Zu der - im Rahmen der Bund-Länder-Konferenz am 21. Januar 2021 - aufgeworfenen Frage nach den Auswirkungen der Änderungen der §§ 1 Absatz 4 - 7 sowie §§ 10 - 10c Opferentschädigungsgesetz (OEG) zum 1. Juli 2018 auf mögliche Ansprüche von Ausländerinnen und Ausländern (im Folgenden "ausländischer Personen") vertrete ich folgende Rechtsauffassung, wobei alle §§ ohne Bezeichnung solche des OEG sind:
Für alle Personen - egal ob mit ausländischer oder deutscher Staatsangehörigkeit (§ 1 Absatz 4) - gilt seit 1. Juli 2018 die gleiche Rechtslage und zwar - mangels neuer Stichtagsregelungen - auch für zurückliegende Taten.
So ist gemäß § 10 n. F. i. V. m. § 10a Absatz 5 und §§ 1 - 7 der Anspruch auf Berufsschadens- und Schadensausgleich bei Taten bis 15. Mai 1976 auf dem Gebiet der alten Bundesländer und bis 2. Oktober 1990 auf dem Gebiet der neuen Bundesländer für alle Personen ausgeschlossen (§ 10a Absatz 5), während bei Taten ab diesen Zeitpunkten auf den jeweiligen Gebieten die Ansprüche nach OEG für alle Personen gegeben sein können (§ 10), so auch z. B. der Anspruch auf Berufsschadens- und Schadensausgleich.
Sofern durch diese Rechtsänderung neue Ansprüche entstehen, sind sie gemäß § 10c nur auf Antrag festzustellen und die Zahlung beginnt frühestens mit dem Zeitpunkt des Inkrafttretens am 1. Juli 2018. Bereits als Härteausgleich geleistete Zahlungen (vgl. § 10b a. F.) sind bei der Berechnung zu berücksichtigen, Abfindungen gem. § 1 Absatz 7 a. F. hingegen nicht.
1. mögliche neue Ansprüche für zurückliegende Taten
Durch die Gesetzesänderungen zum 1. Juli 2018 können für bestimmte Gruppen von ausländischen Personen folgende - neue - Ansprüche entstehen:
a) für ausländische Personen gem. § 1 Abs. 5 und 6 a. F.
Die ausländischen Personen gem. § 1 Abs. 5 und 6 a. F. waren nicht privilegiert nach § 1 Abs. 4 a. F., aber mit rechtmäßigem Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland.
aa) Unter den Voraussetzungen, dass die Taten
- zwischen dem 16. Mai 1976 und 30. Juni 1990 und
- auf dem Gebiet der alten Bundesländer
begangen wurden, können diese Personen nun
- einen Anspruch auf Berufsschadens- und Schadensausgleich haben, wenn sie bisher Versorgungsleistungen aufgrund der Härteregelung gem. § 10 S. 3 a. F. i. V. m.§ 10a analog erhalten haben;
- einen Anspruch auf Versorgung nach dem OEG haben, wenn bisher die Voraussetzungen der Härteregelung gemäß § 10a Abs. 1 nicht erfüllt wurden (z. B. weil sie nicht bedürftig waren, vgl. § 10a Abs. 1 Nr. 2) und damit kein Anspruch auf Versorgung bestand.
bb) Des Weiteren können Personen nach 1 Abs. 5 Nr. 2 und Abs. 6 a. F. für Taten ab dem 16. Mai 1976 auf dem Gebiet der alten Bundesländer und ab dem 3. Oktober 1990 auf dem Gebiet der neuen Bundesländer einkommensabhängige Leistungen erhalten, die bisher gem. § 1 Abs. 5 Nr. 2 a. F. ausgeschlossen waren.
b) für ausländische Personen, die nicht unter § 1 Abs. 4, 5 oder 6 a. F. gefallen sind
Bei ausländischen Personen, die nicht unter § 1 Abs. 4, 5 oder 6 a. F. gefallen sind, handelte es insbesondere um solche ohne rechtmäßigen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland.
Diese Personengruppe hatte bis zum 30. Juni 2018 überhaupt keine Ansprüche und kann nun seit 1. Juli 2018 alle Ansprüche nach dem OEG geltend machen - in Ermangelung einer neuen Stichtagsregelung für diese Personengruppe auch für Taten vor dem 1. Juli 2018. Lediglich die allgemein geltenden Stichtagsregelungen gem. § 10 n. F. müssen berücksichtigt werden.
