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"Wirtschaftlicher Erfolg und soziale Gerechtigkeit sind keine Gegensätze"

Rede von Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Soziales, anlässlich des Zukunftsforums "Globalisierung gerecht gestalten" am 20. Februar 2019 in Berlin

Anfang:
20.02.2019

Lieber Gerd Müller, liebe Bärbel Kofler, liebe Frau Cornelia Füllkrug-Weitzel, lieber Herr Zahn, meine sehr geehrten Damen und Herren.

Lieber Gerd, herzlichen Dank für Deine engagierte Eröffnung – man spürt, wie wichtig dieses Thema für Dich, für diese Bundesregierung, für uns alle ist.

Gerd Müller hat uns die zutiefst unbequeme Wahrheit globalisierter Lieferketten vor Augen geführt:

Wir als Konsumenten am Ende dieser Kette genießen Vorzüge, die am anderen Ende unter oft zweifelhaften Bedingungen erarbeitet werden.

Du hast die Beispiele genannt: Wir lassen in Afrika Koltan für unsere Smartphone-Akkus abbauen. Es wird im Kongo häufig von Kindern aus der Erde geholt – für ein bis zwei Dollar Lohn pro Tag. Dafür müssen sie teilweise bis zu 24 Stunden unter Tage verbringen – oft unter gefährlichsten Bedingungen. Wir lassen in Asien Textilien in Massen produzieren – so billig, dass wir sie häufig nach ein paar Wochen wieder wegschmeißen. Die Arbeitskosten für ein T-Shirt werden auf 20 Cent geschätzt. Was das für die Löhne bedeutet, liegt auf der Hand. Diese Liste ließe sich fast beliebig fortschreiben.

Und genauso beliebig wird in vielen Herkunftsländern mit den Menschen umgegangen, die diese Produkte ernten, verarbeiten oder herstellen. Die fatalen Folgen kennen wir alle – einstürzende oder brennende Fabriken, schwere gesundheitliche Schäden, schreckliche Minenunglücke. Das sind ein paar Sekunden in den Fernsehnachrichten, wenn überhaupt. Wir sind kurz betroffen und entsetzt – und haben es meistens bis zum Wetterbericht schon wieder verdrängt. Aber die Ursachen sind bekannt:

  • Arbeits- und Gesundheitsschutz oder Sozial- und Umweltstandards sind vielerorts ein Fremdwort.
  • Menschenrechte werden mit Füßen getreten, faire Löhne und Mitbestimmungsrechte verweigert.

Nicht unbedingt aus Menschenfeindlichkeit - sondern aus Gewinnstreben. Denn all diese Standards haben ihren Preis.

Das alles gehört zur Realität des globalen Handels. Und das alles geht uns etwas an – als Verantwortliche in Politik und Wirtschaft. Und auch als Konsumentinnen und Konsumenten und Bürgerinnen und Bürger eines wohlhabenden Landes, das wirtschaftlich einflussreich ist – und deshalb auch Einfluss nehmen muss. In global vernetzten Volkswirtschaften kann Verantwortung für gute Arbeit nicht an nationalen Grenzen haltmachen. Unser Wohlstand darf nicht auf Kosten anderer gehen.

Wie bitter nötig unser gemeinsamer Kampf für eine gerecht gestaltete Globalisierung ist, zeigen die Zahlen, die uns beispielsweise die Internationale Arbeitsorganisation ILO nennt. Ich schließe mich an dieser Stelle den Glückwünschen zum 100. Bestehen der ILO an. (Im Sommer werden wir das gebührend feiern!) Ganz bestimmt wird die Arbeit der ILO nicht ausgehen!

Das Thema Kinderarbeit habe ich bereits angesprochen. Aber denken wir auch an:

  • die 25 Millionen Menschen, die weltweit Zwangsarbeit leisten.
  • die 300 Millionen Menschen, die weltweit in extremer Armut leben, also mit weniger als 2 Dollar am Tag über die Runden kommen.
  • Oder die 1,4 Milliarden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die weltweit unter menschunwürdigen Bedingungen arbeiten müssen – das entspricht der Bevölkerung Chinas

Schon jetzt zeichnet sich ab, dass das Ziel der Weltgemeinschaft, im Rahmen der Agenda 2030 Kinderarbeit bis 2025 und Zwangsarbeit bis 2030 zu überwinden, ohne zusätzliche Anstrengungen nicht zu erreichen ist. Die Weltgemeinschaft bleibt gefordert, diese katastrophalen Zustände zu überwinden – wir bleiben gefordert! Deshalb gilt es auch nationale Kraftanstrengungen hier in Deutschland zu verstärken.

