- Datum:
- 29.04.2023
Tagesspiegel: Herr Heil, hat Ihnen ChatGPT schon mal bei der Arbeit geholfen?
Hubertus Heil: Ja, heute zum Beispiel. Ich habe in Vorbereitung auf dieses Interview überlegt, was Fragen sein könnten, die Sie mir stellen und habe dann ChatGPT danach gefragt. Ich habe die Liste dabei. Wir können ja nach dem Interview mal vergleichen.
Tagesspiegel: Fragen stellen, Texte schreiben, Jura-Examen bestehen: Künstliche Intelligenz à la ChatGPT kann mittlerweile sehr viel. Ist das Ausmaß dieser Revolution für die Arbeitswelt schon allen bewusst?
Heil: Das Ausmaß lässt sich noch gar nicht absehen. Klar ist aber: Wir stehen am Anfang einer revolutionären Entwicklung. Wir müssen die Weichen jetzt richtig stellen, damit am Ende die Künstliche Intelligenz den Menschen dient und nicht umgekehrt.
Tagesspiegel: Wie weit hat Künstliche Intelligenz bereits Einzug gehalten in den Arbeitsmarkt?
Heil: In einigen Bereichen ist sie in der Praxis angekommen. Zum Beispiel im Nahverkehr der Bahn, wo sie jetzt schon eingesetzt wird, um Betriebsabläufe und Personaleinsatz besser miteinander zu verzahnen. Das macht die Arbeit für die Beschäftigten besser und erhöht die Sicherheit. Aber es gibt auch Bereiche, in denen Digitalisierung mit Ausbeutung verwechselt wird – wenn zum Beispiel mit Sensoren Gesundheitsdaten von Beschäftigten erfasst und mittels KI ausgewertet werden. Das kann zur Überwachung werden. Deshalb brauchen wir nicht nur einen klaren Rechtsrahmen auf europäischer Ebene, sondern werden auch noch dieses Jahr gemeinsam mit Innenministerin Nancy Faeser ein nationales Beschäftigtendatenschutzgesetz vorlegen.
Tagesspiegel: Ist das, was wir jetzt bei der KI-Revolution erleben werden, gleichzusetzen mit der Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert? Damals veränderten Erfindungen wie die Dampfmaschine die Arbeitswelt komplett.
Heil: Ja, das ist vergleichbar. Damals wurde beispielsweise der mechanische Webstuhl erfunden. Viele hatten große Angst, weil er menschliche Arbeit in Textilfabriken ersetzt hat. Es gab sogenannte Maschinenstürmer, die versucht haben, mit Hacke und Spaten diesen Fortschritt aufzuhalten. Sie haben historisch verloren. Aber es ist damals auch die moderne Arbeiterbewegung mit den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie entstanden, die gesagt hat: Wenn es schon diesen Technologiesprung gibt, müssen wir dafür sorgen, dass das nicht nur ein Fortschritt für wenige wird, sondern ein Fortschritt für viele. Damals sind moderne Arbeitnehmerrechte geschaffen worden.
Tagesspiegel: Was folgt daraus?
Heil: Wir haben die Frage im Blick: Was machen die neuen technischen Möglichkeiten mit der Arbeit? Da gibt es eine sehr, sehr gute Nachricht: Nach allem, was wir wissen und erheben können, wird uns als Gesellschaft auch in Zukunft die Arbeit nicht ausgehen. Aber die anstrengende Nachricht ist: Es wird in vielerlei Hinsicht andere Arbeit sein.
Tagesspiegel: Was heißt das genau für den Arbeitsmarkt?
Heil: Wir haben Bereiche in der Industrie, wo wir KI dringend brauchen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Da kann KI den Menschen im Produktionsprozess helfen, schneller und besser die richtigen Entscheidungen zu treffen. Dann gibt es Bereiche, wo die KI tatsächlich menschliche Arbeit ersetzen wird – und zwar nicht wie in der Vergangenheit bei Menschen, die als "Blue Collar Worker" bezeichnet werden …
Tagesspiegel: … die klassischen Arbeiter …
Heil: … sondern überwiegend bei Menschen, die Schlips und Kragen tragen – etwa im Bereich Handel, Banken und Versicherung. Hier wird es irgendwann tatsächlich um berufliche Neuorientierung gehen. Deswegen setzen wir jetzt schon stark auf Weiterbildung und Qualifizierung. Und es gibt einen Bereich, da wird die Nachfrage nach menschlicher Arbeit nicht weniger werden, sondern sogar dramatisch wachsen: Das ist der Bereich Gesundheit, Bildung, Pflege, also alle sozialen Dienstleistungen. Da kann die KI keine menschliche Arbeit ersetzen, aber sie besser machen. Der Kollege Algorithmus kann zum Beispiel Pflegekräfte von Bürokratie entlasten.
