- Datum:
- 21.03.2024
Spiegel: Herr Heil, schafft die SPD sich gerade ab?
Hubertus Heil: Nein, wie kommen Sie darauf?
Spiegel: Laut einer aktuellen Umfrage sagen 34 Prozent der Bürger, die Bundesregierung mache Politik für die Wohlhabenden der Gesellschaft. Nur elf Prozent erkennen eine Politik für die Mitte. Alarmiert Sie das nicht?
Heil: Nein, wir haben den Mindestlohn kräftig erhöht und sorgen für mehr Tarifbindung. Die SPD stellt sicher, dass sich Lebensleistung lohnt und sich alle Generationen auf die gesetzliche Rente verlassen können. Sie macht wie keine andere Partei Politik für die arbeitenden Menschen.
Spiegel: Die Leute haben ein anderes Gefühl.
Heil: Die Vielzahl der Krisen und der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine wühlen die Gesellschaft auf. Die hohe Inflation hat Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen belastet. Hier haben wir gegengesteuert, etwa mit der Energiepreisbremse und Entlastungsmaßnahmen. Jetzt geht die Inflation Gott sei Dank stark zurück, und wir stellen jetzt die Weichen für mehr wirtschaftliches Wachstum.
Spiegel: Was meinen Sie konkret?
Heil: Es geht um eine bezahlbare Energieversorgung, um Fachkräftesicherung und um die Modernisierung dieses Landes. Wir haben dafür gesorgt, dass die Stahlindustrie in diesem Land eine Zukunft hat. Es gibt wegweisende Ansiedlungen im digitalen Bereich, etwa bei der Halbleiterproduktion oder neue Batteriezellenfabriken. Jetzt müssen wir deutlich machen: Wenn der Aufschwung kommt, sollen nicht nur einige wenige profitieren, sondern möglichst viele.
Spiegel: In der schon erwähnten Umfrage beurteilen 79 Prozent den Mindestlohn positiv, 75 Prozent das Deutschlandticket, 74 Prozent die Gas- und Strompreisbremse. Warum kann die SPD davon nicht profitieren?
Heil: Es gab zu viele öffentliche Debatten um Nebensächliches, es geht aber um die Konzentration auf das Wichtige. Manche Kollegen schlagen sich in Talkshows die Köpfe ein über Identitätsdebatten. Ob man jetzt gendern darf, muss oder sollte. Menschen sollten sich einfach in ihrer Unterschiedlichkeit akzeptieren und respektvoll miteinander umgehen. Gendern ist nicht die zentrale Frage dieses Landes. Wichtig sind die Außen- und Sicherheitspolitik, die Wirtschaftspolitik und der Arbeitsmarkt. Hier liegen auch die wesentlichen Unterschiede zwischen der SPD und der Merz-CDU.
Spiegel: Und zwar?
Heil: Mit Merz hat sich die CDU geistig zurückentwickelt in die Achtzigerjahre. Die Konservativen knüpfen wieder an Maggie Thatcher an. Die wollen Steuergeschenke an sehr wohlhabende Menschen verteilen und dafür die soziale Sicherheit und die Rechte von Arbeitnehmern zurückdrängen.
Spiegel: Statt mit der Union, streiten Sie mit FDP und Grünen auf offener Bühne über sozialpolitische Themen wie Bürgergeld, Kindergrundsicherung oder die Bezahlkarte für Flüchtlinge. Frustriert Sie das?
Heil: Ja, diese öffentlichen Auseinandersetzungen nerven mich. Alle Fortschritte, die ich durchsetzen konnte – ob Mindestlohn, Fachkräfteeinwanderungsgesetz oder bei der Rente –, habe ich durch ruhiges Verhandeln erzielt und nicht durch lautes Geschrei.
Spiegel: Eigentlich sollte das Bürgergeld die quälende Auseinandersetzung um Hartz IV beenden, nun wird der Streit in derselben Vehemenz weitergeführt. Untergräbt das nicht erst recht das Vertrauen in den Sozialstaat?
Heil: Die Konservativen sind hier mit vielen Fake News unterwegs. Sie haben im Herbst behauptet: Das Bürgergeld führe dazu, dass massenhaft Menschen ihre Jobs kündigen, um Grundsicherung zu beanspruchen. Die Zahlen zeigen das Gegenteil: Wir haben im Unterschied zum Hartz-IV-System die niedrigsten Abgänge aus Arbeit in die Grundsicherung. Und zur Erinnerung: CDU/CSU haben das Bürgergeld mit eingeführt. Was sie jetzt mit viel Getöse fordern, ist eine Mischung aus kaltem Kaffee und dumpfem Gefühl.
