazis werden Sie nicht erreichen. Aber man kann viele Menschen nachdenklich machen. Das gelingt auch. Zudem gibt es genügend aktuelle Anlässe, um über den Widerstand gegen die NS-Herrschaft zu reden. Wenn Sie nur an die sogenannten Hygiene-Demos denken und die schrägen Gleichsetzungen dort. Menschen, die die Corona-Politik kritisieren, setzen sich in eine Linie mit dem 20. Juli. Und gleichzeitig haben sie kein Problem damit, Seite an Seite mit Neonazis zu marschieren. Man muss die Auseinandersetzung mit dieser Instrumentalisierung des Widerstands führen, um die Demokratie zu stärken.
SZ: Nun sind es nicht allein Hygiene-Demonstranten, die mit der Nazi-Erfahrung hantieren. Das ist ein unseliger Volkssport. Neulich verglich der DFB-Präsident seinen Vize mit dem Blutrichter Roland Freisler. Warum wird in Deutschland permanent die Nazi-Keule herausgeholt?
Heil: Viele lassen sich hinreißen. Man sollte damit sehr vorsichtig sein, vor allem unter Demokratinnen und Demokraten. Mit Nazi-Vergleichen sollte man sich nicht behelligen. Damit banalisiert man Verbrechen. Wichtig ist, dass man daran denkt, welch unterschiedliche politische und religiöse Anschauungen die Widerstandskämpfer hatten – und dass sie die zurückgestellt haben, um eine Gemeinsamkeit zu finden. Warum erzähle ich das? Weil es in einer Demokratie nie sein darf, dass man sich persönlich herabwürdigt und unversöhnlich zueinander wird. Wie man die Industrie umbaut, wie man eine Gesellschaft zusammenhält – darüber ist sogar noch viel mehr Streit nötig als bisher, um zu guten Lösungen zu kommen. Mehr jedenfalls als darüber, ob mal jemand ’ne Fußnote im Buch gesetzt hat oder nicht. Aber bei allem Streit darf man nie den totalitären Anspruch erheben, im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein. Und man darf nie anderen Menschen absprechen, dass sie auch eine Überzeugung haben. Es geht darum, auf der Basis von Wissen und eigener Überzeugung plausible Annahmen zu treffen, sich den Restzweifel jedoch zu bewahren. Damit hab’ ich zumindest ganz gute Erfahrungen gemacht.
SZ: Aber wenn Sie Ihrem Kollegen von der CDU, Wirtschaftsminister Peter Altmaier, eine "Stromlüge" vorwerfen, geht das durchaus frontal auf den Mann.
Heil: Ich würde ihn nie als Lügner bezeichnen. Aber es gibt Lebenslügen in der Energiepolitik, die muss man doch benennen. Da spreche ich über die Sache, nicht über die Person.
SZ: Wird Frau Baerbock härter angegangen, als sie es würde, wenn sie Herr Baerbock wäre?
Heil: Bei manchen sexistischen Äußerungen im Netz hat man diesen Eindruck, ja. Frau Merkel hat ja zu Beginn ähnliche Erfahrungen gemacht. Das muss man aber unterscheiden von der Diskussion über Fehler, die sie gemacht hat. Da müssen Männer und Frauen gleich behandelt werden, wenn sie ein hohes Staatsamt anstreben.
SZ: Laschet und Söder mussten auch Dinge über sich lesen, auf die sie bestimmt hätten verzichten können.
Heil: Wenn wir nur noch Charakter- statt Sachdebatten führen, schadet das der Demokratie. Dann sind wir zumindest auf dem Weg in amerikanische Verhältnisse.
SZ: Ist es Ihnen schwer gefallen, über all die Jahre mit der Union zu koalieren?