Das bedeutet, dass dieser Personenkreis erstmalig geltend machen kann:
- alle Ansprüche nach dem OEG bei Taten
- ab dem 16. Mai 1976 auf dem Gebiet der alten Bundesländer und
- ab dem 3. Oktober 1990 auf dem Gebiet der neuen Bundesländer. - Ansprüche aus der Härteregelung gem. § 10a (i. V. m. § 10 n.F.) - d. h. unter Ausschluss des Berufsschadens- und Schadensausgleichs -, bei Taten
- zwischen dem 23. Juni 1949 bis 15. Mai 1976 auf dem Gebiet der alten Bundesländer
- zwischen dem 7. Oktober 1949 bis 2. Oktober 1990 auf dem Gebiet der neuen Bundesländer.
2. Antragserfordernis und Leistungsbeginn
Die unter 1. genannten Ansprüche sind gem. § 10c S. 1 nur auf Antrag festzustellen, da es sich um neue Ansprüche handelt, die sich auf Grund einer Änderung des OEG ergeben.
Ich empfehle, Personen, die bereits Anspruch auf laufende Zahlungen haben, auf die geänderte Rechtslage und die Möglichkeit der Antragsstellung hinzuweisen. Da das Änderungsgesetz am 27. April 2020 im Bundesgesetzblatt verkündet wurde, endet die - für einen möglichen rückwirkenden Zahlungsbeginn - ausschlaggebende Jahresfrist gem. § 10c Satz 2 am 27. April 2021.
Hinsichtlich des Leistungsbeginns ist § 1 Abs. 1 OEG i. V. m. § 60 Abs. 1 BVG i. V. m. § 10c S. 2 OEG zu beachten, so dass die Leistungen für neue Ansprüche frühestens ab dem 1. Juli 2018 zu erbringen sind.
3. Berücksichtigung von bis 30.6.2018 bewilligten Leistungen nach § 10b a. F. (Härteausgleich) und § 10a i. V. m. § 1 Abs. 7 a. F. (Abfindung bei dauerhaftem oder längerfristigem Verlassen des Bundesgebietes)
In den Fällen des Härteausgleichs gem. § 10b a. F. und der Abfindung bei dauerhaftem oder längerfristigem Verlassen des Bundesgebietes gem. § 1 Abs. 7 a. F. wurden diese Leistungen als Einmalleistungen erbracht. Während eine Anrechnung der geleisteten Zahlungen bei Härteausgleichsfällen möglich ist, kann eine Anrechnung der Abfindung bei dauerhaftem oder längerfristigem Verlassen des Bundesgebietes nicht erfolgen:
a) Härteausgleich
Mit der Rechtsänderung zum 1. Juli 2018 entsteht bei den o. g. Fällen des Härteausgleichs gem. § 10b a. F. erstmalig ein Anspruch auf Leistungen nach OEG. Eine mögliche Abgeltungswirkung des Härteausgleichs wurde nicht geregelt, so dass entsprechende Anträge nicht mit dem Hinweis auf bereits abgegoltene Ansprüche abgelehnt werden können. Eine Anrechnung der bereits geleisteten Zahlungen ist jedoch vorzunehmen, da keine Doppelleistung beabsichtigt ist.
b) Abfindung
Im Gegensatz zum Härteausgleich ist die Abfindung bei dauerhaftem oder längerfristigem Verlassen des Bundesgebietes (§ 1 Absatz 7 a. F.) nicht anzurechnen.
Der Berechnung der Abfindung liegen ursprünglich bestehende Ansprüche nach dem OEG zugrunde. An diesen bestehenden Ansprüchen hat sich mit der Rechtsänderung zum 1. Juli 2018 jedoch nichts geändert, insbesondere handelt es sich nicht um neue Ansprüche. Diese ursprünglich bestehenden Ansprüche wurden nach der im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung maßgeblichen Fassung der Vorschriften des OEG wirksam und endgültig abgefunden. Ein „Aufleben“ der abgefundenen Ansprüche erfolgt nicht. Es mangelt daher bereits an Ansprüchen, auf die die Abfindung angerechnet werden könnte.
Demgegenüber sind - aufgrund der Rechtsänderung - tatsächlich neu entstandene Ansprüche in der Abfindung nicht berücksichtigt. Mangels innerem Zusammenhang zwischen neuen Ansprüchen und Abfindung kann letztere nicht auf diese neu entstandenen Ansprüche angerechnet werden kann.