- Datum:
- 18.01.2019
ZEIT ONLINE: Herr Heil, Sie haben vor dem Bundesverfassungsgericht die Sanktionen bei Hartz IV-Empfängern verteidigt. Welche Belege haben Sie, dass Sanktionen tatsächlich wirken?
Heil: Mein grundsätzliches Prinzip ist: So viel Ermutigung wie möglich, so viel Ermahnung wie nötig. Ich weiß, dass das Thema viele umtreibt, auch wenn in der Realität nur in drei Prozent der Fälle tatsächlich sanktioniert wird. Die Praktiker in den Jobcentern sagen mir aber, dass wir nicht gänzlich auf Mitwirkungspflichten verzichten sollten. Das ist auch die Auffassung der Wissenschaftler des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Wir müssen allerdings über die Ausgestaltung der Mitwirkungspflichten reden. Hier bin ich für Veränderungen. Denn eines steht fest: Sanktionen sind kein Selbstzweck. Sie dürfen nur das allerletzte Mittel sein.
ZEIT ONLINE: Welche Sanktionen sind Ihrer Meinung nach überzogen?
Heil: Ich halte es für vollkommen falsch, die Zuschüsse zum Wohnen zu streichen. Das hat keinen positiven arbeitsmarktpolitischen Effekt. In Zeiten eines angespannten Wohnungsmarktes sollte sich niemand darum sorgen müssen, das Dach über dem Kopf zu verlieren. Ich finde es auch falsch, dass 25-Jährige schärfer sanktioniert werden als 26-Jährige.
ZEIT ONLINE: Sanktionen sind nur ein Aspekt, warum viele Empfänger Hartz-IV als Zumutung empfinden. Wie stehen Sie zu anderen Änderungsvorschlägen: höhere Regelsätze und Zuverdienstgrenzen, ein längerer Bezug des höheren Arbeitslosengeldes?
Heil: Ich bin dafür, dass wir das System verbessern und finde alles richtig, was wirklich hilft, Menschen in der Grundsicherung besser zu unterstützen. Im Vordergrund muss stehen, Menschen, wo immer es geht, aus der Grundsicherung zu holen und in Arbeit zu bringen. Die Grundsicherung ist aber nur eine Stellschraube der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, und man sollte nicht ein einzelnes soziales Sicherungssystem isoliert betrachten. Und ich will darauf hinweisen, dass wir mit grundsätzlichen Veränderungen des Systems bereits begonnen haben.
ZEIT ONLINE: Was meinen Sie konkret?
Heil: Mit dem sozialen Arbeitsmarkt schaffen wir echte Chancen und neue Perspektiven, um langzeitarbeitslose Menschen dauerhaft in Arbeit zu bringen, die bisher keine Chance auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt hatten. Dafür nehmen wir vier Milliarden Euro in die Hand. Mit dem Starke-Familien-Gesetz weiten wir den Kinderzuschlag für Geringverdiener aus, damit sie nicht auf Grundsicherung angewiesen sind. Und wir verbessern die Bildungs- und Teilhabechancen von Kindern. Zudem entwickeln wird die Arbeitslosenversicherung Schritt für Schritt weiter zu einer Arbeitsversicherung, die – wo immer möglich – Arbeitslosigkeit verhindert, bevor sie entsteht.
Ein weiteres Ziel von mir ist es, die Bundesagentur für Arbeit zu einer Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung weiterzuentwickeln. Wir brauchen langfristig auch Rechtsansprüche auf Weiterbildung. Auch das ist ein Thema, das viele Arbeitnehmer und Arbeitgeber zunehmend beschäftigt. Das Qualifizierungschancengesetz, das zum 1. Januar in Kraft getreten ist, ist ein erster großer Schritt, weil wir damit Unternehmen und Beschäftigte im Strukturwandel gezielt bei Qualifizierung und Weiterbildung unterstützen.
ZEIT ONLINE: Wird es in dieser Legislaturperiode noch eine umfassende Reform von Hartz-IV geben?
Heil: Ich habe einen Dialog mit Bürgern und Praktikern zur Zukunft des Sozialstaats initiiert: Bis Herbst will ich konkrete Vorschläge dazu vorlegen, wie wir den Alltag von Menschen verbessern können. Allerdings geht es nicht nur um Regelungen in der Grundsicherung. Viele Menschen in der Grundsicherung für Arbeitssuchende sind keine Langzeitarbeitslosen, sondern Erwerbstätige, deren Löhne nicht reichen und die mit Grundsicherungsleistungen aufstocken müssen. Wir müssen daher auch für die einiges tun, so zum Beispiel die Tarifbindung wieder stärken und den Mindestlohn weiterentwickeln.
ZEIT ONLINE: Die SPD hält 12 Euro Mindestlohn mittlerweile für angemessen, zurzeit sind es 9,19 Euro. Werden Sie für eine Anhebung einsetzen?
