- Datum:
- 20.11.2020
Wirtschaftswoche: Herr Minister, Gewinner der Coronakrise sind unter anderem die Internetplattformen mit angeschlossenen Lieferdiensten. Freuen Sie sich über die vielen neuen Jobs, die dort gerade entstehen?
Hubertus Heil: Ich freue mich über neue Geschäftsmodelle, die neue Arbeitsplätze ermöglichen. Aber wir schauen genau hin, was für Arbeit da entsteht und gehen gegen Ausbeutung vor. Deshalb haben wir schon vor Corona das Paketbotenschutzgesetz auf den Weg gebracht. Danach haften die Auftraggeber, also die großen Paket- und Kurierdienste, auch für die Sozialversicherungsbeiträge der Subunternehmer, damit die Menschen in diesem Sektor nicht ohne sozialen Schutz dastehen.
Wirtschaftswoche: Also ist jetzt alles in Ordnung?
Heil: Digitalisierung und Onlinehandel machen doch vieles im Leben einfacher und lassen sich auch gar nicht aufhalten. Aber ich achte sehr genau darauf, dass Digitalisierung nicht mit der Ausbeutung von Menschen verwechselt wird. Wenn ich höre, dass eine Lieferplattform auf einmal höhere Margen von Restaurants verlangt, spreche ich auch von der Ausbeutung selbständiger Restaurantbesitzer.
Wirtschaftswoche: Die Lieferdienste suchen händeringend Leute und müssen daher bessere Konditionen bieten. Wird das nicht automatisch zu höherer Entlohnung führen?
Heil: Wenn man mit den Boten spricht, erfährt man, dass viele von ihnen nicht als abhängig Beschäftigte arbeiten, sondern als Selbständige. Dann gilt nicht mal der Mindestlohn. Machen wir uns nichts vor: viele Lieferdienste tun so oder geben sogar vor, als seien die Kurierfahrer Selbständige. Dort aber, wo in Wahrheit ein Fall von Scheinselbständigkeit vorliegt, müssen wir es den Plattformen schwerer machen, über den Arbeitnehmerstatus und damit über den sozialen Schutz und Arbeitsrechte nach eigener Profitlogik zu befinden.
Wirtschaftswoche: Warum so misstrauisch?
Heil: Aus Erfahrung und Gesprächen mit den sogenannten Ridern und Gewerkschaften. Beschäftigte dürfen beim Lohn und bei den Arbeitsbedingungen nicht unter die Räder kommen. Klar ist nicht jede Form von neuer Selbständigkeit prekär. Die Plattformökonomie bietet auch viele auskömmliche Arbeitsbedingungen und neue Freiheiten. Aber wir müssen darauf achten, die Rechte der selbständig und der abhängig Beschäftigten und ihren sozialen Schutz zu wahren. Das ist auch eine Frage fairer Wettbewerbsbedingungen.
Wirtschaftswoche: Sie haben gemeinsam mit der Justizministerin Christine Lambrecht dazu gerade erst Vorschläge vorgelegt. Worum geht es im Kern?
Heil: Uns geht es darum, dass die soziale Marktwirtschaft auch in der Plattformökonomie gilt. Wir müssen für faire Arbeitsbedingungen und eine bessere soziale Sicherung der Plattformtätigen sorgen.
Wirtschaftswoche: Was stört Sie an der Arbeitsweise der Plattformen?
Heil: Plattformbetreiber schaffen neue Märkte und Arbeitsplätze, das ist gut. Aber, Plattformbetreiber sind per se stärker als die Beschäftigten, die sie nutzen. Sie bestimmen die Bedingungen, an diesen Märkten teilzunehmen. Sie haben die Hoheit über Kundendaten und Bewertungen und können einseitig die Vertragsbedingungen ändern. Bis hin zu dem Punkt, dass Plattformtätige ihre Leistungen unter den neuen Bedingungen nicht anbieten können oder wollen. Hier müssen wir den Beschäftigten der Plattformen rechtlich unter die Arme greifen.
Wirtschaftswoche: Wie wollen Sie das ändern?
Heil: Wir wollen die Position der Schwächeren, in diesem Fall der Solo-Selbstständigen, gegenüber den mächtigeren Plattformen stärken. Ebenso wie in der analogen Welt wollen wir Mindestkündigungs- und Übergangsfristen für Plattformtätige verbindlich festlegen. Von heute auf morgen von der Nutzung einer Plattform ausgeschlossen zu sein, für solche Wild-West-Methoden gibt es im 21. Jahrhundert in Deutschland keinen Platz. Dazu müssen die Plattformtätigen in der Lage sein, ihre Daten jederzeit auf andere Plattformen übertragen zu können. Gemeinsam mit dem Justizministerium werden wir uns außerdem dafür einsetzen, dass besser gegen Allgemeine Geschäftsbedingungen vorgegangen wird, die entweder schon jetzt unwirksam sein sollten oder einseitig zu Lasten der Beschäftigten gehen.
