- Datum:
- 19.04.2021
Frankfurter Rundschau (FR): Herr Minister, Herr Kommissar, immer öfter werden Jobs über Apps und Internetplattformen vermittelt. Das betrifft den Pizzaboten auf dem Fahrrad, Fahrdienste wie Uber oder die italienische Programmiererin, die Aufträge aus Madrid oder Berlin bearbeitet. Die Digitalisierung des Arbeitsmarkts hat mächtig an Geschwindigkeit aufgenommen – befeuert auch von der Pandemie. Hinkt das Recht der modernen Arbeitswelt hinterher?
Nicolas Schmit: Neue Entwicklungen wie die Digitalisierung waren nicht vorhersehbar und haben zu Lücken im Arbeits- und Sozialrecht geführt. Viele dieser neuen Arbeitsplätze sind sozial kaum abgesichert. Außerdem gibt es in vielen Bereichen keine Tarifpolitik, weil man davon ausgeht, dass diese Menschen selbstständig sind, also keine Tarifverträge abschließen können. Aber was ist denn tatsächlich der Status dieser Plattformarbeiter? Sind sie wirklich alle selbstständig oder wird die Selbstständigkeit benutzt, um den Arbeiterinnen und Arbeitern soziale Rechte vorzuenthalten? Da müssen wir handeln, auf nationaler wie europäischer Ebene.
FR: In der Tat gibt es viele Grauzonen: Formal hat mancher Fahrradkurier zum Beispiel die Wahl, welche und wie viele Aufträge er zu bestimmten Konditionen übernimmt – ist also selbstständig. In der Realität sieht das oft anders aus.
Hubertus Heil: Ja, es gibt viel Licht und Schatten. Wir erleben gerade einen Digitalisierungsschub durch die Pandemie – auch bei Plattformen, die menschliche Arbeit vermitteln. Lieferdienste zum Beispiel erleben derzeit einen gigantischen Boom. Das ist aber nicht nur positiv zu bewerten, denn es birgt auch Probleme. Neben Innovationen und neuen Formen von Arbeit gibt es große Machtmissverhältnisse zwischen den Plattformbetreibern und den Plattformbeschäftigten. Es geht also nicht darum, den Trend der Plattformarbeit aufzuhalten, sondern ihn auch im Sinne der Beschäftigten für gute und faire Arbeit zu gestalten. Grundsätzlich gilt: Man darf Digitalisierung nicht mit Ausbeutung verwechseln.
FR: Im vergangenen Jahr haben Sie, Herr Heil, einen Eckpunkteplan vorgelegt. Wie genau wollen Sie die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Plattformarbeiter verbessern?
Heil: Wir müssen schnell klären: Wer ist Arbeitnehmerin oder Arbeitnehmer, also abhängig beschäftigt, und wer ist solo-selbstständig. Die Beweislast für diese Statusfeststellung muss im Zweifelsfall bei den Plattformen liegen. Für die Beschäftigten ist es nämlich zum Teil sehr schwierig, nachzuweisen, dass sie wirklich abhängig beschäftigt sind. Das ist eine wichtige Frage, denn am Status als Arbeitnehmerin und Arbeitnehmer hängt viel Sozialschutz. Daneben werden wir aber auch die Solo-Selbstständigen auf Plattformen besser schützen müssen: Sie sollen sich zusammenschließen dürfen, um ihre Rechte durchsetzen zu können. Zudem wollen wir Mindestkündigungsfristen in Abhängigkeit von der Dauer der Tätigkeit auf einer Plattform. Außerdem müssen soziale Schutzlücken geschlossen werden. Wenn Sie zum Beispiel als solo-selbstständiger Fahrradkurier einen Unfall haben und nicht unfallversichert sind, kann das dramatische Folgen haben. Daneben geht es um die Fairness der Allgemeinen Geschäftsbedingungen und dass Wechsel zwischen Plattformen für Worker möglich sind, ohne die eigenen Bewertungen zu verlieren.
Schmit: Aktuell müssen sich vor allem Gerichte um das Thema kümmern. Wir kennen rund 140 Urteile aus den EU-Mitgliedsstaaten. Die meisten Gerichte haben entschieden, dass die Plattformtätigen, die geklagt hatten, nicht selbstständig sind. Aber es ist kein sinnvoller Weg, dass jeder einzelne Plattformarbeiter erst vor Gericht ziehen muss, um zu erfahren, ob er selbstständig oder abhängig beschäftigt ist. Deswegen begrüße ich die Idee von Hubertus Heil, die Beweislast aufseiten der Plattformen anzusiedeln.
