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"Der Sozialstaat muss, wo immer es geht, ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen"

Interview von Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Soziales, mit der Tageszeitung

Datum:
10.09.2022

Tageszeitung: Herr Heil, das Bürgergeld soll bei 500 Euro liegen – 50 Euro höher als jetzt. Wie hoch genau?

Hubertus Heil: Das werden wir in den nächsten Tagen klären. Aber es wird diese Dimension haben. Damit wird es der größte Sprung sein, seitdem es die Grundsicherung gibt.

TAZ: 50 Euro gleicht nur die Inflation aus. Wenn Bürgergeld mehr als ein schöner Name sein soll – muss es dann nicht höher liegen?

Heil: Wir verändern den Anpassungsmechanismus dauerhaft. Das Bürgergeld wird der Inflation nicht mehr hinterherhinken, sondern vorab angepasst. Ab 2023 werden die Regelsätze damit die aktuellen Preissteigerungen abbilden. Und wir machen mit dem Bürgergeld eine umfassende Sozialreform. Wir nehmen den Menschen die Angst vor dem Verlust des Wohnraums, indem wir bei der Nutzung des Wohneigentums großzügiger werden. Zudem wird, wer Bürgergeld bekommt, mehr von seinem Ersparten behalten können. Damit respektieren wir die Lebensleistung.

TAZ: Die Sozialverbände kritisieren trotzdem, dass 500 Euro zu wenig sind. Und Sie sagen, das reicht?

Heil: Der Regelsatz im Bürgergeld deckt mit etwa 500 Euro das Existenzminimum ab. Hinzu kommen Wohnund Heizkosten. Aber das Bürgergeld ist zusätzlich besser und großzügiger als das alte Hartz-IV-System. Wir schaffen starke finanzielle Anreize für Weiterbildung und das Nachholen eines Berufsabschlusses. Es gibt Weiterbildungsprämien bis zu 150 Euro pro Monat. Dieser Anreiz ist wichtig, weil zwei Drittel der Langzeitarbeitslosen keine abgeschlossene Berufsausbildung haben und nur durch Qualifizierung der Weg aus der Bedürftigkeit in Arbeit eröffnet werden kann. Wir zahlen außerdem seit dem Sommer einen Kindersofortzuschlag von 20 Euro pro Kind, um bedürftige Familien zu entlasten, und wir haben Einmalzahlungen durchgesetzt. Hinzu wird die Kindergrundsicherung kommen. Aber die Qualität des Sozialstaats bemisst sich nicht allein an der Höhe des sozialen Transfers. Der Sozialstaat muss, wo immer es geht, ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Mein Ziel ist es nicht, Bedürftigkeit zu verwalten, sondern, wo immer es geht, Wege aus dem System zu eröffnen.

TAZ: Die Sozialverbände fordern, die Bemessungsgrundlage des Regelsatzes zu erweitern …

Heil: Es ist kein Geheimnis, dass ich mir das hätte vorstellen können. Aber wichtig bleibt, das wir einen Weg für eine deutliche Regelsatzerhöhung gefunden haben. Das hilft Menschen konkret.

TAZ: Warum werden die Stromkosten, wie jetzt schon die Heizkosten, nicht automatisch übernommen?

Heil: Bei den Stromkosten hätte das bedeutet, diese Summe künftig vom Regelsatz abzuziehen. Der wäre somit gekürzt worden. Das fand ich keine gute Idee. Durch den neuen Anpassungsmechanismus werden aber auch steigende Strompreise berücksichtigt.

TAZ: Viele Frauen beziehen Grundsicherung. Warum heißt das Bürgergeld nicht Bürger:innengeld?

Heil: Man kann es auch Bürger:innengeld nennen. Das ist nicht entscheidend.

TAZ: Auch wenn es nicht entscheidend ist, könnten Sie es doch offiziell so nennen, oder?

Heil: Meine Priorität ist, dass wir Hartz IV überwinden und zum 1. Januar 2023 für eine grundlegende Veränderung sorgen. Der Sozialstaat wird damit für alle Bürgerinnen und Bürger fairer und unbürokratischer. Ich hätte auch nichts gegen eine geschlechtergerechtere Sprache in Gesetzen. Juristinnen und Juristen weisen aber darauf hin, dass wir derzeit an das sogenannte Handbuch der Rechtsförmlichkeit für die Benennung von Gesetzen gebunden sind. Konkret beim Bürgergeld heißt das: Sparschreibungen wie großes I oder Genderstern entsprechen derzeit nicht den Anforderungen an die Rechtsförmlichkeit. Das kann man doof finden und vielleicht auch eines Tages ändern.

TAZ: CSU-Mann Markus Söder kritisiert, dass wer nicht arbeiten wolle, gar "nicht mehr gefragt werde, ob er arbeiten kann". Was antworten Sie Herrn Söder?

Heil: Das ist falsch. Ich glaube auch, dass er den Gesetzentwurf gar nicht kennt und auch wenig Ahnung von der Lebensrealität von Menschen in der Grundsicherung hat. Das ist der Versuch, mit dumpfen Gefühlen Bedürftige gegen Geringverdiener auszuspielen und an niedere Instinkte zu appellieren. Gerade in Zeiten von Putins Angriffskrieg müssen wir unsere Gesellschaft insgesamt zusammenhalten und nicht mit solchen Sprüchen spalten.

TAZ: Dieses Jahr werden Arbeitskräfte gesucht, es gibt genug Jobs. Nimmt damit der Druck auf Bürgergeldempfänger zu – siehe Söder?

