- Datum:
- 25.08.2022
Landeszeitung Lüneburg: Ist die von Kabinettskollegin Baerbock beschworene Gefahr sozialer Unruhen real, wenn Rentner im anstehenden Winter frieren?
Hubertus Heil: Wir werden das Notwendige tun, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland zu bewahren. Dazu gehören die Maßnahmen zur Sicherung der Energieversorgung und weitere Entlastungsmaßnahmen auch für Rentnerinnen und Rentner. Unsere Aufgabe als Bundesregierung ist es nicht, Lagen zu beschreiben, sondern Probleme zu lösen. Die Herausforderungen sind vielfältig: Wir müssen durch diese Krise wirtschaftlich stabil kommen. Es gibt genug Unternehmen mit großen Sorgen, ich nenne mal beispielhaft den Handel und das Bäckerhandwerk. Zum zweiten müssen wir die Arbeitsplätze sichern. Das ist uns in der Coronapandemie gut gelungen. Vor allem mit dem Kurzarbeitergeld konnten wir einen Tsunami am Arbeitsmarkt verhindern und ihn sehr stabil halten. Sollte sich die Lage zuspitzen, werde ich keine Sekunde zögern, diese Regeln wieder in Kraft zu setzen. Und drittens müssen wir die sozialen Härten gezielt für die Menschen mit mittleren und niedrigen Einkommen abfedern. Dazu kommt ein drittes Entlastungspaket, in dem Rentner dabei sein müssen.
Landeszeitung Lüneburg: Alle Härten abzufedern, dürfte unmöglich sein. Kann es gerade für die SPD nur darum gehen, die Härten zumindest gerecht zu verteilen?
Heil: Es geht vor allem darum, dass die Menschen, die sich nicht selbst helfen können, weil sie keine Reserven haben, über die Runden kommen. Das betrifft Normal- und Geringverdiener, Studenten, Auszubildende, Rentner und Rentnerinnen, aber auch manche Soloselbstständige. Der Staat wäre überfordert, wenn er versuchen würde, für alle alles abzufedern. Aber er ist in der Verantwortung, die Gesellschaft sozial zusammenzuhalten. Ein Beispiel: Für Gutverdienende wie mich ist es ärgerlich, wenn Butter dauerhaft über drei Euro kostet – aber eben auch nur ärgerlich. Aber für diejenigen, die bei diesen Preisen von der nächsten Gasrechnung aus der Kurve getragen werden, müssen wir etwas tun. Und das werden wir auch. Das hat der Bundeskanzler deutlich gemacht.
Landeszeitung Lüneburg: Wer kann neben den Rentnern noch auf das dritte Entlastungspaket hoffen? Die Union fordert Subventionen für energieintensive Unternehmen. Was ist mit Häuslebauern in Nöten? Wo wollen Sie die Grenzen ziehen?
Heil: Mit den ersten Entlastungspaketen in Höhe von 30 Milliarden Euro haben wir erste Härten abgefedert. Da waren befristete Maßnahmen dabei, aber auch solche, die dauerhaft alle entlasten, etwa die Anhebung des Grundfreibetrages oder die Abschaffung der EEG-Umlage auf den Strompreis. Aber die Krise ist von Dauer. Deshalb dürfen wir nicht ständig in der Öffentlichkeit über Einzelmaßnahmen spekulieren, was derzeit zu viele tun. Vielmehr werden wir in den nächsten Tagen konkrete Hilfen regierungsintern festzurren und dafür sorgen, dass sie sozial ausgewogen und finanzierbar sind und dass sie schnell ankommen.
Wir werden Instrumente finden müssen für die Unternehmen, die durch die hohen Energiepreise in existenzielle Nöte kommen, wie etwa Bäcker. Werden Unternehmen kurzfristig erschüttert, gibt es das arbeitsmarktpolitische Instrument der Kurzarbeit. Zudem brauchen wir gezielte Entlastungsinstrumente mit dem Fokus auf mittlere und kleine Einkommen. Dahinter steht eine politische Idee: Die äußere Sicherheit wird durch Putins Krieg bedroht. Aber äußere Sicherheit und sozialer Zusammenhalt im Innern sind die beiden Seiten einer Medaille. Wir dürfen weder zulassen, dass Putin seinen Angriffskrieg unbeantwortet fortsetzen kann, noch, dass er unsere Gesellschaft spaltet.
Landeszeitung Lüneburg: Ist das allgemeine Linie der Ampel? Die FDP schien sich zuletzt eher als Interessenvertreter der Besserverdienenden zu sehen.
Heil: Wir alle in der Koalition haben eine Gesamtverantwortung. Und für uns als SPD ist die Leitlinie, dass wir nicht nur einzelne Interessengruppen in den Blick nehmen, sondern die gesamte Gesellschaft zusammenhalten müssen. Und das heißt jetzt, den Menschen zu helfen, die es am nötigsten haben, also denen mit normalen und unteren Einkommen.
Landeszeitung Lüneburg: Wie soll die Entlastung finanziert werden? Fällt das Dienstwagenprivileg oder kommt die Vermögenssteuer zurück?