Tagesspiegel: KI vernichtet also unterm Strich keine Arbeitsplätze – würden Sie sich darauf festlegen?
Heil: Ja. Da lege ich mich fest. Es werden einzelne Jobs wegfallen, aber es entstehen auch viele neue. In der Gesamtsumme vernichtet KI keine Arbeitsplätze. Sie bietet aber zur Linderung des Fachkräftemangels ein Riesenpotential, das wir voll ausschöpfen müssen.
Tagesspiegel: Kürzlich forderten Tesla-Chef Elon Musk und zahlreiche KI-Experten sechs Monate Entwicklungspause für KI, um sich erstmal über Regeln klar zu werden. Ist das eine sinnvolle Idee?
Heil: Nein. Ich glaube, es ist umgekehrt: Gerade wir hier in Deutschland und Europa müssen aufpassen, dass wir die Chancen, die wir jetzt haben, auch nutzen. Es geht nicht darum, Tempo rauszunehmen, sondern es geht darum, selbst schnell zu sein. Wir können zum Beispiel auch den Sozialstaat bürgerfreundlicher machen, indem die KI automatisierte Abläufe übernimmt. Mancher Frust über unsere Demokratie und unseren Staat speist sich bei den Menschen gar nicht so sehr aus politischen Entscheidungen, sondern ganz oft aus dem Alltagsleben, dem Kampf mit Ämtern. Da ist KI eine wunderbare Chance.
Tagesspiegel: Das heißt in Zukunft könnte eine KI ausrechnen, wie viel Bürgergeld und andere Leistungen ein Mensch bekommt?
Heil: Die Höhe ergibt sich aus dem Gesetz, aber KI kann die Beantragung schneller und einfacher gestalten und die Arbeitsweise in den Ämtern so ändern, dass sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mehr auf das persönliche Gespräch konzentrieren können.
Tagesspiegel: Der Stand der Digitalisierung in deutschen Behörden ist katastrophal. Ist es da nicht ein bisschen vermessen, vom Einsatz von KI im Jobcenter zu träumen?
Heil: Man kann die Situation bejammern oder man kann sie ändern. Ich tue Letzteres. Wir haben 2017, als ich Arbeitsminister wurde, beispielsweise eine eigene Abteilung, die Denkfabrik Digitale Arbeitswelt, hier im Ministerium eingerichtet, in der wir mithilfe von KI alle Trends im Blick behalten, die für unseren Arbeitsmarkt relevant werden können.
Tagesspiegel: Wie lange wird es noch Jobs geben, die gar nichts mit KI zu tun haben?
Heil: Meine Expertinnen und Experten hier im Haus prognostizieren: Bis 2035 gibt es keinen Job mehr, der nichts mit KI zu tun hat. Das gilt auch für Tätigkeiten, von denen man das jetzt noch nicht glaubt. Das kann zum Beispiel im Handwerk heißen, dass Tätigkeiten von KI unterstützt werden und von Plattformen vermittelt werden. Oder dass die Routen des Müllwerkers von KI geplant werden. Es wird kein Berufsbild mehr geben, das völlig losgelöst von dieser Technologie ist. Gleichzeitig ist es so, dass bislang nur rund zehn Prozent aller Unternehmen KI nutzen. Das zeigt, wie groß die anstehende Veränderung ist.
Tagesspiegel: Ist es für Sie nachvollziehbar, dass solche Prognosen vielen Beschäftigten Angst machen?
Heil: Ich bin in Peine aufgewachsen, einer Kleinstadt zwischen Braunschweig und Hannover. Da gab es einst 10.000 Beschäftigte in einem Stahlwerk, heute sind es noch 800. Später habe ich in Brandenburg gelebt. Da war nach der Wende in vielen Regionen von jetzt auf gleich die Industrie weg. Wir müssen aus diesen Erfahrungen von Strukturwandel und Strukturbrüchen lernen. Künstliche Intelligenz wird den Arbeitsmarkt rasant verändern. Wir können uns keine gesellschaftliche Polarisierung erlauben, und deshalb ist es wichtig, dass der Sozialstaat den Menschen Sicherheit gibt.
Tagesspiegel: Was muss passieren, damit alle mitgenommen werden?