FR: Auf der europäischen Ebene hat die Kommission Konsultationen gestartet und möchte, dass Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften eine Einigung finden. Falls es keine Einigung gibt, will die Kommission bis Ende des laufenden Jahres eine Gesetzgebung erarbeiten.
Schmit: Auch dort geht es um das Recht der Selbstständigen, sich zusammenschließen und Tariflöhne verhandeln zu dürfen. Das erlaubt das europäische Wettbewerbsrecht bislang nicht immer, sondern wertet es teilweise als Bildung eines Kartells. Das ist einigermaßen absurd, wenn man es mit tatsächlichen Kartellen vergleicht oder die Marktposition der Internetkonzerne in Betracht zieht. Wir sind jetzt dabei, das Wettbewerbsrecht anzupassen, damit die Selbstständigen Tariflöhne mit den Plattformen verhandeln können. In einigen Ländern geschieht das übrigens schon: In Schweden oder Dänemark zum Beispiel. Viel hängt aber auch von der jeweiligen Plattform ab. Manche haben ihre Mitarbeiter als Arbeitnehmer mit allen sozialen Rechten eingestellt und das scheint ja zu funktionieren. Andere setzen auf Selbstständige und erklären, das gehe nicht anders wegen der notwendigen Flexibilität. Aber es kann nicht sein, dass das Geschäftsmodell nur funktioniert, wenn Plattformarbeiter als Selbstständige die Kosten tragen müssen.
FR: Algorithmen spielen für die Plattformen eine große Rolle. Sie verteilen die Arbeit und legen die Vergütung fest. Es kommt auch vor, dass sie die Plattformtätigen bestrafen, wenn diese Arbeitsangebote ablehnen oder nicht schnell genug reagieren. Sollten die Plattformen ihre Algorithmen offenlegen müssen?
Schmit: Transparenz wäre ein sehr wichtiger Schritt, ja. Viele Plattformtätigen werden konstant überwacht und sind in der Regel nicht fähig, sich gegen dieses System zu wehren. Schon weil sie sehr oft nicht wissen, wie die Systeme überhaupt funktionieren. Deshalb werden wir uns das im Hinblick auf unsere Vorschläge genau ansehen. Auch wegen einer anderen Gefahr.
FR: Welcher?
Schmit: Was auf Plattformen möglich ist, kann sich auch auf andere Bereiche des Arbeitsmarktes ausbreiten: Unternehmen könnten eigene Geschäftsbereiche in Form einer Plattform ausgliedern. Die Unternehmen würden ihre Sozialkosten reduzieren, gleichzeitig verlören die Arbeitnehmer ihren sozialen Schutz. Das würde uns in die Zeit vor Bismarck zurückwerfen. Hinzu käme die Überwachung und das Management durch Algorithmen. Aber das entspricht nicht unserer Kultur und es kann nicht sein, dass Datenschutz dort endet, wo die Menschen arbeiten. Technologie macht sehr viel möglich, aber wir müssen diese Möglichkeiten gestalten und dort, wo es notwendig ist, begrenzen.
Heil: Der amerikanische Wirtschaftshistoriker Melvin Kranzberg hat schon gesagt, Technik ist weder gut noch böse, sondern es kommt darauf an, was wir damit machen. Algorithmen können sehr hilfreich und diskriminierungsfrei sein, zum Beispiel in der Personalauswahl. Aber eben nur, wenn sie gut programmiert sind. Und da sind wir bei einer wichtigen Grundsatzfrage: Welchen Weg gehen wir in Europa bei der Digitalisierung der Arbeitswelt? Den chinesischen Weg der totalen Überwachung, den amerikanischen Weg des Credos "der Markt ist alles" – oder schaffen wir es, die Verbindung von Demokratie, Marktwirtschaft und Sozialstaatlichkeit auch in der digitalisierten Arbeitswelt weiterzuentwickeln.
FR: Also ist es auch eine Chance für Europa?