Heil: Zunächst einmal stellen wir fest, dass der Mindestlohn positiv wirkt und weiter steigen wird – zum 1. Januar 2020 erst einmal auf 9,35 Euro. Das Gesetz sieht vor, dass wir dann das Mindestlohn-System überprüfen. Das bietet die Chance, auch über deutlichere Erhöhungsschritte zu sprechen. Aber auch ein höherer Mindestlohn allein reicht nicht aus, denn der Mindestlohn ist immer nur die absolute Lohnuntergrenze. Wir brauchen mehr Tarifbindung, im Interesse von besseren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen. Sie ist außerdem wichtig, um im digitalen Wandel der Arbeitsgesellschaft einen vernünftigen Interessenausgleich zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten zu ermöglichen.
ZEIT ONLINE: Aber sowohl Gewerkschaften als auch Arbeitgeberverbände verlieren Mitglieder. Was wollen Sie als Arbeitsminister dagegen tun?
Heil: Der Staat kann und sollte nicht die Aufgaben von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften übernehmen. Er hat aber ein Interesse an einer starken Sozialpartnerschaft. Ich werde mich in diesem Jahr mit Arbeitgebern und Gewerkschaften zusammensetzen, um zu klären, wie wir wieder zu mehr Tarifbindung kommen. Alle müssen dafür ihren Beitrag leisten. Ein mögliches Instrument ist eine leichtere Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen. Wir müssen außerdem über mehr Anreize des Staates zur Stärkung der Sozialpartnerschaft sprechen. Nur noch 47 Prozent der Unternehmen sind tarifgebunden. Wenn wir soziale Auseinandersetzungen wie in Frankreich bei uns verhindern wollen, müssen wir die Sozialpartnerschaft stärken.
ZEIT ONLINE: Ein Thema, das Arbeitgeber und Arbeitnehmer zunehmend beschäftigt, ist die Weiterbildung. Was schwebt Ihnen da perspektivisch vor?
Heil: Das Qualifizierungschancengesetz, das zum 1. Januar in Kraft getreten ist, ist ein erster großer Schritt, weil wir damit Unternehmen und Beschäftigte im Strukturwandel gezielt bei Qualifizierung und Weiterbildung unterstützen. Ein weiteres Ziel von mir ist es, die Bundesagentur für Arbeit zu einer Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung weiterzuentwickeln. Wir brauchen langfristig auch Rechtsansprüche auf Weiterbildung.
ZEIT ONLINE: Geförderte Jobs für Langzeitarbeitslose, mehr Geld für arme Kinder, mehr Qualifizierung: Die SPD hat in dieser Legislaturperiode schon einiges durchgesetzt, trotzdem liegt sie in den Umfragen bei gerade einmal 14 Prozent. Warum?
Heil: Als Arbeitsminister will ich meinen Beitrag leisten, den Lebensalltag von Menschen zu verbessern und unser Land voranzubringen. Dafür haben wir schon viel auf den Weg gebracht. Das muss jetzt aber auch im Alltag ankommen. Wir werden also mit Taten überzeugen. Die Menschen erwarten zu Recht von uns, dass wir beweisen, dass wir gerade in unruhigen Zeiten die Dinge zum Besseren verändern können. Darauf setze ich mit Realismus und Zuversicht.
ZEIT ONLINE: Die CDU macht jetzt Druck bei der Grundrente. Sie müsse noch vor den Landtagswahlen im Osten kommen. Wie realistisch ist das?
Heil: Die SPD hat die Grundrente in den Koalitionsvertrag gebracht und ich freue mich, dass mich die Union nun bei der Umsetzung unterstützen will. Es geht darum, die Rente für Menschen zu verbessern, die trotz eines Lebens voller Arbeit aufgrund von niedrigen Löhnen nur Grundsicherung bekommen. Dazu werde ich in der ersten Jahreshälfte einen soliden und praktikablen Vorschlag machen.
ZEIT ONLINE: Es gibt Medienberichte, wonach davon nur 130.000 Menschen profitieren würden?
Heil: Ich werde mein Konzept vorstellen, wenn es fertig ist. Mein Ziel ist es, dass man ein Kernversprechen unserer Alterssicherung auch über eine Grundrente wiederherstellt: Nach einem Leben voller Arbeit gibt es eine ordentliche Rente. Das ist auch eine Frage des Respekts vor dem, was Menschen in ihrem Leben geleistet haben.
ZEIT ONLINE: Wenn die Grundrente – wie im Koalitionsvertrag vereinbart – zehn Prozent über der Grundsicherung liegen wird, hätte ein Rentner, der 850 Euro Grundsicherung bezieht, gerade mal 85 Euro mehr im Monat. Wie soll das gegen Altersarmut helfen?
Heil: Gegen Altersarmut hilft nie nur eine Maßnahme. Altersarmut ist oft das Ergebnis davon, dass man schon während des Erwerbslebens wenig verdient hat. Wir müssen also vor allem für bessere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen und mehr Vollzeitbeschäftigung sorgen, gerade für Frauen. Wichtig ist daher auch die Brückenteilzeit, die wir im vergangenen Jahr durchgesetzt haben, weil sie die Rückkehr in Vollzeit etwa nach der Familienphase erleichtert.
