- Datum:
- 22.06.2021
Berliner Morgenpost: Eine Expertenkommission des Wirtschaftsministeriums schlägt Alarm: Nur, wenn länger gearbeitet wird, ist das Rentensystem noch zu finanzierbar. Wann werden Jüngere bis 68 arbeiten müssen?
Hubertus Heil: Das ist der falsche Weg und mit mir wird es das auch nicht geben. Ein Bauarbeiter, der mit 16 in die Ausbildung kommt, müsste ein halbes Jahrhundert plus zwei Jahre arbeiten, bis er in Rente gehen darf. Das geht in vielen Berufen nicht. Die Lebensarbeitszeit ist bereits verlängert worden. Wir haben eines der höchsten Renteneintrittsalter in Europa. Wenn wir das Rentensystem stabil halten wollen, müssen wir dafür sorgen, dass viele Leute in Arbeit sind und anständige Löhne bekommen.
Berliner Morgenpost: Wir leben zwar immer länger, aber wir arbeiten nicht länger?
Heil: Eine starre allgemeine Erhöhung des Rentenalters ist lebensfremd und ungerecht. Einige Unternehmen setzen ja teilweise sogar auf großzügigere Vorruhestandsregeln, damit Firmen älteres Personal abbauen können. Ich bin für flexible Übergänge in den Ruhestand, etwa nach 45 Versicherungsjahren ohne Abschläge. Das wichtigste ist dafür zu sorgen, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in ihrem Erwerbsleben gesund bleiben und durch Weiterbildung auch nicht den Anschluss verlieren.
Berliner Morgenpost: Funktioniert dann noch die Grundregel, dass die Jüngeren für die Älteren zahlen müssen?
Heil: Ja, so funktioniert das Umlagesystem, und es ist viel stabiler, als oft behauptet wird. Richtig ist, dass zwischen 2025 und 2040 geburtenstarke Jahrgänge in Rente kommen. Aber wir können die Rente stabil halten, wenn möglichst viele Menschen im erwerbsfähigen Alter in Arbeit sind und es eine anständige Lohnentwicklung gibt. Das heißt die Sicherheit der Rente entscheidet sich maßgeblich am Arbeitsmarkt. So können wir Sicherheit im Alter für alle Generationen organisieren. Dagegen geht eine weitere Erhöhung des Rentenalters klar zu Lasten der Jüngeren. Sie betrifft ja nicht die Rentnerinnen und Rentner von heute. Wer sagt, ein höheres Rentenalter befreie die Jungen von finanziellen Lasten, der verschweigt, dass die Jungen dadurch noch länger arbeiten müssen.
Berliner Morgenpost: Viele Junge haben Angst, dass für sie in Zukunft die Rente grundsätzlich nicht reicht. Wie nehmen Sie diese Sorge?
Heil: Mit einer Politik, die es schafft, dass die gesetzliche Rente die tragende Säule der Alterssicherung bleibt. Ich habe nichts gegen betriebliche oder private Formen der Altersvorsorge. Aber das kann nur eine Ergänzung sein. Und die Jungen brauchen gut bezahlte Arbeit. Denn Altersarmut ist oft die Folge von zu niedrigen Löhnen im Arbeitsleben. Mein Ziel ist es auch, das Rentenniveau weiter stabil zu halten, damit die Renten nicht von den Löhnen abgekoppelt werden. Und wir haben jetzt die Grundrente, die dafür sorgt, dass man nach einem Arbeitsleben im Alter mehr bekommt als die Grundsicherung.
Berliner Morgenpost: Ihre Partei will, dass für die Stabilisierung des Systems auch Selbstständige und Beamte in die gesetzliche Rente einzahlen sollen. Wann soll das kommen?
Heil: Eine Lehre aus der Pandemie ist, dass wir vor allem Soloselbstständige besser absichern müssen, nicht nur bei der Rente. Das gilt etwa auch, wenn sie plötzlich den Job verlieren. Wir brauche eine Art Sicherungsgeld für Soloselbstständige, das über die Bundesagentur für Arbeit organisiert wird, ähnlich wie das Arbeitslosengeld. Auch bei der Altersabsicherung muss sich etwas ändern. Das ist ein Vorhaben für die nächste Legislatur.
Berliner Morgenpost: Was sagen Sie einem Unternehmer, der sich fürs Alter lieber mit Aktien absichert als über Beiträge zur gesetzlichen Rente?
