Soziale Sicherung

"Das Bürgergeld ist die größte Sozialstaatsreform seit 20 Jahren"

Rede des Bundesministers für Arbeit und Soziales, Hubertus Heil, im Plenum des Bundestages zur 2./3. Lesung "Bürgergeld" am 10. November 2022

Anfang:
10.11.2022
Ende:
10.11.2022
Redner*in:
Bundesminister Hubertus Heil

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Ich hatte gestern Nachmittag die Gelegenheit, ein Start-up-Unternehmen in Berlin-Wedding zu besuchen. Das Unternehmen heißt "Facturee". Es ist ein Unternehmen, das mittels einer digitalen Plattform Zulieferteile für Maschinenbauunternehmen vermittelt. Das Unternehmen hat 35 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und hat sich in den letzten Jahren entschieden, fünf langzeitarbeitslose Menschen einzustellen, langzeitarbeitslose Menschen, die vom sozialen Arbeitsmarkt mit Lohnkostenzuschüssen profitieren.

Ich habe gestern auch die Gelegenheit gehabt, mit drei dieser Menschen zu sprechen. Darunter war ein Mann, der sage und schreibe 15 Jahre lang arbeitslos war, und das nicht, weil er zu faul war, sondern weil er einen Schicksalsschlag hatte. Er hatte Bankkaufmann gelernt, er hat gearbeitet, er ist dann erkrankt, hat seine Arbeit verloren es war eine langwierige Erkrankung. Es ging ihm irgendwann gesundheitlich besser, aber er hat sich in langen Jahren der Arbeitslosigkeit die Finger wund geschrieben, ohne wieder eine Chance auf Arbeit zu bekommen weil er zu lange draußen war. Er hat mal eine Maßnahme bekommen, Bewerbungstraining, aber hat nicht wirklich Arbeit finden können.

Meine Damen und Herren, dieser Mann ist heute in der Buchhaltung des Unternehmens. Er ist ein wertvoller Mitarbeiter in Zeiten, in denen händeringend Arbeits- und Fachkräfte gesucht werden. Was wir mit dem Bürgergeld machen, ist, dass wir den sozialen Arbeitsmarkt entfristen, damit wir Menschen wie diesem Mann eine Chance auf selbstbestimmtes Leben in Arbeit geben.

Das Bürgergeld, meine Damen und Herren, ist die größte Sozialstaatsreform seit 20 Jahren. Wir als Bundesregierung, als Koalition verfolgen damit vor allen Dingen zwei Ziele. Ja, es geht darum, dass Menschen, die in existenzielle Not geraten sind, verlässlich und so unbürokratisch wie möglich abgesichert werden. Aber das reicht uns nicht; wir wollen nicht nur Schutz geben in Zeiten der Not. Wir wollen Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben schaffen ich habe es eben am Beispiel dieses Mannes am sozialen Arbeitsmarkt beschrieben.

Wir sagen das auch mit Blick auf die Realität der Langzeitarbeitslosigkeit in Deutschland. Wenn es heute so ist, dass zwei Drittel der langzeitarbeitslosen Menschen keinen Berufsabschluss haben und sie im alten Hartz-IV-System hin und wieder in Hilfstätigkeiten vermittelt werden, aber das Jobcenter sie nach ein paar Monaten wiedersieht und sie nicht dauerhaft, nicht nachhaltig in Arbeit vermittelt werden, dann ist im System was falsch. Mit dem Bürgergeld ändern wir das. Wir schaffen die Chance, dass Menschen nicht in Hilfstätigkeiten vermittelt werden müssen, sondern einen Berufsabschluss nachholen können, um dauerhaft in Arbeit zu sein. Das ist auch ein Beitrag zur Fachkräfte- und Arbeitskräftegewinnung.