ZEIT ONLINE: Lassen Sie uns den Blick weiten. Welche Auswirkungen könnte ein ungeregelter Brexit auf den deutschen Arbeitsmarkt haben?
Heil: Kein Mensch kann heute genau sagen, was in den nächsten Tagen in Großbritannien passiert. Als Bundesarbeitsminister habe ich und als Bundesregierung haben wir für alle möglichen Fälle Vorkehrungen getroffen. Falls es durch einen ungeordneten Brexit oder andere weltwirtschaftliche Risiken zu Einbrüchen der Konjunktur kommen sollte, haben wir etwa Rücklagen bei der Bundesagentur für Arbeit, um wie in der Finanzkrise von 2008 und 2009 arbeitsmarktpolitisch Brücken bauen zu können.
ZEIT ONLINE: In den vergangenen Jahren haben wir einen kontinuierlichen Rückgang der Arbeitslosenzahlen erlebt. Wird das bald vorbei sein?
Heil: Wir rechnen nach wie vor mit einer positiven Entwicklung am Arbeitsmarkt, auch wegen des demographischen Wandels: Es gehen mehr Leute in Rente als Junge nachkommen. Allerdings gibt es bei der Arbeitslosigkeit regional sehr große Unterschiede. In Eichstätt liegt die Arbeitslosigkeit derzeit bei 1,2 Prozent, in Gelsenkirchen bei 12,1 Prozent. Auch die Branchen sind unterschiedlich betroffen, die deutsche Autoindustrie beispielsweise steht vor einem mehrfachen Stresstest. Da müssen wir den Strukturwandel – Stichwort Digitalisierung und neue Antriebe – unterstützen. Genau deswegen bin ich froh, dass mein Qualifizierungschancengesetz zum Jahresbeginn in Kraft getreten ist. Es hilft nicht nur Beschäftigten in großen Automobilunternehmen, sondern vor allem in der mittelständischen Zulieferindustrie.
ZEIT ONLINE: Die Digitalisierung bringt auch ganz neue Arbeitsformen mit sich. Viele Menschen bieten ihre Arbeitskraft auf Internetplattform an. Da stellt sich die Frage, wer ist eigentlich der Arbeitgeber? Was muss da gesetzgeberisch getan werden?
Heil: Plattformökonomie heißt nicht per se Ausbeutung. Es gibt auch viele Menschen, die über Plattformen zwar atypisch, aber nicht prekär beschäftigt sind und die die Freiheit neuer Beschäftigungsformen bewusst wählen. An anderen Stellen wird Plattform-Ökonomie aber missbraucht, um Menschen auszubeuten bis hin zur Scheinselbständigkeit. Das passiert etwa bei Fahrradkurieren und Reinigungskräften öfter. Hierfür werden wir neue Antworten finden müssen. Unser Arbeits- und Sozialrecht muss für die Digitalisierung weiterentwickelt werden.
ZEIT ONLINE: Bislang sind solche Arbeitnehmer oder Scheinselbstständige aber kaum arbeitsrechtlich geschützt.
Heil: Das Arbeitsrecht bietet grundsätzlich Arbeitnehmern einen sozialen Schutz. Dennoch schauen wir uns solche Fälle wie Essenslieferanten ganz genau an. Aber weil es zunehmend schwieriger wird, zwischen abhängiger Beschäftigung und Selbständigkeit zu unterscheiden, werden wir neue Antworten geben müssen. An solchen Konzepten arbeitet das Bundesarbeitsministerium.
ZEIT ONLINE: Und, was sind Ihre ersten Antworten?
Heil: In einem ersten Schritt werden wir die Selbstständigen in den Schutz der Alterssicherung einbeziehen. Im Dialog mit Wirtschaft, Gewerkschaften und Wissenschaftlern werden wir darüber hinaus unser Arbeits- und Sozialrecht weiterentwickeln, damit die Rechte von Beschäftigten nicht unter die Räder kommen.
ZEIT ONLINE: Teilen Sie die Einschätzung, dass durch die Digitalisierung viele Arbeitsplätze vernichtet werden?
Heil: Die gute Nachricht ist: Nach allem, was wir wissen, geht Deutschland die Arbeit nicht aus – aber es wird andere Arbeit sein. Bis 2025 rechnen wir damit, dass etwa 1,3 Millionen Stellen durch die Automatisierung verloren gehen, gleichzeitig werden aber 2,1 Millionen neue Arbeitsplätze entstehen. Die Aufgabe ist also anstrengend: Es gilt, dafür zu sorgen, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von heute auch die Arbeit von morgen machen können. Gemeinsam mit Wirtschaft und Gewerkschaften werden wir dafür eine nationale Weiterbildungsstrategie umsetzen, die Weiterbildung in den Betrieben ermöglicht und – wo möglich – auch für Umschulungen sorgt.