Heil: Natürlich. Wir können die Digitalisierung ja nicht aufhalten, im Gegenteil: Wir wollen, dass Europa digital stärker wird. Aber wir müssen eben darauf achten, dass das nicht alle Arbeitnehmerrechte wegwischt, die mühsam über Jahrzehnte und Jahrhunderte errungen wurden. Wir werden einen Rahmen mit fairen Spielregeln festsetzen, sodass Beschäftigte in der modernen Arbeitswelt nicht unter die Räder kommen.
FR: Muss die Politik dann auch dafür sorgen, bestimmte Geschäftsmodelle und bestimmte Unternehmen vom Markt fernzuhalten, wenn sie andere Unternehmen verdrängen, die bislang Sozial- und Arbeitsstandards garantierten und sozialversicherungspflichtige Jobs angeboten haben?
Heil: Wir müssen vor allem dafür sorgen, dass sich alle an die gleichen Regeln halten. Aus technischem Fortschritt müssen wir sozialen Fortschritt machen. Nicht nur für wenige, sondern für möglichst alle. Das war die große Aufgabe der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert und das ist jetzt im 21. Jahrhundert auch unsere Aufgabe.
FR: Auf den Plattformen, aber nicht nur dort, hangeln sich viele Menschen von Auftrag zu Auftrag, oft schlecht bezahlt, ohne soziale Absicherung oder Möglichkeit, für das Alter vorzusorgen. Nach einer Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) aus dem Jahr 2019 verdient jeder Dritte der rund zwei Millionen Solo-Selbstständigen pro Arbeitsstunde weniger als den Mindestlohn. Das sind nicht nur Dogwalker oder Reinigungskräfte, sondern auch Lektorinnen oder Architekten. Beobachten wir, wie die einstige Mittelschicht abrutscht?
Heil: Die Gefahr ist da, aber die Befunde sind in Deutschland noch ein bisschen anders. Das Problem ist, dass zu wenig Aufstieg aus prekärer Beschäftigung stattfindet. Der Abstand zur wirtschaftlichen Mitte ist zu groß und das konserviert die Verhältnisse. Deswegen ist ja ein höherer Mindestlohn und mehr Tarifbindung so wichtig.
FR: Die Pandemie hat die Aufstiegschancen nicht verbessert.
Schmit: Und deshalb brauchen wir neben nationalstaatlichen Regelungen auch europäische Leitlinien. Die Arbeitswelt ist in einem völligen Wandel, dem müssen wir Rechnung tragen.
FR: Am heutigen Montag diskutieren Sie beide mit Vertreterinnen und Vertretern von Plattformen, Gewerkschaften und Beschäftigten. Wie geht es danach weiter?
Heil: Wir wollen die Ideen, die ich im vergangenen Herbst in meinem Plattform-Eckpunktepapier vorgestellt habe, nochmal mit allen diskutieren und auch weiterentwickeln. Das Problem drängt zwar, aber wir sollten auch nicht aus der Hüfte schießen. Konkrete Gesetzgebung wird pandemiebedingt erst in der nächsten Legislaturperiode erfolgen können. Es gibt allerdings einzelne Dinge, die wir vorher schon anpacken: die Beschleunigung und Entbürokratisierung des Statusfeststellungsverfahrens, über das wir vorhin gesprochen haben. Es muss klar sein, ob jemand solo-selbstständig ist oder angestellt. Und wir müssen gemeinsam am europäischen Rahmen arbeiten.
Schmit: Das wird nicht einfach, denn im Grunde ist es eine technologische Revolution, die eine ganze Reihe von Fragen mit sich bringt. Deshalb brauchen wir den Dialog mit den Sozialpartnern und den Plattformen. Wir müssen den unterschiedlichen Geschäftsmodellen Rechnung tragen, eine One-Size-fits-all-Lösung funktioniert leider nicht. Bis nach der Sommerpause wird es eine zweite Konsultationsrunde geben, dann wird die Kommission an einem Vorschlag arbeiten – natürlich in einem engen Verbund mit den Mitgliedsstaaten. Und Ende des laufenden Jahres oder am Anfang des nächsten werden wir einen konkreten Vorschlag vorlegen, der im Rat und dem Europäischen Parlament diskutiert werden wird. Aber die Regulierung der Plattformökonomie ist nicht nur ein europäisches Thema, sondern mehr und mehr ein globales. Auch die neue US-Regierung möchte Veränderungen. Das stimmt mich optimistisch.