Heil: Ja klar. Wir konnten zwar viel dazu beitragen, dass Deutschland sicher durch die Coronakrise kam. Und dann haben wir, unabhängig davon, die Grundrente durchgesetzt. Zwar nicht in der Form, in der wir sie gern gehabt hätten, aber es war ein guter Kompromiss. Ich will ja nicht nur auf dem Papier Recht haben. Karl Popper hat "pragmatisches Handeln zu sittlichen Zwecken" empfohlen. Das ist hart, wenn Sie einen Koalitionspartner haben, der eigentlich gar nichts weiterentwickeln will...
SZ: ...der aber auch seinen sittlichen Zweck hat...
Heil: ...ja sicher. Aber es sind halt Konservative. Man muss den Spielraum nutzen, den man mit ihnen hat. Aber so ist das in einer parlamentarischen Demokratie.
SZ: Wird es der Suche nach Kompromissen und damit der Demokratie gut tun, falls es künftig immer mindestens drei Parteien braucht, um eine Koalition zu bilden?
Heil: Zumindest ist es eine Realität, mit der man sich auseinandersetzen muss, sofern man nicht Verhältnisse haben will wie in anderen zerklüfteten Demokratien...
SZ: ...Belgien, Israel oder Italien...
Heil: ...in denen eine Regierung entweder lange nicht zustande kommt oder regelmäßig zerbricht. Es kommt immer auf eins an: ob man die Bereitschaft zum Verhandeln hat. Ich hätte mir vor ein paar Jahren nicht vorstellen können, dass ich mal mit Horst Seehofer ein Einwanderungsgesetz zum Abschluss bringe. Oder das Lieferkettengesetz mit Gerd Müller, ebenfalls Minister von der CSU. Beides Kompromisslösungen, aber beides große Fortschritte.
SZ: Lesen Sie eigentlich bei Twitter die Antworten auf Ihre Tweets?
Heil: Nicht alle. Es ist zwar wichtig, dass man sich nicht nur in der Komfortzone seiner eigenen Leute aufhält. Aber Twitter ist nicht wirklich ein Instrument für Dialog. Manchmal ist das wie früher die Klowand: Man schmiert was drauf und ist dann weg. Aber bei Twitter ist nichts weg, sondern schnell in der Welt. Man kann dort Aufmerksamkeit für Themen schaffen oder etwas zuspitzen. Aber wenn ich mir jeden Kommentar dort zu Herzen nähme, wäre ich ein unfroher Mensch. Und das hab’ ich nicht vor.
SZ: Ist der Wahlkampf in Wahrheit nicht viel sanfter als früher? Der in den 50er- und 60er-Jahren bedeutende CSU-Politiker Richard Jaeger setzte Hitler und Brandt in eine Reihe, weil in beiden Fällen die Familiennamen ursprünglich andere waren. Franz Josef Strauß verglich Linke mit Ratten und Schmeißfliegen. So etwas schreibt heute nur noch ein Twitter-Troll, aber kein demokratischer Politiker über den anderen.
Heil: Ja, mir fallen sogar noch andere Dinge ein. Herbert Wehner verdrehte den Namen Todenhöfer zu Hodentöter, den CDU-Abgeordneten Wohlrabe nannte er Übelkrähe. Manchmal war’s auch lustig. Wehner sagte, die Hälfte der Bundestagsabgeordneten seien Pfeifen. Worauf der Bundestagspräsident sagte, das sei unparlamentarisch, er solle es zurücknehmen. Darauf Wehner: Ich nehme es zurück. Die Hälfte der Bundestagsabgeordneten sind – keine Pfeifen.
SZ: Woher kam dieser Ton?
Heil: Alles hat seine Phase. Es musste ja in der frühen Bundesrepublik die Unversöhnlichkeit zunächst überwunden werden. Da kamen Menschen aus dem Exil, wie Willy Brandt, oder aus dem KZ, wie Kurt Schumacher, und hatten mit Menschen zu tun, die zum Teil in der NSDAP waren. Die waren wirklich Todfeinde. Vielleicht war es die Kunst der Verdrängung, jedenfalls eine Riesen-Integrationsleistung damals.
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