- Datum:
- 10.05.2021
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS): Herr Heil, Kinder müssen sich in der Schule testen lassen, Beschäftigte im Job nicht. Werden die Arbeiter in der Pandemie zu sehr geschont?
Hubertus Heil: Ich habe hart dafür gekämpft, dass es scharfe Regeln für den Arbeitsschutz gibt. Auch die Arbeitswelt leistet ihren Beitrag, um die Infektionszahlen zu senken. Dazu gehören Homeoffice, wo immer es geht, Abstand, Masken und eine Pflicht zum Testangebot. Die meisten Unternehmen halten sich an Recht und Gesetz, aber in einigen Bereichen muss konsequenter kontrolliert werden. Trotzdem gilt: Schüler müssen sich testen lassen, Arbeitern muss nur ein Test angeboten werden.
FAS: Was rechtfertigt den Unterschied?
Heil: Dass zum Beispiel in Kitas und Grundschulen Abstände nicht eingehalten werden können. Und dass es für diejenigen, die sich nicht testen lassen, mit dem Distanzunterricht eine Alternative gibt. Bei den Beschäftigten ist das nicht so klar zu regeln, es gibt da auch zu viele offene Fragen. Wie ist das zum Beispiel mit der Lohnfortzahlung für Testverweigerer? Ziel unserer Arbeitsschutzmaßnahmen war es, die Beschäftigten vor einer Ansteckung zu schützen und zugleich die Wirtschaft am Laufen zu halten.
FAS: Wenn ich aufs Land will, darf ich mich nicht in eine einsame Ferienwohnung einmieten, ich muss mit zwanzig anderen Leuten in einem Coworking-Space übernachten. Alles, wo Arbeit draufsteht, ist erlaubt?
Heil: Das stimmt nicht. Einige Branchen müssen im Lockdown komplett pausieren, da leistet die Arbeitswelt einen erheblichen Beitrag bei der Bekämpfung der Pandemie. Oberstes Ziel ist, die Gesundheit der Beschäftigten sowie Betriebe und Arbeitsplätze zu erhalten. Wo wir die Wirtschaft offen gehalten haben, gelten scharfe Regeln. Sie müssen aber von den Arbeitsschutzbehörden der Länder auch konsequent durchgesetzt werden. Das erwarte ich auch von grün-schwarz regierten Ländern wie Baden-Württemberg und Hessen, die bei Kontrollen im Länderbereich auf den hinteren Plätzen liegen.
FAS: Wo ist die Infektionsgefahr, wenn ich mit dem Rad ins Einzelbüro fahre?
Heil: Wir müssen in der dritten Corona-Welle Kontakte reduzieren, wo immer es geht. Richtig ist: Die Gefahren am Arbeitsplatz unterscheiden sich stark. Die meisten Menschen, die den Laden am Laufen halten, können ohnehin nur in Präsenz arbeiten – in der Logistik, im Supermarkt, bei Verkehrsbetrieben oder Energieversorgern.
FAS: Beim Homeoffice versuchen Sie, schon mal Pflöcke einzuschlagen für die Zeit nach der Krise.
Heil: Einen neuen Rechtsrahmen für mobiles Arbeiten habe ich schon vor der Krise vorgeschlagen! Ich habe es mir nicht ausgesucht, dass wir durch Corona jetzt einen unfreiwilligen Großversuch haben – mit sehr unterschiedlichen Erlebnissen und Gefühlen.
FAS: Mit dem Ergebnis, dass das auch für die Beschäftigten nicht immer toll ist.
Heil: Natürlich nicht. Als Familienvater erlebe ich selbst, dass Homeschooling und Homeoffice schlecht zusammenpassen. Wir brauchen neue Antworten im Arbeitsrecht. Dazu gehört, das Homeoffice zu ermöglichen und zugleich dafür zu sorgen, dass es nicht zur Entgrenzung von Arbeit führt. Wir wären weiter, wenn es schon ein Gesetz zur mobilen Arbeit gäbe. Das war aber mit unserem Koalitionspartner leider nicht möglich.
FAS: Schon jetzt reduzieren Firmen ihre Büroflächen. Es werden sogar Jobs nur fürs Homeoffice ausgeschrieben. Werden Beschäftigte gegen ihren Willen in Heimarbeit gedrängt?
Heil: Damit das nicht passiert, haben wir zum Beispiel die Rechte von Betriebsräten erweitert, faire Bedingungen fürs Homeoffice auszuhandeln. Es geht um Augenhöhe zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten. Das mobile Arbeiten bietet unglaubliche Chancen, auch nach der Pandemie. Nicht dauerhaft, aber vielleicht für ein paar Tage pro Woche – damit die Arbeit besser zum Leben passt. Homeoffice ist nur eine Facette davon. Es gibt noch andere Möglichkeiten, ortsflexibel mobil zu arbeiten.