Wirtschaftswoche: Was überwiegt? Die Freude über mehr Flexibilität oder die Angst vor einer Prekarisierung?
Heil: Wir sollten realistisch sein. Die Digitalisierung nimmt rasant zu und ich will das nicht aufhalten. Es gibt viele gute neue Geschäftsmodelle, die unseren Alltag verbessern und das Land nach vorne bringen. Deshalb wollen wir auch in Zukunft das Potenzial der Plattformökonomie nutzen. Die Politik muss aber dafür sorgen, dass aus technischem Fortschritt zugleich sozialer Fortschritt wird – und zwar nicht nur für wenige Shareholder, sondern für alle.
Wirtschaftswoche: Corona hat die Digitalisierung noch einmal beschleunigt. Wie wirkt sich das auf die Arbeitsmarktbilanz aus?
Heil: Corona hat die größte wirtschaftliche Krise unserer Generation verursacht und wir kämpfen mit staatlichen Hilfen und der Kurzarbeit um Unternehmen und Arbeitsplätze. Wenn im kommenden Jahr eine konjunkturelle Trendwende einsetzt, kommen wir auf dem Arbeitsmarkt dank der Kurzarbeit wieder ganz gut aus der Krise heraus. Ich bin da zuversichtlich.
Wirtschaftswoche: Erweist sich die Digitalisierung als Job-Killer wie manche behaupten oder als Job-Motor?
Heil: Es gibt Bereiche, in denen sich die Anforderungen ändern, was man mit mehr Weiterbildung und Qualifizierung meistern kann. Aber es gibt auch Sektoren, in denen menschliche Arbeit durch Technik ersetzt wird, etwa bei Banken und Versicherungen. Dort muss die Möglichkeit geschaffen werden, einen neuen Beruf zu erlernen und ich möchte, dass dies im Laufe eines Lebens auch rechtlich möglich ist. Und schließlich haben wir die boomenden sozialen Berufe etwa im Gesundheitsbereich, wo man ohne Menschen nicht auskommt und wo neue Technik vor allem Erleichterung bietet. Die Digitalisierung wirkt sehr unterschiedlich und deshalb braucht man auf dem Arbeitsmarkt auch einen großen Instrumentenkasten.
Wirtschaftswoche: Was ist denn die Perspektive für einen 50-jährigen Bankkaufmann? Ist er darauf angewiesen, dass sein Arbeitgeber eine Umschulung anbietet?
Heil: Zuerst mal sind die Unternehmen dafür verantwortlich, dass die Beschäftigten im Rahmen der betrieblichen Weiterbildung qualifiziert werden. Kleine und mittlere Unternehmen und ihre Beschäftigten fördert der Staat bei dieser Aufgabe mit dem Arbeit-von-morgen-Gesetz. Wenn sie in Weiterbildung investieren, können sie dafür Unterstützung von der Bundesagentur für Arbeit bekommen.
Wirtschaftswoche: Aber was ist, wenn Personal abgebaut wird, weil der Computer und die künstliche Intelligenz den Job übernehmen?
Heil: Auch dafür gibt es Instrumente. Zum einen kann Betroffenen in einer Transfergesellschaft geholfen werden, in der sie sich neu orientieren können. Da treffen sich unternehmerische und staatliche Verantwortung. Hier können wir Weiterbildung und Qualifikation mit Transferleistungen, auch mit Kurzarbeitergeld, unterstützen. Zum anderen müssen wir uns angesichts des rasanten technischen Wandels fragen, ob es nicht auch einen Rechtsanspruch auf Neustart und Umschulung geben sollte, und zwar unabhängig vom Alter.
Wirtschaftswoche: Gegen wen richtet man dann diesen Anspruch?
Heil: Das ist eine gemeinsame Verantwortung von Arbeitgeber und Staat. Uns geht die Arbeit auch in der digitalen Welt nicht aus, aber es wird andere Arbeit sein. Diese Herausforderung müssen Wirtschaft und Politik gemeinsam bestehen. Im Unterschied zum Strukturwandel vergangener Zeiten – auch in der Automobilindustrie – geht es heute im digitalen Zeitalter viel schneller. Das bedeutet, wir haben weniger Zeit um zu handeln. Das muss allen klar sein.