Spiegel: Zum Beispiel?
Heil: Vieles, was die CDU jetzt fordert, gibt es bereits, wie Mitwirkungspflichten und Sanktionen. Das Bürgergeld ist die neue Grundsicherung. Der Union geht es nicht um eine sachliche Debatte, sondern um Stimmungsmache. Die SPD macht sich dafür stark, dass Arbeit sich tatsächlich lohnt – durch anständige Löhne und später auch in der Rente. Wir werden nicht zulassen, dass das Rentenniveau abfällt, und eine Rente mit 69 oder 70 wird es nicht geben. Das wären Rentenkürzungen für fleißige Leute.
Spiegel: Moment, für die heutigen Rentner wäre das doch keine Kürzung.
Heil: Doch, weil sie im Vergleich zur arbeitenden Bevölkerung ärmer werden, wenn die jährlichen Rentenanpassungen von der Lohnentwicklung abgekoppelt werden. Beim Rentenniveau geht es auch nicht nur um die gut 21 Millionen Rentner, sondern um alle Beschäftigten. Wenn die Jüngeren immer höhere Beiträge zahlen sollen, niedrigere Renten bekommen und bis 70 arbeiten müssen, geht der Generationenvertrag kaputt. Schichtarbeiter, Pflegekräfte, Handwerker und Raumpfleger können nicht bis 70 arbeiten. Für sie wäre das eine Rentenkürzung.
Spiegel: Ihr Rentenpaket löst aber die Finanzierungslücke durch die demografische Entwicklung nicht, sondern verschiebt sie nur. Damit machen Sie Politik für die ältere Wählerschaft, zulasten der Jungen.
Heil: Danke für die Gelegenheit, das mal richtigzustellen. Es geht bei der Sicherung des Rentenniveaus nicht nur um die Interessen der Großeltern, sondern gerade auch um die Eltern und deren Kinder. Es profitieren auch die, die jetzt arbeiten. Eine sächsische Krankenschwester, heute 49 Jahre alt, geht nach unseren Vorstellungen 2040 nach 45 Beitragsjahren abschlagsfrei in Rente. Sie verdient heute etwa 3.100 Euro brutto. Wenn wir das Rentenniveau nicht stabilisieren würden, hätte sie 1.100 Euro weniger Rente pro Jahr. Von den Konservativen höre ich nur: immer länger arbeiten, höhere Beiträge zahlen und weniger Rente. Diesen Weg werde ich nicht gehen.
Spiegel: Das Finanzierungsproblem der Rente wird sich aber verschärfen, wenn die Babyboomer in Rente gehen.
Heil: Natürlich ist das eine Herausforderung. Aber Sicherheit im Alter muss uns etwas wert sein. Und je mehr Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, umso stabiler ist die Rente. Die Leute, die vor zehn Jahren den Untergang der gesetzlichen Rente prognostiziert haben, haben sich geirrt. Die Beiträge sind stabil, seit ich Arbeitsminister bin – weil wir rund fünf Millionen mehr Beschäftigte haben als 2014 prophezeit. Wir müssen deshalb bei der Arbeits- und Fachkräftesicherung auch in Zukunft alle Register ziehen, also Ausbildung, Weiterbildung, qualifizierte Einwanderung und Erwerbsbeteiligung von Frauen. Das müssen wir ohnehin, damit Deutschland wirtschaftlich erfolgreich bleibt.
Spiegel: Was bedeutet heute noch "Partei der Arbeit"?
Heil: Eine Wirtschaftspolitik, die für Investitionen und zukunftsfähige Arbeitsplätze sorgt, die die Digitalisierung von Wirtschaft und Staat vorantreibt und die Fachkräftebasis sichert – zugleich aber für ordentliche Lohn- und Arbeitsbedingungen sorgt. All das heißt heute "Partei der Arbeit", und dafür steht die Sozialdemokratie. Anders als CDU/CSU verwechseln wir Wirtschaftspolitik nicht mit Lobbygeschrei. Wir machen Politik für die arbeitende Mitte der Gesellschaft, für all die, die als Arbeitnehmer und Selbstständige unser Land am Laufen halten.
Spiegel: Aber worin besteht die Klammer zwischen dem Facharbeiter, der 60.000 Euro im Jahr verdient, und der Reinigungskraft, die mit knapp 27.000 Euro nach Hause geht? Und was verbindet beide Welten mit dem Fließbandarbeiter des Digitalzeitalters, der zu Hause Software schreibt?