FAS: Zum Beispiel auch von Bali aus?
Heil: Theoretisch ja – das wird aber sicher nicht zur Regel werden. Wir reden über alle Formen von ortsflexiblem Arbeiten. Mobil heißt, unterwegs zu sein, zu Hause, im Co-Working-Space. Da gibt es zum Beispiel eine Initiative, die solche Co-Working-Spaces auf dem Lande anbietet, bundesweit.
FAS: Wer bezahlt dafür, der Beschäftigte oder die Firma?
Heil: Die Genossenschaft, von der ich rede, hat einen klugen Ansatz: Sie achtet darauf, dass sich die Unternehmen beteiligen. Ich hoffe, dass wir möglichst viele Firmen dafür gewinnen können.
FAS: Vom Home-Office bis zum Arbeitsschutz: Haben Sie die Pandemie geschickt für die Pläne genutzt, die Sie auch vorher schon hatten?
Heil: Ich habe versucht, meinen Beitrag zu leisten, die Pandemie bestmöglich durchzustehen. Diese Krise offenbart nun mal ein paar Dinge, die sich in diesem Land grundlegend ändern müssen. Die Leute, die den Laden am Laufen halten, haben zu Beginn viel Applaus bekommen. Daraus muss auch etwas folgen für bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen. Wir brauchen mehr Respekt vor guter Arbeit, zum Beispiel in der Altenpflege. Deshalb mein Vorschlag: Wer Geld von der Pflegekasse haben will, muss seine Leute nach Tarif bezahlen.
FAS: Nun sagte uns vorige Woche eine Krankenschwester, der Tariflohn genüge nicht: Sie empfindet ein Einstiegsgehalt von 3500 Euro pro Monat als angemessen.
Heil: Fest steht: Die Arbeit in der Pflege muss deutlich aufgewertet werden - sowohl was die Arbeitsbedingungen, als auch was die Bezahlung angeht. In der Altenpflege sieht es derzeit sogar noch schlechter aus als in der Krankenpflege: Eine Pflegehilfskraft in Vollzeit bekommt ungefähr 2100 Euro brutto, mein Vorschlag kann bis zu 300 Euro mehr bedeuten. Leider hat der Gesundheitsminister viel zu lange nur Ankündigungen gemacht. Aber mein Vorschlag führt jetzt dazu, dass sich was bewegt. Und ich will, dass da noch vor der Bundestagswahl konkret was passiert.
FAS: Trotzdem muss es jemand bezahlen. Wir alle, über höhere Beiträge?
Heil: Ich finde es schäbig, wenn man Pflegekräfte gegen Pflegebedürftige und Angehörige ausspielt. Wir müssen uns ehrlich machen: Wenn wir wollen, dass unsere Angehörigen vernünftig gepflegt werden, dann muss unsere Gesellschaft für Gesundheit und Pflege mehr Geld ausgeben. Das ist auch eine Frage der Würde und des Werts von Arbeit. Ich bin aber dafür, den Eigenanteil bei den Pflegekosten zu begrenzen. Sonst überfordern wir die Menschen.
FAS: Haben Sie schon ausgerechnet, was das kostet?
Heil: Wir reden hier nicht über eine finanziell unlösbare Aufgabe. Das müssen wir hinbekommen, es ist gut angelegtes Geld. Wenn wir zusehen würden, dass die Löhne schon wieder nicht angemessen steigen, wäre das auch sehr unvernünftig. Uns rennen die Pflegekräfte weg, und wir brauchen mehr davon.
FAS: Unsere Krankenschwester sagt: Wenn nur die Löhne steigen, dann gehen viele Pflegekräfte in Teilzeit, es fehlt noch mehr Personal.
Heil: Aber wenn wir das nicht machen, verlieren wir noch viel mehr Pflegekräfte – wegen der geringen Löhne. Deswegen müssen wir Arbeits- und Lohnbedingungen verbessern.
FAS: Unsere Krankenpflegerin hat sehr positiv über die Zeitarbeit gesprochen: Dort kann man mehr verdienen und hat mehr Flexibilität.
Heil: Höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen muss es für alle geben, dann ist die Zeitarbeit nicht länger der letzte Ausweg für verzweifelte Pflegekräfte. Die Lösung ist, für bessere Personalbemessung in den Krankenhäusern zu sorgen und aufzuhören auf Kosten der Pflegekräfte zu sparen.
FAS: Damit wird nicht nur die Pflegeversicherung teurer, sondern auch die Krankenversicherung. Und die Rente ist auch noch längst nicht sicher. Wer zahlt das alles?
Heil: Es muss nicht alles teurer werden. Es müssen überzogene Renditeerwartungen von Unternehmen gesenkt werden, auch im Bereich der Altenpflege. Man kann auch die Finanzierung auf breitere Beine stellen: Ich bin Anhänger einer Pflege-Bürgerversicherung.