Wirtschaftswoche: Wie sehr kaschiert das auf 24 Monate verlängerte Kurzarbeitergeld tatsächliche Strukturbrüche?
Heil: Das Kurzarbeitergeld sichert millionenfach Arbeitsplätze, die ohne Corona gar nicht in Gefahr wären. Ich bin zuversichtlich, dass wir das überwinden können, wenn die Wirtschaft wieder anspringt. Dank der Kurzarbeit können die Unternehmen ihre Fachkräfte für den Aufschwung halten.
Wirtschaftswoche: Aber gerade im Automobilsektor ist die Kurzarbeit am höchsten und zwar auch wegen des technischen Wandels beim Antrieb.
Heil: Es gibt Bereiche, in denen sich die konjunkturelle Krise und der Strukturwandel mischen. Mit Kurzarbeit haben wir Millionen von Arbeitsplätzen gesichert und auch die Nachfrage stabilisiert. Durch die Einschränkungen im November wird zeitlich befristet sicherlich wieder stärker auf Kurzarbeit zurückgegriffen werden. Deswegen haben wir diese Brücke auch bis ins nächste Jahr verlängert. Und wir haben den Anreiz gesetzt, die Kurzarbeit stärker mit Weiterbildung zu verbinden. Also konkret: ab Juni 2021 werden die Sozialversicherungsbeiträge für die Unternehmen nicht mehr vollständig übernommen, sondern nur noch zur Hälfte. Es sei denn, man verknüpft Kurzarbeit mit qualifizierter Weiterbildung. Das ist neben den anderen Weiterbildungsinstrumenten ein sinnvoller Anreiz für Branchen, die sich im Wandel befinden.
Wirtschaftswoche: Die Kurzarbeit kostet viel Geld. Wann ist die Kasse der Bundesagentur für Arbeit leer?
Heil: Kurzarbeit ist teuer, Arbeitslosigkeit wäre ökonomisch und sozial teurer. Wir hatten zu Beginn der Krise 26 Milliarden Euro an Rücklagen. In diesem Jahr haben wir bislang 16 Milliarden Euro in die Kurzarbeit investiert. Das ist viel Geld, aber jeder Euro davon ist gut investiert. Das führt dazu, dass die Bundesagentur bereits Ende diesen Jahres auf Liquiditätshilfen des Bundes angewiesen ist. Damit sie auch 2021 handlungsfähig ist, sind bereits Zuschüsse im Bundeshaushalt eingestellt. Die Bundesregierung hat beschlossen, dass die Bundesarbeitsagentur Ende 2021 schuldenfrei ist, damit sie auch wieder Rücklagen aufbauen kann.
Wirtschaftswoche: Sind dann höhere Beiträge zur Arbeitslosenversicherung nicht unausweichlich?
Heil: Nein. Die Bundesregierung hat sich in der Corona-Krise auf eine Sozialgarantie verständigt. Wir halten die Sozialbeiträge bis Ende 2021 stabil. Alles andere passt konjunkturell nicht in diese Zeit.
Wirtschaftswoche: Die Unternehmen stellen in der Krise nur wenig ein. Was bedeutet das für die Chancen junger Absolventen und Auszubildender?
Heil: Wir haben es unter anderem mit Ausbildungsprämien geschafft, dass es in diesem Jahr trotz Krise keinen massiven Einbruch gegeben hat. Aber die Herausforderung auf dem Ausbildungsmarkt bleibt auch 2021 groß. Wir werden deshalb die Ausbildungsprämien zum nächsten Ausbildungsjahr weiterentwickeln. Außerdem werden wir die Förderkriterien für Ausbildungsprämien im laufenden Ausbildungsjahr ausweiten, damit mehr Ausbildungsbetriebe davon profitieren können. Die Unternehmen wissen aber zum Glück auch, dass es irgendwann wieder bergauf geht und dass man dann nicht über Fachkräftemangel klagen darf, wenn man zuvor nicht ausgebildet hat.
Wirtschaftswoche: Also alles gut?
Heil: Nein, wir beobachten im Moment, dass es bei jungen Beschäftigten nach der Ausbildung überproportional Probleme gibt, weil der erste Job oft nur befristet ist und es dann häufig nicht weitergeht, wenn die Befristung in der Krise endet.
Wirtschaftswoche: Gibt es die "Generation Corona"?
Heil: Wir müssen alles daran setzen, dass es keine "Generation Corona" gibt. Ich bin da optimistisch, denn durch Kurzarbeit haben wir viele Arbeitsplätze gesichert und wir haben zudem die Möglichkeiten, die Wirtschaft wieder anzukurbeln.