Mit dem Bürgergeld reagieren wir auf zwei fundamentale Veränderungen. Erstens ist der Arbeitsmarkt heute ein völlig anderer als vor 20 Jahren. Damals hatten wir Massenarbeitslosigkeit, heute in vielen Bereichen Arbeits- und Fachkräftemangel. Zweitens ist es wichtig, aus den Erfahrungen der Krisen der letzten Jahre und auch der aktuellen Krise zu lernen, wenn es darum geht, für weniger Bürokratie im System und für mehr Respekt für die Menschen zu sorgen.

Für Notlagen, meine Damen und Herren, brauchen wir Lösungen, die funktionieren – so unbürokratisch und so bürgerfreundlich wie möglich. Wir sorgen mit dem Bürgergeld dafür, dass wir überflüssige Bürokratie in den Jobcentern abbauen, damit die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jobcenter, die übrigens eine hervorragende Arbeit leisten, sich tatsächlich auf das Wesentliche konzentrieren können.

Ein Beispiel hierfür ist das, was die Jobcenter immer gefordert haben: eine Bagatellgrenze für Kleinstbeträge, wo Menschen mit Bescheiden belästigt und überzogen werden. Da lohnt weder Aufwand noch Nutzen. Das schaffen wir ab.

Vor allen Dingen aber, meine Damen und Herren, sorgen wir für angemessenen Schutz. Ein wichtiger Teil der Reform ist die Erhöhung des Regelsatzes. Es geht beim Bürgergeld darum, mit der Erhöhung und Anpassung der Regelsätze der Inflationsentwicklung zukünftig nicht mehr hinterherzulaufen. Das ist gerade jetzt besonders wichtig.

Aber ich sage auch klar und deutlich: Damit kann es nicht getan sein. Die Qualität eines Sozialstaats bemisst sich nicht allein an der Höhe des sozialen Transfers; sondern die Qualität des Sozialstaats bemisst sich vor allen Dingen daran, wie sehr er in der Lage ist, Menschen zu einem selbstbestimmten Leben in Arbeit zu bringen.

Ich sage es noch mal am Beispiel des Mannes, den ich eingangs genannt habe. Er hat mir erzählt, was er in den 15 Jahren erlebt hat, wie er sich die Finger wund geschrieben hat, wie ihm die Decke auf den Kopf gefallen ist. Dem Mann geht es heute besser in Arbeit. Er sagt: Ich fühle mich wertgeschätzt. Ich leiste was. Ich habe Kolleginnen und Kollegen.

Videomittschnitt der Bundestagsrede von Bundesminister Hubertus Heil zur 2./3. Lesung zum Bürgergeld am 10. November 2022.

Meine Damen und Herren, für die Mehrheit der Menschen in Deutschland ist Arbeit mehr als Broterwerb.

Es ist Geldverdienen, aber auch Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Somit sorgen wir auch mit dem Bürgergeld dafür, dass Leistung sich lohnt.

Und wir setzen Anreize, einen Berufsabschluss nachzuholen; wir ermöglichen das nicht nur. Wer das einmal erlebt hat, weiß: Menschen, die einen Berufsabschluss verpasst haben und sich dann wieder aufrappeln das ist sehr anstrengend. Wir wollen, dass Leistung zählt und dass das auch mit finanziellen Anreizen belohnt wird mit dem Weiterbildungsgeld.

Wir werden dafür sorgen – und da bin ich den Koalitionsfraktionen sehr dankbar, dass wir uns darauf verständigt haben –, dass wir im Bürgergeld Zuverdienstgrenzen erhöhen, damit Leistung sich lohnt. Das war nicht nur ein Anliegen der FDP, aber die FDP hat sich besonders dafür eingesetzt. Ganz herzlichen Dank dafür!

Und jetzt, meine Damen und Herren, muss ich an die Adresse der CDU/CSU-Bundestagsfraktion mal meine Verwunderung zum Ausdruck bringen, dass Sie heute in den Antrag stellen, dass nur der Regelsatz erhöht wird. Wenn Sie wochenlang rumlaufen und sagen: "Mit dem Bürgergeld lohnt sich Arbeit nicht mehr", und gleichzeitig nur den Regelsatz erhöhen, dann ist da ein gewisser logischer Bruch, um es ganz deutlich zu sagen.