Heil: Das Bürgergeld eröffnet vor allen Dingen neue Chancen, um Langzeitarbeitslose dauerhaft in Arbeit zu bringen. Das Hartz-IV-System führt dazu, Menschen ohne Berufsabschluss in Hilfsjobs zu bringen, und das Jobcenter sieht viele davon nach kurzer Zeit wieder. Mit dem Bürgergeld entfällt diese Regelung, sodass Menschen die Möglichkeit haben, durch Qualifizierung dauerhaft aus der Bedürftigkeit zu kommen. Das leistet auch einen Beitrag gegen den Fachkräftemangel.

Das Bürgergeld bedeutet mehr Sicherheit, mehr Respekt und mehr Freiheit für ein selbstbestimmtes Leben. Es ist zum 1. Januar 2023 in Kraft getreten und hebt die Grundsicherung für Arbeitsuchende auf die Höhe der Zeit.

TAZ: Das Entlastungspaket enthält sehr viele Einzelmaßnahmen. Wieso keine große Maßnahme – etwa 100 Euro im Monat für alle, bis zu einer bestimmten Einkommensgrenze?

Heil: Wir helfen Bedürftigen und entlasten gezielt auch die Beschäftigten mit normalen und kleinen Einkommen. Das reformierte Wohngeld wird 2 Millionen Menschen helfen, 3-mal so vielen wir bisher. Der Mindestlohn von 12 Euro, der am 1. Oktober kommt, ist eine Lohnerhöhung von 22 Prozent

TAZ: … die zum Teil von der Inflation aufgefressen wird. Und die Inflation trifft Niedrigverdiener viel härter als Besserverdiener.

Heil: Deshalb entlasten wir zusätzlich zum Mindestlohn von 12 Euro alle, die weniger als 2.000 Euro verdienen, bei Sozialversicherungsbeiträgen, ohne dass sie sozialen Schutz verlieren. Wir erhöhen das Kindergeld und den Kinderzuschlag und zahlen eine Energiepauschale von 300 Euro nicht nur an Arbeitnehmer und Selbstständige, sondern auch an Rentner, Fachschüler und Studierende. Und wir schaffen die Möglichkeit für steuer- und sozialversicherungsfreie Einmalzahlungen von bis zu 3.000 Euro von Unternehmen an Beschäftigte.

TAZ: Eine Rezession steht bevor. Um die zu mildern, braucht es kräftige, klare, kurzfristige Maßnahmen. Jetzt müssen die Leute erst mal Tabellen studieren, um zu verstehen, was sich ändert.

Heil: Das Signal ist klar: Wir bringen unser Land wirtschaftlich und sozial durch schwierige Zeiten. Neben den Entlastungspaketen von insgesamt fast 100 Milliarden Euro ergreifen wir auch wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Maßnahmen. Robert Habeck hat einen Schutzschirm für mittelständische Unternehmen angekündigt. Und ich sorge dafür, dass sich Beschäftigte und Unternehmen in diesen unsicheren Zeiten weiter auf das bewährte System der Kurzarbeit verlassen können.

TAZ: Rentner bekommen einmalig 300 Euro. Warum nicht nur Ärmere, die das Geld wirklich brauchen?

Heil: Das administrativ auszudifferenzieren hätte gedauert. Wir wollten aber schnell helfen. Und es gibt ja eine Verteilungskomponente. Wohlhabendere müssen auf diese 300 Euro Steuern zahlen. Ärmere nicht.

TAZ: Wie tief ist diese Krise?

Heil: Ich habe einige Krisen in meinem politischen Leben erlebt. Diese Krise ist größer und länger. Die gesellschaftliche Gesamtstimmung ist angespannt, viele Menschen haben existenzielle Sorgen. Das sind verdammt harte Zeiten.

TAZ: Sie wollen ein neues Einwanderungsgesetz mit einer Chancenkarte für Arbeitsmigration schaffen. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Ein Handwerker aus dem Libanon lebt in Deutschland und will seinen Cousin aus Beirut holen. Der kann kein Deutsch, arbeitet als Tischler und hat eine im Libanon anerkannte Ausbildung. Kann der künftig kommen?

Heil: Wir haben vier Kriterien entwickelt, von denen drei erfüllt sein müssen. Er muss eine im Ausland anerkannte Ausbildung haben, Berufserfahrung, Deutsch können und jünger als 35 Jahre sein. Wenn dieser Cousin drei davon erfüllt, kann er in Deutschland arbeiten. Aber der alleinige Fokus auf Einwanderung ist falsch.

TAZ: Warum?

Heil: Weil wir Fachkräftesicherung auch im Inland brauchen. Die Erwerbsbeteiligung von Frauen muss höher werden. Wir ergreifen zusätzliche Maßnahmen bei Aus- und Weiterbildung. Wenn wir all diese Register im Inland gezogen haben, brauchen wir trotzdem ergänzend qualifizierte Zuwanderung.

TAZ: Inland first, Migration second?

Heil: Nein, wir brauchen beides gleichzeitig. Wir werden eines der modernsten Einwanderungsgesetze der Welt schaffen, unbürokratisch und mit schneller Berufsanerkennung. Aber auch das wird nur funktionieren, wenn zügig genug Visa erteilt werden. Wir brauchen eine andere Haltung zur Einwanderung. Wir müssen sie wollen, nicht nur hinnehmen. Ich bestehe bei Arbeitsmigration allerdings auf einer Bedingung: Zuwanderung darf nicht zu Lohndrückerei führen. Das würde die Akzeptanz zerstören für die notwendige qualifizierte Zuwanderung in Deutschland. Und das werden wir nicht zulassen.