- Anfang:
- 13.12.2022
- Ende:
- 13.12.2022
- Redner*in:
- Bundesminister Hubertus Heil
Sehr geehrte Frau Denz,
sehr geehrte Frau von Siemens,
lieber Oliver Günther,
Exzellenzen,
Präsidentinnen und Präsidenten,
liebe Preisträgerinnen und Preisträger,
meine sehr geehrten Damen und Herren!
Ich habe eben gedacht, Frau Denz, in der langen Aufzählung großer Menschen waren ganz schön viele Niedersachsen dabei, was mich sehr stolz gemacht hat. Jedenfalls Menschen, die Stationen in Niedersachsen hatten. Gaus, Sie selbst, jetzt in Braunschweig tätig, Herr Hell, wir haben uns in Göttingen kennengelernt. Aber wir alle wissen, es gibt auch andere Landesteile. Also schönen Gruß an alle, die rheinland-pfälzischen Migrationshintergrund haben!
Aber meine Damen und Herren, ganz im Ernst: Was könnte es für einen tolleren Tag geben, als den 13. Dezember. Nicht nur des Geburtstags von Werner von Siemens wegen. Sondern weil der 13. Dezember auch in anderer Hinsicht ein historischer Tag ist.
Vor über 130 Jahren wurde hier in Berlin Technikgeschichte geschrieben. Und zwar genau an diesem Ort, der Akademie der Wissenschaften. Und an genau diesem Tag, dem 13. Dezember. Und zwar, Frau Denz, ein Jahr bevor die physikalisch-technische Reichsanstalt gegründet wurde, nämlich im Jahr 1886.
Damals, im Jahr 1886, gab der Physiker Heinrich Hertz eine wissenschaftliche Sensation bekannt: die Entdeckung der elektromagnetischen Wellen. Also in einer Zeit, während die zweite industrielle Revolution mit Fließbandarbeit und Massenproduktion gerade erst etwas Fahrt aufnahm, wurden hier, an diesem Ort, bereits die Grundlagen für die dritte und vierte industrielle Revolution gelegt.
Es war die Geburt der drahtlosen Kommunikation, der modernen Informationstechnik. Eine Technologie, ohne die unser heutiges Leben nicht mehr vorstellbar wäre. Allerdings: Der Begriff "Sprunginnovationen" war damals noch nicht so richtig verbreitet. Doch schon immer waren große Entwicklungssprünge das Ergebnis genialer Ideen. Der Buchdruck, die Dampfmaschine, die Glühbirne, der Dynamo – natürlich eine Erfindung von Werner von Siemens, – aber auch der erste Computer von Konrad Zuse. Oder, um ein jüngeres Beispiel zu nehmen, der Durchbruch der Bilderkennung auf Grundlage Künstlicher Intelligenz vor genau zehn Jahren.
Aber es geht weiter, meine Damen und Herren. Und es geht immer weiter: Täglich wird an neuen, bahnbrechenden Lösungen gefeilt. In der IT, in der Biotechnologie, in der Nanophysik. Und nicht selten folgt auf Innovation auch Revolution. Was der ersten, zweiten, dritten und vierten industriellen Revolution gemein ist: Sie brachten Fortschritt. Zunächst nur technologisch, dann auch ökonomisch. Doch die Folge – und das muss ein Arbeits- und Sozialminister hervorheben – war dann auch sozialer Fortschritt. Allerdings nicht immer von alleine, es musste viel dafür gekämpft werden.
Es ist heute interessanterweise genau dieser soziale Fortschritt, der heute nicht nur Folge sondern auch grundlegende Bedingung ist für Wachstum und Wohlstand. Jedenfalls ist das Bekenntnis zum Fortschritt in unserem Land überlebensnotwendig, wenn wir ein modernes Land bleiben wollen. Und das sage ich gerade in diesen Tagen. In diesen Zeiten ist das Bekenntnis zu einem umfassenden Fortschrittsbegriff auch ein politisches Statement – in einer Zeit, in der Revanchismus, Nationalismus, der Bruch des Völkerrechts, die Missachtung von grundlegenden Menschen- und Freiheitsrechten zunehmen. Nicht nur durch den russischen Angriffskrieg. Sondern auch zum Beispiel in einem Wissenschaftsland wie dem Iran.
Meine Damen und Herren, aber klar ist, dass Fortschritt immer auch Forschung braucht! Deshalb ist es gut, dass wir in Deutschland exzellente Forscherinnen und Forscher haben. - Und es mir eine große Ehre und eine große Freude, an dieser Veranstaltung teilnehmen zu dürfen.