Das merken Sie selbst schon, Herr Merz.

Arbeit muss einen Unterschied machen. Arbeit muss sich lohnen in Deutschland. Und dafür sorgt die Koalition. Deshalb haben wir den Mindestlohn auf 12 Euro erhöht – die CDU/CSU hat nicht mitgestimmt. Deshalb kämpfen wir für mehr Tarifbindung, und wir brauchen auch da noch ein bisschen Unterstützung. Da kann die Union sich auch verdient machen.

Deshalb haben wir das Wohngeld heute auf der Tagesordnung, gerade in diesen Zeiten. Deshalb entlasten wir Geringverdiener bei Beiträgen und Steuern. Denn: Arbeit muss einen Unterschied machen.

Aber in diesen Zeiten, in denen die gesellschaftliche Stimmung aufgrund der Krise angespannt ist, werden und dürfen Demokratinnen und Demokraten es nicht zulassen, dass geringverdienende Menschen gegen bedürftige Menschen ausgespielt werden.

Wir müssen die gesamte Gesellschaft im Blick haben und dieses Land zusammenhalten, meine Damen und Herren.

Ich will mich noch mit zwei Kritikpunkten auseinandersetzen, die heute auch vorgetragen werden: zum einen die sogenannte Karenzzeit, in der wir uns, wenn Menschen bedürftig geworden sind, die Angemessenheit des Wohnraums nicht angucken. Wir wollen Menschen, die in Not geraten sind, nicht verunsichern, dass sie auch noch ihre Wohnung verlieren. Vielmehr sollen Sie sich darauf konzentrieren können, wieder in Arbeit zu kommen.

Und richtig: Wir greifen auch kleines Erspartes nicht an. Das haben wir übrigens mit der Union vor zwei Jahren mal eingeführt, weil wir da in der Krise erlebt haben, wie das ist, wenn Soloselbstständige beispielsweise auf einmal in Not geraten und dann ihr ganzes Erspartes aufbrauchen müssen. Das ist auch eine Frage des Respekts vor Lebensleistung. Leistung muss sich lohnen in Deutschland, meine Damen und Herren.

Dann wird noch behauptet, es gebe keine Sanktionen mehr. Richtig ist, dass wir die Sanktionen und Mitwirkungspflichten auf die Bereiche konzentrieren, auf die hartnäckigen Fälle, in denen das notwendig ist. Aber der Geist des Bürgergelds, meine Damen und Herren, ist nicht der, dass wir alle Menschen, die langzeitarbeitslos sind, unter Verdacht stellen, zu faul zu sein, zu arbeiten. Die meisten wollen arbeiten. Der Geist des Bürgergelds ist der der Solidarität, des Zutrauens, der Ermutigung. Deshalb haben wir gute Gründe, das heute zu beschließen.

Am Montag ist der Bundesrat dran. Vielleicht gibt es eine Mehrheit dafür. Wir haben gute Argumente, zu überzeugen. Unsere Hand ist ausgestreckt. Wir haben viele Anträge des Bundesrates übernommen, auch von unionsgeführten Ländern. Ich hoffe da auf Vernunft statt auf Parteitaktik.

Denn da sitzen Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten und nicht Mitarbeiter einer Parteizentrale.

Aber falls es am Montag noch keine Mehrheit im Bundesrat gibt, wird die Bundesregierung den Vermittlungsausschuss anrufen. Dann haben wir die Gelegenheit, in einem schnellen Verfahren dafür zu sorgen, dass das Bürgergeld am 1. Januar 2023 in Kraft tritt. Es wird dann gestuft umgesetzt, damit die Jobcenter nicht überlastet werden. Wichtig ist, meine Damen und Herren, dass wir die im Blick haben, um die es geht: die Menschen, die jetzt auf das Bürgergeld angewiesen sind.

Herzlichen Dank.

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