Heil: Es gibt auch andere Formen der verlässlichen Altersvorsorge für Selbstständige. Das steht außer Frage. Wir können aber nicht zulassen, dass Selbstständige im Alter nicht hinreichend abgesichert sind und später auf staatliche Grundsicherung angewiesen sind.
Berliner Morgenpost: Ab wann sollen auch Beamte in die gesetzliche Rente einzahlen? Das bedeutet ja, das Pensionssystem abzuschaffen.
Heil: Generell finde ich es richtig, darüber nachzudenken, im Laufe der Zeit alle in einer Erwerbstätigenversicherung zu vereinen. Wenn das beschlossen werden sollte, wird es aber in sehr langen Übergangsfristen ablaufen.
Berliner Morgenpost: Viele Rentner fühlen sich benachteiligt gegenüber Pensionären …
Heil: Ich will keine Neiddebatte. Es geht nicht darum, die einen gegen die anderen auszuspielen, sondern dass wir langfristig ein System schaffen, das für alle gerecht ist.
Berliner Morgenpost: Bei Corona gehen die Inzidenzen zwar zurück, aber es droht die Verbreitung der aggressiveren Delta-Variante. Wie müssen Arbeitnehmer davor geschützt werden?
Heil: Die sinkenden Inzidenzen sind erfreulich. Daran haben auch die Arbeitsschutzregelungen der letzten Monate einen Anteil. Aber wir müssen wachsam sein. Deswegen werden wir nächste Woche im Kabinett einige der Regeln über den Sommer hinaus verlängern. Arbeitgeber müssen ihren Mitarbeitern also weiterhin Tests anbieten, auch Abstandsregeln und Maskenpflicht bleiben vielfach in Kraft. Aber es gibt Lockerungen etwa bei den Quadratmeterbegrenzungen.
Berliner Morgenpost: Und die Homeoffice-Pflicht?
Heil: Sie gehört nicht dazu und läuft zum 30. Juni aus. Die Pflicht, Homeoffice anzubieten oder zu nutzen, ist im Sommer in dieser Schärfe nicht mehr aufrecht zu erhalten. Viele Beschäftigte haben auch Lust, ihre Kollegen endlich mal wiederzusehen. Sollte sich wider Erwarten die Pandemie aber wieder verschlimmern, können wir kurzfristig wieder solche Regeln in Kraft setzen.
Berliner Morgenpost: Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beklagen eine Zweiklassengesellschaft zwischen denen, die sicher zu Hause arbeiten dürfen und den anderen, die an den Arbeitsplatz müssen.
Heil: Ja, diese Klagen habe ich gehört. Aber es gibt Berufe, in denen geht kein Homeoffice. Ob im Stahlwerk, an der Supermarktkasse oder in der Lagerlogistik. Deshalb haben wir von Beginn an den Corona-Arbeitsschutz immer wieder angepasst, um dort die Menschen zu schützen. Auf der anderen Seite ist die Pandemie ein ungeplanter Großversuch, bei dem herausgekommen ist, dass Homeoffice in sehr vielen Berufen möglich ist. In Spitzenzeiten haben bis zu 48 Prozent der Beschäftigten zumindest zeitweise zuhause gearbeitet. Das läuft nicht immer gut, vor allem nicht, weil Homeoffice und Homeschooling nicht zusammen gehen. Und das soll nicht der Normalfall werden. Aber ich bin dafür, dass wir aus dieser Corona-Zeit Erfahrungen auch für Zeiten ohne Pandemie umsetzen.
Berliner Morgenpost: Welche wären das?
Heil: Viele Menschen wollen zumindest ein paar Tage im Monat die Möglichkeit nutzen, im Homeoffice zu arbeiten. Dafür will ich den Beschäftigten, bei denen das betrieblich möglich ist, rechtlich den Rücken stärken. Es geht mir nicht um Zwang, sondern um Freiwilligkeit. Gleichzeitig darf das nicht zur Entgrenzung der Arbeit im Privatleben führen. Auch im Homeoffice muss mal Feierabend sein.
Berliner Morgenpost: Verstehen Sie Chefs, die sagen: Ich will bestimmen, wo die Leute arbeiten, die ich bezahle?
Heil: Natürlich hat ein Chef das Recht, seinen Betrieb zu organisieren. Aber den Mitarbeitern aus Prinzip oder willkürlich ein oder zwei Tage Homeoffice zu verweigern, obwohl es technisch möglich wäre, ist für mich eine altmodische Haltung. Arbeit muss zum Leben passen. In der Pandemie wurde hoffentlich auch beim letzten das Gerücht widerlegt, dass im Homeoffice alle faul auf dem Sofa liegen.