Ich schlage vor, dass unsere beiden Ressorts ein Aktionsbündnis gegen Kinderarbeit, Menschenhandel und Zwangsarbeit ins Leben rufen. Mit einem gemeinsamen Aktionsplan, neuen Initiativen und zusätzlichen Mitteln können wir wirkungsvoll zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele beitragen.

Lieber Gerd Müller, Du hast es eben die soziale Frage des 21. Jahrhunderts genannt – völlig zu Recht: Die eine Hälfte der Welt kann nicht auf Kosten der anderen Hälfte in Wohlstand, ja in Überfluss leben. Das ist ungerecht und ethisch nicht verantwortbar.

Sehr geehrte Damen und Herren, wenn es uns nicht gelingt, nationale und globale Lieferketten fair zu gestalten und dadurch die Akzeptanz der Globalisierung zu stärken, hat das auch Auswirkungen auf den freien Handel und den westlichen Wohlstand.

  • Dann nämlich, wenn Armut und Ausbeutung Menschen zwingen, sich auf den Weg zu machen auf der Suche nach einem besseren Leben für sich und ihre Kinder. Nach Zukunftsperspektiven, die ihnen in ihrer Heimat verwehrt bleiben.
  • Dann nämlich, wenn die Antworten auf ungerechte Verhältnisse nationalistische und protektionistische Bewegungen sind.

Der Einsatz für gute Arbeit weltweit ist daher gleichzeitig menschlich geboten, politisch richtig und ökonomisch notwendig. Unsere beiden Häuser, das BMZ und das BMAS, setzen sich nun schon seit einigen Jahren gemeinsam für nachhaltige globale Lieferketten ein.

Lieber Gerd Müller, ich danke dir und den Kolleginnen und Kollegen im BMZ für das gemeinsame Engagement – über Ressort- und Parteigrenzen hinweg! Erwähnen will ich auch das Textilbündnis, mit dem das BMZ Maßstäbe setzt. Die Hälfte der deutschen Textilbranche macht bereits mit. Das geht also in die richtige Richtung. Aber es bleibt auch noch Luft nach oben!

Meilensteine in den vergangenen Jahren waren die deutschen G7- und G20-Präsidentschaften in den Jahren 2015 und 2017, bei denen wir das Thema nachhaltige Lieferketten auf die internationale Agenda setzen konnten. Danken möchte ich an dieser Stelle auch ganz besonders dem Auswärtigen Amt und Heiko Maas, der mit großem Einsatz die Umsetzung des Nationalen Aktionsplans Wirtschaft und Menschenrechte befördert. Mit dem Nationalen Aktionsplan setzt Deutschland die Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte um. Er ist eines unserer wirkungsvollsten Instrumente, um gemeinsam mit Unternehmen, Sozialpartnern und Zivilgesellschaft Lieferketten verantwortlich zu gestalten. Die VN-Leitprinzipien enthalten genauso wie der Nationale Aktionsplan eindeutige Pflichten und Verantwortlichkeiten für Staat und Wirtschaft zum Schutz von Menschenrechten in globalen Lieferketten. Staaten sollen demnach notwendige Schritte ergreifen, um auch im Ausland Verletzungen von Menschenrechten durch Unternehmen vorzubeugen.

Neu dabei ist auch das Verständnis der Verantwortung von Unternehmen: Sie sollen Menschenrechte in ihrer gesamten Lieferkette achten. Von Unternehmen wird erwartet, dass sie die Risiken in ihren Lieferketten kennen, gegensteuern und darüber berichten. Das ist vor allem in Ländern ohne stabile Rechtstaatlichkeit wichtig.

Mit dem Nationalen Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte haben wir eine Grundlage für verantwortliches Handeln von Unternehmen in Lieferketten geschaffen. Wir werden in einem Monitoring-Prozess nach wissenschaftlichen Standards überprüfen, ob die Unternehmen ihrer Sorgfaltspflicht angemessen nachkommen.

Gemeinsam mit unseren Kollegen aus dem Auswärtigen Amt, dem Wirtschafts- und dem Finanzministerium haben wir uns in einem Brief an die Unternehmen gewendet, die potenziell befragt werden können. Unsere ausdrückliche Bitte ist: Beteiligen Sie sich an dem Monitoring! Es nützt Ihnen und uns. Vor allem aber nutzt es den betroffenen Menschen, die unter Menschenrechtsverletzungen zu leiden haben!