Wirtschaftswoche: Kurz vor Beginn des Wahljahres häufen sich die Streitigkeiten in der Bundesregierung, zum Beispiel über die Hilfen für Soloselbständige. Warum sperren Sie sich gegen den so genannten "Unternehmerlohn"?
Heil: Wir haben in der Koalition pragmatische und gute Antworten auf die Krise, wie man an den Novemberhilfen sieht. Mit der Art der Ausgestaltung helfen wir auch den Selbständigen und Solo-Selbständigen in vielen Branchen. In der Bundesregierung haben wir uns außerdem verständigt, dass es die Überbrückungshilfen III geben wird. Auch die Neustarthilfe wird wie die Novemberhilfen pauschaliert und nicht auf die Grundsicherung angerechnet. Das zeigt, dass wir sinnvolle Lösungen für Selbständige schaffen können, die einen wirtschaftlichen Schaden haben. Sie helfen, dass Selbständige, die unverschuldet in Not geraten sind, besser durch diese schwierige Zeit kommen und darauf setze ich. Für alle, die trotz dieser Wirtschaftshilfen nicht über die Runden kommen, ist nach wie vor der vereinfachte Zugang zur Grundsicherung wichtig. Damit wollen wir soziale und wirtschaftliche Ängste von den Schultern nehmen. Ich habe ein Herz für Selbständige.
Wirtschaftswoche: Weiteres Streitthema sind Ihre neuen Regelungen für die Fleischindustrie, wo nicht nur Werkverträge sondern auch Zeitarbeit unterbunden werden soll. Kommt das Gesetz noch?
Heil: Schon vor Corona hatten wir in Teilen der Fleischindustrie Arbeitsbedingungen, die nicht in Ordnung waren. Durch die Pandemie wurden diese Missstände zum gesundheitlichen und wirtschaftlichen Risiko für uns alle. Die Bundesregierung hat gemeinsam beschlossen, dass die Unternehmen Verantwortung für ihre Beschäftigten übernehmen müssen und das nicht über Werkverträge oder Leiharbeit weg delegieren können. Es gibt keinen vernünftigen Grund, das weiter zu verzögern.
Wirtschaftswoche: Die Union moniert, dass Sie auch Zeit- und Leiharbeit in der Fleischbranche ausschließen wollen und damit den Firmen die Flexibilität nehmen.
Heil: Wir dürfen keine neuen Schlupflöcher bauen. Wenn Leiharbeit auf breiter Front erlaubt bleibt, dann wird das System der Werkverträge nur unter neuem Namen fortgeführt. Das ist ausdrücklich nicht der Wille der Bundesregierung. Ich setze darauf, dass die Neuregelung Ende des Jahres unter Dach und Fach ist.
Wirtschaftswoche: Was ist mit dem von Ihnen vorgeschlagenen Anspruch auf Homeoffice? War der Vorschlag nur mal so eine Idee oder passiert da noch etwas?
Heil: Corona hat unsere Arbeitswelt enorm verändert und uns einen ungeplanten Großversuch zum Homeoffice beschert. Moderne Arbeitsbedingungen brauchen auch einen modernen Ordnungsrahmen. Ich bin offen für Gespräche in der Koalition, auch wenn ein rechtlicher Anspruch auf 24 Tage Homeoffice mit der Union ganz offensichtlich nicht zu machen ist. Was zählt, ist, dass wir gemeinsam die Position aller Beschäftigten stärken, die gerne mobil arbeiten möchten.
Wirtschaftswoche: Da Homeoffice nur bei bestimmten Branchen geht, wäre das doch eine Zweiteilung des Arbeitsmarktes.
Heil: Natürlich kann die Arbeit in einem Stahlwerk nicht nach Hause verlagert werden. Aber wir sollten die Beschäftigten nicht gegeneinander ausspielen. Wo mobiles Arbeiten möglich ist, sollte es nicht willkürlich unterbunden werden dürfen. Hier brauchen wir einen klaren Rechtsrahmen. Zudem müssen wir Lücken im Unfallschutz schließen und die Menschen vor der Entgrenzung von Arbeit schützen. Auch im Homeoffice muss mal Feierabend sein. Diese Fragen zu klären, ist mir wichtig und deshalb bin ich hier kompromissbereit.
Wirtschaftswoche: Nimmt der Wille zur Einigung in der Koalition ab, je näher wir dem Wahljahr rücken?
Heil: Das können wir uns in der Krise nicht leisten. Zum Glück sehen das auch die meisten Verantwortlichen so. Wenn es nach mir geht, arbeitet die Regierung bis zum Schluss. Ich habe jedenfalls noch viel vor.