Heil: Deutschland muss eine Weiterbildungsrepublik werden. Wir haben zum Beispiel bereits heute eine umfassende Weiterbildungsförderung Beschäftigter im Strukturwandel, gerade auch für kleine und mittelständische Unternehmen, die noch mehr in Weiterbildung investieren müssen. Und mit dem Weiterbildungsgesetz, dass wir gestern im Bundestag beraten haben, öffnen wir diese Weiterbildungsförderung für alle Betriebe und gestalten sie noch attraktiver aus. Zudem übernehmen wir zukünftig durch ein Qualifizierungsgeld den Lohn in Höhe des Arbeitslosengeldes in der Zeit, in der die Beschäftigten weitergebildet werden. Das Qualifizierungsgeld gilt für Betriebe, die schon jetzt heftiger von Transformation betroffen sind und maßgeschneiderte Qualifizierungsangebote für ihren Betrieb brauchen. Das betrifft etwa Firmen in der Automobilindustrie, die sich auf autonomes Fahren oder auf Elektromobilität einstellen oder etwa auch eine Glasherstellungsfirma, die transformationsbedingt in die Halbleiterproduktion einsteigt. In Fällen, in denen durch Produktivitätsfortschritte oder Dekarbonisierung tatsächlich Menschen entlassen werden, helfen wir bei der Neuorientierung durch unsere bewährten Arbeitsmarktinstrumente. Ich will, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von heute auch die Arbeit von morgen machen können.
Tagesspiegel: Trotzdem stellt sich die Frage: Ist Politik in der Lage, mit dieser rasanten Entwicklung Schritt zu halten? Gerade im Bereich Regulierung. Die EU arbeitet zwar an einem "AI-Act" – also einem Rechtsrahmen für Künstliche Intelligenz – aber bislang ist zwischen Europäischem Rat, Parlament und Kommission noch nicht einmal die Definition von KI geklärt. Bis der AI-Act fertig ist, könnten noch Jahre vergehen.
Heil: Mir ist wichtig, dass wir einen klaren Rahmen schaffen, um Beschäftigte vor negativen Auswirkungen zu schützen. Dafür setze ich mich auf europäischer Ebene ein. Und wir haben uns im Europäischen Rat auf eine Definition geeinigt, die die Bundesregierung teilt. Demnach gilt nicht einfach jede Software als KI, sondern nur Systeme, die eine bestimmte Autonomie haben und zum Lernen in der Lage sind. Es ist ja nicht so, dass wir hier – um eine frühere Bundeskanzlerin zu zitieren – vollständig Neuland betreten, aber wir navigieren natürlich durch ein paar noch unkartierte Gewässer. Aber wir haben dabei einen klaren Kompass, nämlich dass KI den Menschen dient und nicht umgekehrt.
Tagesspiegel: Erst einmal könnte der KI-Vorreiter ChatGPT in Deutschland verboten werden, weil er gegen Datenschutzregeln verstößt. Finden Sie das richtig?
Heil: Ich halte Verbote für den falschen Weg. Ich plädiere aber sehr stark für Transparenz. Die Menschen müssen wissen, mit welchen Daten diese lernenden KI-Systeme trainiert werden. Das beugt nicht nur Verschwörungstheorien vor, sondern verhindert auch, dass die Systeme ungewünschte Ergebnisse hervorbringen.
Tagesspiegel: Geben Sie uns ein Beispiel?
Heil: Wir erleben zu jetzt schon zunehmend, dass bei der Personalauswahl Künstliche Intelligenz zum Einsatz kommt, um den oder die Beste zu finden. Doch wenn die Systeme mit falschen Daten gefüttert werden, wird es problematisch. Nehmen Sie die Praxis der Staatssekretäre seit 1949. Da gab es mehr mit dem Namen Hans als es Frauen gab. Wenn man jetzt eine Personaler-KI mit diesen Daten trainiert, dann lernt das System, dass Menschen mit dem Namen Hans besonders qualifiziert sind. Das ist natürlich Quatsch. Aber deshalb muss man wissen, mit welchen Daten ein System trainiert wurde. Dann kann man einschätzen, wie gut die Ergebnisse sind. Das gilt auch für ChatGPT.
Tagesspiegel: Zum Abschluss die Frage: Was ist Ihre Lieblingsfrage aus der Liste, die ChatGPT vorgeschlagen hat?
Heil: Seien Sie beruhigt, da war nichts dabei, das dieses Gespräch spannender gemacht hätte.