- Anfang:
- 13.05.2020
Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Soziales:
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Nachrichten von massenhaften Infektionen, die uns aus Birkenfeld bei Pforzheim, die uns aus Bad Bramstedt in Schleswig-Holstein, die uns jetzt aus Coesfeld und aus Oer-Erkenschwick in Nordrhein-Westfalen erreichen, sind entsetzlich, sie sind beschämend und sie sind nicht zu tolerieren.
Ich finde, dass wir in einer solchen Situation über zwei Dinge reden müssen: Wir müssen über Klartext und über Verantwortung reden. Ich will auch über die Verantwortung von Unternehmen reden, über die Verantwortung der Bundespolitik und der Landespolitik, damit wir in diesem Bereich wirklich aufräumen.
Eines ist richtig, liebe Kolleginnen und Kollegen: Es hat in den letzten Jahren im Bereich der Fleischindustrie immer wieder Gesetzgebung gegeben, auch dieses Hauses - das letzte Mal 2017 -, um Missständen, was Arbeits- und Sozialbedingungen betrifft, entgegenzuwirken. Es ist das Arbeitnehmer-Entsendegesetz - mit der Generalunternehmernehmerhaftung für die Einhaltung des Mindestlohns und die Abführung der Sozialversicherungsbeiträge - und vieles andere verschärft worden. Sigmar Gabriel und Andrea Nahles haben vielfache Initiativen gestartet. Wir haben dann aber immer zwei Dinge erlebt: Zum einen gab es mit Teilen der Branche ein Katz-und-Maus-Spiel - wenn Regelungen getroffen wurden, hat man sich an der einen oder anderen Stelle Umgehungsmöglichkeiten organisiert -, und zum anderen haben wir in parlamentarischen Prozessen immer wieder erlebt - lassen Sie uns Klartext reden -, dass Interessengruppen versucht haben, klare Regeln, sagen wir mal, zu soften, zu verwässern.
Deshalb müssen wir in dieser Situation ernsthaft über Folgendes reden:
Zum einen dürfen wir als Gesellschaft nicht weiter zugucken, wie Menschen aus Mittel- und Osteuropa in dieser Gesellschaft ausgebeutet werden.
Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ob sie sich heute "Beschäftigte", "Werksvertragler" oder demnächst "Praktikanten" nennen, sind arbeitende Menschen, die ein Recht darauf haben, Arbeitsschutz und Gesundheitsschutz zu erfahren, wie alle anderen Menschen in dieser Gesellschaft auch, egal wo sie herkommen. Das ist nicht verhandelbar und das darf nicht weiter verhandelbar sein.
Zum anderen will ich über die gesellschaftliche Dimension reden. Man muss sich die Situation in Coesfeld einmal vergegenwärtigen: Die Menschen, die Betriebe, die Mittelständler in Coesfeld haben sich nach den Beschlüssen der Ministerpräsidenten und den neuen Verordnungen auf Lockerungen des Lockdowns gefreut, um ihr Sozial- und Wirtschaftsleben wieder in Gang zu bringen. Und dann gibt es offensichtlich einige, die sich nicht an Regeln halten und damit einen ganzen Landkreis, die ganze Wirtschaft und die Gesellschaft in Geiselhaft nehmen. - Auch das ist für unsere Gesellschaft nicht akzeptabel, meine Damen und Herren.
Nun will ich sagen, dass es anständige Unternehmer in der Fleischwirtschaft gibt. Aber es gibt viel zu viele schwarze Schafe. Deshalb ist die erste Verantwortung, aus der wir als Staat die Unternehmen nicht entlassen dürfen, die unternehmerische Verantwortung für alle Beschäftigten.
Ich sage an dieser Stelle: Es gibt bestehende Arbeitsschutzregeln. Die sind verbindlich. Die sind einzuhalten. Aber die schärfsten Regeln nützen nichts, wenn ihre Einhaltung nicht kontrolliert wird. Das ist die Erfahrung, die wir machen.
Wir haben auch erlebt, dass die Arbeitsschutzbehörden - seien wir offen und ehrlich, reden wir Klartext - für viele Bundesländer quasi eine Sparkasse waren, genauso wie, leider Gottes, die Gesundheitsämter für die Kommunen, wo auch viel zu sehr gespart wurde. Das heißt, die Kontrolldichte ist in den letzten Jahren runtergefahren worden.
Ich habe bereits im Dezember, vor Corona, mit den Arbeits- und Sozialministern der Länder vereinbart, dass wir bundesweit zu verbindlichen Kontrollquoten im Arbeitsschutz kommen. Das heißt: mehr Personal und schärfere Kontrollen im Arbeitsschutz. Das werden wir gesetzgeberisch umzusetzen haben, meine Damen und Herren.