Heil: Wir werden eine vernünftige, faire Finanzierung in der Koalition schmieden müssen. Vorab werde ich darüber nicht spekulieren, sondern lediglich darauf hinweisen, dass es in der Inflation – verrückterweise – auch einige Mehreinnahmen des Staates gibt, etwa über die Mehrwertsteuer. Ich habe konkrete Konzepte, die ich ins Kanzleramt liefere, halte es aber für kontraproduktiv, wenn die schon vorhandene Verunsicherung durch die Veröffentlichung von Teilideen noch geschürt wird. Jetzt müssen die Ideen der Liberalen und der Grünen neben unsere gelegt werden, um daraus einen umfassenden Plan zu gestalten. Wichtig ist dann allerdings auch, nochmals deutlich zu machen, dass in Deutschland ein größerer gesellschaftlicher Kraftakt notwendig ist. Der Staat kann nicht alles leisten. Mit der Konzertierten Aktion wollen wir dafür sorgen, dass Staat, Wirtschaft und Gewerkschaften im Rahmen ihrer Möglichkeiten so zusammenarbeiten, dass wir Deutschland sicher durch die Krise bringen.
Zum Glück haben wir bereits vor der Krise einige Entscheidungen getroffen, die nun helfen – auch in meinem Verantwortungsbereich. So steigt der Mindestlohn ab dem 1. Oktober auf zwölf Euro pro Stunde, also um 22 Prozent und damit deutlich über der Inflationsrate. Das hilft vielen fleißigen Menschen, die seit Jahren nicht viel haben, in dieser Situation besser über die Runden zu kommen.
Mit der Einführung des Bürgergeldes werden wir darüber hinaus dafür sorgen, dass die Menschen, die kaum Rücklagen haben, eine angemessene Erhöhung bekommen. Verhindern müssen wir, dass gesellschaftliche Gruppen gegeneinander ausgespielt werden. Menschen mit meinem Einkommen brauchen keine Entlastung. Das ist auch eine Frage der Solidarität.
Landeszeitung Lüneburg: Wird Ihr neues Bürgergeld wesentlicher Bestandteil des dritten Entlastungspakets?
Heil: Das Bürgergeld ist eine sehr umfassende Reform. Da geht es um mehr, beispielsweise, dass wir zum 1. Januar das Hartz-IV-System überwinden werden. Ziel ist es, Menschen schneller in Arbeit zu bringen. Als Hartz IV vor zwanzig Jahren eingeführt wurde, hatten wir fünf Millionen Arbeitslose. Heute haben wir einen flächendeckenden Fachkräftemangel. Zwei Drittel der Langzeitarbeitslosen von heute haben keine abgeschlossene Berufsausbildung. Hier macht es keinen Sinn, alle nur in Hilfstätigkeiten zu vermitteln, weil sie das Jobcenter dann bald wiedersieht. Hier macht nur Sinn, sie so zu qualifizieren, dass sie sich dauerhaft im Arbeitsmarkt etablieren können. Dazu geht es beim Bürgergeld um Entbürokratisierung. Bürger, die in Not sind, müssen merken, dass ihnen der Sozialstaat zügig hilft. Außerdem geht es um eine angemessene Erhöhung der Regelsätze, die gerade in der Koalition diskutiert wird.
Landeszeitung Lüneburg: Ihr Bürgergeld soll eines der Wahlversprechen von Scholz einlösen – Respekt, in diesem Fall gegenüber Leistungsempfängern. Inwieweit war Hartz IV respektlos gegenüber Betroffenen?
Heil: Mir geht es nicht um Vergangenheitsbewältigung, sondern um die Frage, was heute notwendig ist, um einen Sozialstaat auf der Höhe der Zeit zu haben. Eine Frage des Respekts ist es, dass Menschen, die sich nicht selbst helfen können, angemessen unterstützt und fair behandelt werden. Das Bürgergeld wird aber vor allem dafür sorgen, dass wir mehr Menschen schneller in Arbeit bringen. Denn Arbeit ist für die meisten Menschen mehr als Broterwerb. Seit Jahren ist man Monat für Monat verblüfft, wie robust sich der Arbeitsmarkt zeigt.
Landeszeitung Lüneburg: Welche Entwicklung erwarten Sie? Steigende Arbeitslosigkeit in der Rezession oder geprägt durch den Fachkräftemangel?
Heil: Wir haben in den vergangenen zwei Jahren eine ganze Menge dafür getan, dass der Arbeitsmarkt stabil blieb. Die Coronakrise war ja nicht nur die schwerste Gesundheitskrise unserer Generation, sondern auch die tiefste Wirtschaftskrise. Wir haben mit dem Kurzarbeitergeld Brücken gebaut, damit Unternehmen ihre Fachkräfte an Bord halten und anschließend wieder durchstarten konnten. Das hat zugleich die Nachfrage stabil gehalten. Das war verdammt teuer, kostete etwa 42 Milliarden Euro. Aber das war gut investiertes Geld. Denn die Alternative, die Rückkehr von Massenarbeitslosigkeit zuzulassen, wäre viel teurer geworden.
Die Entwicklung der nächsten Jahre wirkt widersprüchlich. Für viele Unternehmen bleibt der Fachkräftemangel existenziell. Auf der anderen Seite müssen wir verhindern, dass sich der Arbeitsmarkt spaltet, dass Menschen mit der Entwicklung nicht mehr mitkommen. Dafür gilt es, Brücken zu bauen: über Aus- und Weiterbildung, über höhere Frauenerwerbsbeteiligung und ergänzend auch qualifizierte Zuwanderung, die wir angesichts des Altersaufbaus auf dem Arbeitsmarkt brauchen. Das gehen wir im Herbst mit Gewerkschaften und Arbeitgebern an. Eine nationale Weiterbildungsstrategie soll dafür sorgen, dass Deutschland eine Weiterbildungsrepublik wird. Zudem werde ich mit Bundesinnenministerin Nancy Faeser ein modernes Einwanderungsrecht vorstellen, mit dem wir qualifizierte Zuwanderer nach Deutschland holen können.