Es wird uns wichtige Erkenntnisse liefern – etwa darüber, wo es weiteren Unterstützungsbedarf gibt und ob Unternehmen in bestimmten Branchen besonderen Handlungsbedarf haben. Je mehr Unternehmen an der Befragung teilnehmen, desto größer die Chance, dass das Ergebnis zu aller Zufriedenheit ausfällt. Im Koalitionsvertrag haben wir uns darauf verständigt, erst zu evaluieren und dann gegebenenfalls national gesetzlich tätig zu werden. Und daran halten wir uns. Mein Ministerium hat in zahlreichen regionalen Veranstaltungen mit Unternehmen über Menschenrechte, Arbeits- und Gesundheitsschutz und Sozialstandards weltweit diskutiert und auch viele Anregungen aufgenommen.

In diesem Jahr wird das BMAS eine Studie veröffentlichen, die zeigt, welche Branchen der deutschen Wirtschaft mit besonderen menschenrechtlichen Risiken konfrontiert sind. Es ist mir ein wichtiges Anliegen, mit diesen Branchen, ins Gespräch zu kommen, damit wir schauen, wie wir vor Ort den Menschenrechtsschutz verbessern können. Ich bin überzeugt, dass Branchendialoge ein wirksames Mittel sind, beim Thema gute Arbeit weltweit voranzukommen. Ich weiß aber auch: Das ist kein einfaches Unterfangen. Ich will an einem konkreten Beispiel zeigen, wie komplex der Anspruch an nachhaltige Lieferketten ist:

Die Elektromobilität gilt allgemein als zentraler Baustein eines nachhaltigen und klimaschonenden Verkehrssystems. Und wir sind in Deutschland aus vielen Gründen daran interessiert, diese Technologie nach vorne zu treiben. Einer dieser Gründe sind die Arbeitsplätze in der Automobilbranche. Deutschland muss ein starker Standort der Automobilindustrie bleiben! Aber wir wissen auch, was der Abbau der benötigten Rohstoffe in den Ländern Asiens, Lateinamerikas oder Afrikas häufig bedeutet – für Auto-Akkus gilt das gleiche wie für die eingangs erwähnten Handy-Akkus. Hier zeigt sich das ganze Dilemma: Sauberer Verkehr hier bei uns auf Kosten von Umweltschäden und Missständen bei den Arbeitsbedingungen in den Ländern, aus denen wir die Rohstoffe für unsere E-Autos beziehen.

Das alles macht deutlich: Es kann nicht darum gehen, Unternehmen anzuprangern. Vielmehr müssen wir Unternehmen dabei unterstützen, Rechts- und Handlungssicherheit zu bekommen. Und wir müssen helfen, Wege zu finden, auch in Ländern ohne rechtstaatlichen Schutz so zu investieren, dass die Menschen dort unter besseren Bedingungen leben und arbeiten und nachhaltige Lieferketten etabliert werden. Die Politik kann die Wirtschaft nicht alleine lassen in dem Bemühen, ihre Rohstoffe unter akzeptablen Arbeitsbedingungen abbauen zu lassen und Lieferketten nachhaltig zu gestalten. Es geht auch darum, der deutschen Wirtschaft den offenen Zugang zu Beschaffungs- und Absatzmärkte zu erhalten.

Viele Unternehmen sind sich ihrer Verantwortung bewusst und machen sich auf den Weg. Auch, weil immer mehr Investoren, Geschäftspartner und auch Konsumentinnen und Konsumenten diese Verantwortung einfordern. Eine gewisse Sensibilisierung ist zweifellos erreicht worden. Allerdings ist immer wieder – und zwar gerade von Nachhaltigkeits-Beauftragten in Unternehmen – zu hören, dass der freiwillige Ansatz manche Manager in den Vorstandsetagen entspannt zurücklehnen lässt. Frei nach dem Motto: Was nicht Gesetz ist, interessiert nicht.

Meist setzen sich insbesondere die Firmen mit ihren Lieferketten auseinander, die im Fokus der Öffentlichkeit stehen und direkten Kontakt zum Kunden haben. Viel schwieriger aber ist es, die Unternehmen zu erreichen, die unterhalb des öffentlichen Radars wirken. Aber genau da müssen wir hin!

Meine sehr geehrten Damen und Herren, eines unterschreibe ich sofort, wenn wir über gute Arbeit in Deutschland, Europa und weltweit sprechen: "Trotz getrennter Verantwortlichkeiten tragen wir gemeinsame Verantwortung."

Nur mit vereinten Kräften können wir die Globalisierung gerecht gestalten – als Unternehmen, als Sozialpartner, als Zivilgesellschaft und auf politischer Ebene. Und, wie mein Kollege Gerd Müller eben gefordert hat: Auch als Verbraucherinnen und Verbraucher müssen wir "fair kaufen".