Aber wir müssen weitergehen. Darüber werden wir in der Bundesregierung in den nächsten Tagen, bis Montag, zu reden haben. Wir haben vereinbart - die Kanzlerin hat das vorhin in der Fragestunde deutlich gemacht -, dass wir am Montag im sogenannten Coronakabinett tatsächlich zu Maßnahmen kommen werden, die über das Bestehende hinausgehen, untergesetzlich, aber durchaus auch gesetzlich. Herr Kollege Schummer, Sie haben es angesprochen - ich bin da ganz bei Ihnen; Sie sind dazu mit den Ländern im Gespräch, auch mit dem Kollegen Laumann -: Diese Art von Subsubsubunternehmertum ist die Wurzel des Übels, weil Verantwortung abgewälzt wird, weil Arbeitnehmerrechte geschleift werden, weil Löhne gedrückt werden. Das führt dazu, dass wir in vielen Bereichen Probleme haben, beispielsweise wenn es darum geht, Unterkünfte zu kontrollieren. Werksunterkünfte auf dem Werksgelände kann man kontrollieren, auch noch größere andere Unterkünfte, aber wenn irgendwelche, von dubiosen Subsubsubunternehmern angemietete Privatwohnungen und Garagen - das ist übrigens ein profitables Geschäft, das auch mit krimineller Energie betrieben wird - zu kontrollieren sind, dann stößt man an gesetzliche Grenzen.
Videomitschnitt der Bundestagsrede von Bundesminister Hubertus Heil anlässlich der Aktuellen Stunde zu den Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie.
Video der Rede
Deshalb sage ich in Frageform: Sollten wir uns nicht überlegen, wie wir mit dieser Art der sogenannten Werksvertragskonstruktion in der fleischverarbeitenden Industrie dem Grunde nach umgehen, meine Damen und Herren?
Ich finde, diese Diskussion müssen wir miteinander führen.
Wir werden - sehr sorgfältig - Verantwortung übernehmen. Das betrifft aber alle Ebenen. Das betrifft die unternehmerische Ebene. Wir wollen eine fleischverarbeitende Industrie in Deutschland, in der anständige Hygienebedingungen herrschen. Das ist auch im Interesse des Tierwohls, aber solche Arbeitsbedingungen sind vor allen Dingen im Interesse der Menschen. Wir wollen nicht, dass sie um ihr Leben, um ihre Gesundheit fürchten müssen. Herr Ostendorff, Sie haben aus Upton Sinclairs Buch "Der Dschungel" zitiert.
Auch ich habe das Buch in meiner Jugend gelesen. Dieses Buch hat mich sehr geprägt. Dieser sozialkritische Roman über die fleischverarbeitende Industrie in den USA vor 90, vor 100 Jahren führte zu einer Riesendebatte über diesen Ekel. Er hat übrigens auch politische Konsequenzen im Bereich des Arbeitsschutzes begründet.
Ich sage: Wir dürfen jetzt nicht bei Empörung stehen bleiben, sondern wir müssen handeln. Das betrifft das unternehmerische Handeln, damit die gesamte Branche nicht in Verruf kommt. Das betrifft das Handeln des Bundes, der den gesetzgeberischen Rahmen nachzuschärfen hat, und zwar dem Grunde nach. Und das betrifft die Verantwortung der Länder, die dafür zu sorgen haben, dass bestehende Regeln von den Arbeitsschutzbehörden effektiv überwacht und kontrolliert werden.
Jetzt ist Zeit für Verantwortung auf allen Ebenen. Das, meine Damen und Herren, werden wir miteinander zu besprechen haben.
Meine Bitte an dieses Haus, an alle Fraktionen, an fast alle Fraktionen lautet, es nicht bei der Empörung in dieser Debatte zu belassen, sich nicht nur gegenseitig zu bezichtigen, sondern gemeinsam Verantwortung zu übernehmen. Ich bitte darum, nicht nur Regeln vorzuschlagen, sondern auch dafür zu sorgen, dass diese Regeln im parlamentarischen Verfahren, wenn wir in die Gesetzgebung gehen, nicht verwässert werden, sondern umgesetzt werden. Und ich bitte darum, dafür zu sorgen, dass in den Arbeitsschutzbehörden der Länder genug Personal vorhanden ist, damit die bestehenden Regeln durchgesetzt werden können.
Ich sage es noch einmal: Wir haben viel zu verlieren. Die bulgarische und die rumänische Regierung haben sich an die Bundesrepublik Deutschland gewandt, die EU-Kommission auch. Wir sind ein Land von hoher sozialstaatlicher Qualität. Wir sind ein Land, auf das wir gemeinsam in vielerlei Hinsicht stolz sein können. Aber wir müssen aufhören, das, was in dieser Gesellschaft nicht in Ordnung ist, schönzureden. Ich sage es noch mal an dieser Stelle: Es ist Zeit für Klartext und Verantwortung. Wir müssen und wir werden mit diesen Verhältnissen aufräumen.
Ich bitte Sie als Arbeitsminister parteiübergreifend um Unterstützung, weil ich mir lebhaft vorstellen kann, was jetzt passiert. Alle rufen: "Die waren es! Die waren es! Die waren es!", und alle sagen: "Da müssen wir etwas tun". Dann gibt es Vorschläge, und dann kommen die Interessengruppen. - Ich finde, an dieser Stelle geht das Gemeinwohl vor. Das ist unsere Aufgabe, meine Damen und Herren.