FAS: Dann bekommt die Pflegeversicherung mehr Einzahler, muss aber auch mehr Pflegebedürftige finanzieren.
Heil: Es geht hier um Gerechtigkeitsfragen, aber auch um die Frage, wie stabil die private Krankenversicherung auf lange Sicht ist. Was die Sozialbeiträge betrifft: In der Arbeitslosenversicherung sind sie historisch tief, in der Rentenversicherung liegen sie niedriger als am Ende der Regierungszeit von Helmut Kohl. Wir haben Herausforderungen in der Pflege- und in der Krankenversicherung beim Kollegen Spahn, darüber wird es im Sommer Debatten geben.
FAS: Die Finanzierung der Rente ist unklar, wenn von 2025 an viele Babyboomer in Rente gehen.
Heil: Die größten Probleme haben wir in den Jahren von 2025 bis 2040. Die entscheidende Frage ist: Wie viele Menschen sind in der schwierigen Zeit in Arbeit, und wie ist die Lohnentwicklung? Wenn sich der Arbeitsmarkt gut entwickelt, dann können wir die gesetzliche Rente stabil halten. Da geht es um die Erwerbstätigkeit von Frauen, um Qualifizierung und um Integration in den Arbeitsmarkt. Das ist allemal besser, als über die Rente mit 70 zu philosophieren.
FAS: Das klingt, als stünde uns nach Corona eine schöne neue Arbeitswelt bevor. Was ist mit den wirtschaftlichen Folgen der Krise?
Heil: Ich habe keine rosarote Brille auf. Die Frage ist, ob wir die richtigen Entscheidungen treffen: Wollen wir den Mindestlohn erhöhen und für mehr Tarifbindung sorgen? Betreiben wir eine aktive Innovations- und Wirtschaftspolitik? Haben wir 2035 noch eine Stahlproduktion, trotz Klimaschutz? Die nächsten 20 Jahre werden einen heftigen Wandel der Arbeitswelt bringen. Dafür braucht es eine ambitionierte Politik.
FAS: Gute Jobs in der Industrie sind unter Druck, etwa in der Autobranche. Neue Dienstleistungsjobs sind oft nicht so gut bezahlt.
Heil: Wir haben drei große Trends: Digitalisierung, Demographie und Dekarbonisierung, also Klimaschutz. Corona ist ein Brandbeschleuniger des Strukturwandels. Wirtschaft, Gewerkschaften und Staat dürfen nicht einfach zugucken, sie müssen einer Spaltung der Gesellschaft entgegenwirken. Ich will zum Beispiel aus der Arbeitsagentur eine Agentur für Qualifizierung machen. Und gleichzeitig für eine gerechtere Teilhabe von Menschen an den Gewinnen der Digitalisierung sorgen. Deshalb ist es eine Frage des Respekts, dass wir den Mindestlohn erhöhen – innerhalb eines Jahres auf zwölf Euro.
FAS: Wenn es hart auf hart kommt, verlieren Sie lieber einen Job, als einen schlecht bezahlten zu halten?
Heil: Die Frage stellt sich so nicht. Man kann aber in unserer Sozialen Marktwirtschaft nicht Geschäftsmodelle auf der Ausbeutung von Menschen aufbauen. Das gilt auch für die Plattformökonomie, nicht nur bei Lieferdiensten. Da sind Menschen in Scheinselbständigkeit, manchmal gibt es keinen angemessenen sozialen Schutz. Das kann nicht so bleiben.
FAS: Mit härteren Regeln wären viele Plattformen gar nicht entstanden.
Heil: Es gibt Licht und Schatten. Für viele Selbständige ist das eine tolle Chance. Aber es gibt auch Beispiele, die das gesamte Risiko auf die Selbständigen abdrängen, die Renditen dagegen beim Betreiber lassen. Das ist ein Thema überall auf der Welt.
FAS: Oft sind Plattformen mit schlechteren Arbeitsbedingungen erfolgreicher und bieten mehr Jobs.
Heil: Würden wir dieser Logik konsequent folgen, wären wir noch in der Sklavengesellschaft. Ich bin aber ein Anhänger der Sozialen Marktwirtschaft, die wir in eine digitale Soziale Marktwirtschaft überführen müssen. Wir brauchen einen europäischen Weg, zwischen dem Anything goes wie im Silicon Valley und der absoluten Kontrolle wie in China.
FAS: Frankreich will die Plattformen zwingen, die Leute fest anzustellen.
Heil: Ich will nicht alles in abhängige Beschäftigung pressen. Wir müssen den Leuten aber sehr viel schneller als bisher verlässlich sagen, ob sie als Selbständige arbeiten können oder nicht. Das werden wir noch in dieser Legislaturperiode beschließen.