Das gilt auch für die öffentliche Beschaffung. Gerd, Du hast es angesprochen. Ich wäre dir dankbar, wenn Du auch in deiner Fraktion und beim Wirtschaftsminister dafür werben würdest, dass wir menschenrechtliche Mindeststandards auch im öffentlichen Vergaberecht verbindlich festschreiben - so wie wir es im NAP vorgesehen haben.

Ich bin überzeugt davon, dass diejenigen, die ausschließlich durch ein nationales Gesetz alle Herausforderungen in den Lieferketten meistern wollen, zu kurz greifen. Aber auch diejenigen, die klare Standards und einen nachvollziehbaren rechtlichen Rahmen für das Ende unseres wirtschaftlichen Erfolges halten, haben die Bedeutung des Themas nicht erkannt – und auch nicht die Bedürfnisse der Unternehmen, die bereits aktiv sind. Jenseits solcher Schwarzweiß-Malerei muss es doch vielmehr um eins gehen:

Wir brauchen Spielregeln für globales Wirtschaften, die einerseits politisch ambitioniert, andererseits aber auch machbar für die Unternehmen sind.

Aus Sicht des BMAS sprechen daher gewichtige Gründe dafür, auch unabhängig vom Monitoring-Ergebnis zum Nationalen Aktionsplan zu einer EU-weiten klaren und nachvollziehbaren gesetzlichen Regelung zu kommen. Dies bekomme ich übrigens auch immer mehr von großen und kleinen Unternehmen unterschiedlicher Branchen gespiegelt. Eine verbindliche EU-Regelung sollte für große Unternehmen einen Prozess-Standard formulieren, um die menschenrechtliche Sorgfalt innerbetrieblich umzusetzen. Sie müsste auch für außereuropäische Unternehmen gelten, die in Europa Geschäfte betreiben. Nur so können wir gleiche Wettbewerbsbedingungen schaffen und den Welthandel gerechter gestalten. Dass Unternehmen deutlich mehr Handlungs- und Rechtssicherheit brauchen, hat erst jüngst der KiK-Fall gezeigt. Der Fall hat breites Medienecho erzeugt. Wie Sie wissen, hat das Landgericht Dortmund die Zivilklage von pakistanischen Angehörigen und Überlebenden eines Brandes in einer Zulieferfabrik des Textilunternehmens KiK abgewiesen. Grund war Verjährung - nach pakistanischem Recht. Mit der Entscheidung blieb aber in der Sache ungeklärt, ob und inwieweit ein deutsches Unternehmen für die Arbeitsbedingungen bei einem seiner ausländischen Zulieferer rechtlich verantwortlich gemacht werden kann. Es wurde einmal mehr klar, wie groß gegenwärtig die rechtliche Grauzone ist, in der Unternehmen agieren müssen. Diese Unsicherheit müssen wir beseitigen.
Deshalb werden wir das Ziel, in der EU einen einheitlichen Rechtsrahmen zu schaffen, mit unserer EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Hälfte des Jahres 2020 verfolgen.

Sehr geehrte Damen und Herren, ich sehe mein Ministerium hier besonders in der Pflicht. Denn das Bundesministerium für Arbeit und Soziales steht wie kein anderes für gute und menschenwürdige Arbeit: Es geht um Vereinigungsfreiheit, starke Sozialpartnerschaft, Tarifbindung, Mindestlohn, sozialstaatliche Absicherung der wesentlichen Lebensrisiken, weitreichendes Arbeitsrecht und Arbeitssicherheit. All diese Themen sind im BMAS angesiedelt. Sie sind nicht nur die Grundfeste des erfolgreichen deutschen Wirtschaftsmodells, sondern auch die Grundfeste unserer sozialen Marktwirtschaft, die sich über Jahrzehnte und durch Krisen hinweg bewährt hat. Meine tiefe Überzeugung ist: Wirtschaftlicher Erfolg und soziale Gerechtigkeit sind keine Gegensätze, sondern sie bedingen einander. Und in einer globalisierten Welt macht unser Anspruch, für gute und menschengerechte Arbeit einzutreten, nicht an nationalen Grenzen oder den EU-Außengrenzen Halt. Nur wenn es gelingt, unseren offenen Welthandel sozial und gerecht zu gestalten, wird er auf Dauer Bestand haben. Das ist unsere gemeinsame Verantwortung – in Politik und Wirtschaft, in Deutschland, in Europa und der Welt!

Vielen Dank.