Heil: Zum Beispiel, dass alle in Krisenzeiten auf ein handlungsfähiges soziales Sicherheitssystem vertrauen können. Trotz aller Krisen in den vergangenen Jahren haben wir keinen Zusammenbruch des Arbeitsmarkts erlebt. Auch weil wir mit dem Instrument der Kurzarbeit mitgeholfen haben, dass die Menschen in Arbeit geblieben sind. Wir müssen die Gesellschaft zusammenhalten, da geht es um Leistungsgerechtigkeit und soziale Sicherheit.
Spiegel: Ist es ein Problem, dass viele den Sozialstaat mittlerweile für eine Art Vollkaskoversicherung halten?
Heil: Das ist nicht mein Bild, wir können die Menschen nicht vor Veränderung schützen. Wir können auch nicht alle Krisenfolgen abfedern. Aber ich wehre mich gegen das andere Extrem. Wer so tut, als sei die soziale Sicherheit das wirtschaftspolitische Problem des Landes, erzählt Unfug.
Spiegel: In breiten Teilen der Gesellschaft gibt es Unzufriedenheit und Verlustängste. Das ist ein maßgeblicher Grund für das Erstarken der AfD. Wie gehen Sie dagegen an?
Heil: Indem wir keine Untergangsdebatten führen. Wir haben eine weltwirtschaftlich bedingte Konjunkturschwäche und große Aufgaben zu lösen bei der sicheren und bezahlbaren Energieversorgung, bei der Fachkräftesicherung und bei der Digitalisierung. Deutschland braucht ein Update – aber Deutschland ist eben nicht der kranke Mann Europas. Wir sind immer noch eine der stärksten Volkswirtschaften der Welt. Das Untergangsgerede der Konservativen ist interessengeleitet und macht den Menschen Angst.
Spiegel: In diesem Jahr wird in drei ostdeutschen Bundesländern gewählt, die SPD droht dort marginalisiert zu werden. Wie wollen Sie die Trendumkehr schaffen?
Heil: Indem wir uns um die wichtigen Themen kümmern. Gerade in Ostdeutschland müssen die Menschen sich auf die gesetzliche Rente verlassen können. Denn die meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dort haben keine großartige private oder betriebliche Altersvorsorge. Es gibt historisch bedingt im Osten nur wenige industrielle Kerne. Deshalb brauchen wir eine aktive Industriepolitik mit Firmenansiedlungen wie in Brandenburg, Sachsen-Anhalt oder Sachsen. Mit dem Mindestlohn und unserem Einsatz für mehr Tarifbindung sorgen wir gerade im Osten für gerechtere Löhne. Zudem werden wir uns mit der rechtsradikalen AfD hart auseinandersetzen.
Spiegel: Wie soll die aussehen?
Heil: Dass die AfD eine Bedrohung für die Demokratie ist, weiß eine Mehrheit der Bürger. Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass Demonstrationen nicht nur in Hamburg oder Berlin stattgefunden haben, sondern auch in Zwickau, Stralsund oder Frankfurt an der Oder. Es geht darum aufzuzeigen, dass die AfD kein einziges Problem löst, sondern eine Gefahr für den Wirtschaftsstandort ist. Wer vom Ausstieg aus der Europäischen Union faselt, setzt Arbeitsplätze in Deutschland aufs Spiel.
Spiegel: Demonstrationen allein reichen da nicht.
Heil: Aber sie sind ein Zeichen der Ermutigung. Sie zeigen, dass die Mehrheit der Menschen in Deutschland demokratisch denkt. Wir wollen deutlich machen, dass die AfD Probleme verschärft, unsere Gesellschaft spaltet und den arbeitenden Menschen in Deutschland schadet.
Spiegel: Wollen Sie auch die direkte Auseinandersetzung mit AfD-Politikern führen?
Heil: Die führen wir ja im Deutschen Bundestag. Zu glauben, man könne AfD-Politiker, die in vielen Bereichen eingefleischte Rechtsradikale sind, zur Demokratie bekehren, halte ich für einen Irrtum. Das wird nicht gelingen, die haben ein geschlossenes Weltbild. Wir müssen anerkennen, dass sich bestimmte Debatten der Öffentlichkeit, wie wir sie bislang kannten, entzogen haben. Viele Fake News werden über Tiktok getriggert, und damit muss man umgehen. Auch in diesen Medien müssen die Anständigen präsent sein und präsenter werden. Gerade um junge Leute zu erreichen, die nicht mehr so viel den Spiegel lesen oder die "Tagesschau" gucken.