Die Forscherinnen und Forscher, die heute ausgezeichnet werden, haben wirklich Großartiges, man muss sagen Revolutionäres, geleistet – nicht nur in ihrer Disziplin und für ihre Disziplin. Sondern für uns alle. Nicht nur als Volkswirtschaft, als Gesellschaft, sondern auch als Weltgesellschaft. Sie haben Geheimnisse der Natur entschlüsselt und sind vorgedrungen in bisher nicht bekanntes Terrain. Oder, um eine alte Fernsehsendung zu zitieren, in unendliche Weiten. Sei es auf dem Gebiet der mRNA, oder der Mikroskopie. Sie haben Zeit, Kraft und Geld investiert, und zwar ohne Garantie auf Erfolg. Und ja, Sie haben wahrscheinlich auch Rückschläge ertragen. Sie waren mutig und ausdauernd. Von diesem Engagement profitieren wir alle. Dafür sind wir Ihnen, liebe Preisträgerinnen und Preisträger, sehr dankbar. Man mag sich die Welt gar nicht mehr ohne Ihre Erfindungen vorstellen. Das meine ich sehr ernst.
Innovationen machen uns stark für die Zukunft. Aber sie machen uns auch stark in Krisen. In der Pandemie ist uns das allen auf furchtbare Art und Weise bewusstgeworden. Und auf glückliche Art und Weise. Denn Forschung ist nicht nur Kür, sondern Pflicht in einem hochentwickelten Land. Sie machen uns also nicht nur zukunftsfähig, sondern auch widerstandsfähig in schwierigen Zeiten – um den in diesen Tagen oft strapazierten Begriff der Resilienz zu stressen.
Lassen Sie mich noch einen Gedanken festhalten, der mich besonders beschäftigt und mir sowohl politisch als auch persönlich sehr am Herzen liegt. Gute Forschung braucht die Ausstattung mit entsprechenden Ressourcen. Und bevor Sie jetzt Finanzverhandlungen mit mir führen wollen – ich sehe die Präsidentinnen und Präsidenten der großen außeruniversitären Forschungseinrichtungen und -gemeinschaften – ich meine ich nicht nur die Ausstattung mit finanziellen Mitteln. Ich meine die berühmten Human Ressources. Die Arbeits- und Fachkräfte in diesem Land. Ich sage das in vollem Bewusstsein, dass wir uns nicht auf dem ausruhen dürfen, was uns stark gemacht hat in unserem Land.
Wir müssen offen – und ich füge hinzu noch offener – werden für kluge Köpfe aus aller Welt. Und das heißt auch, dass wir uns in diesen Tagen sehr deutlich zur Einwanderung und Zuwanderung bekennen müssen. Wir erleben es leider zu häufig, dass Qualifizierte einen Bogen um unser Land machen. Und das nicht nur wegen des Wetters und der Sprache. Und es gibt eine weitverbreitete Illusion, leider noch in größeren Teilen unserer Gesellschaft, dass alle qualifizierten Arbeits- und Fachkräfte sich nichts sehnlicher wünschen, als zu uns zu kommen. Man kann mathematisch nachweisen, dass wir ein paar Nachteile haben.
Nur etwa 100 Millionen Menschen auf dieser Welt sprechen unsere wunderbare Sprache. Und 80 Millionen wohnen schon hier. Und ein paar noch in Österreich und in der Schweiz. Das heißt, wir haben im Verhältnis zu anderen, klassischen Einwanderungsländern, angelsächsischen Ländern oder auch frankophonen Ländern oder spanischsprechenden Ländern schon einen gewissen Wettbewerbsnachteil.
Es liegt auch an Bürokratie und Rahmenbedingungen, dass Menschen einen Bogen um unser Land machen. Das aber sind Dinge, die wir ändern können, im Gegensatz zu Sprache und Wetter. Und an denen müssen wir arbeiten. Deutschland muss attraktiver werden für Qualifizierte aus der gesamten Welt. Und ich will das sagen mit Blick auf etwas, das ich als Arbeits- und Sozialminister sehr gute kenne: nämlich die Demografie unseres Landes.
Das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung – jetzt muss ich mal ein bisschen angeben: auch eine hochdekorierte Wissenschaftseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit – hat hochgerechnnet, dass uns bis 2035 in Deutschland 7 Millionen Arbeits- und Fachkräfte fehlen. Und wer sich im Moment schon über Arbeits- und Fachkräftememangel in verschiedensten Teilen der Wirtschaft als Wachstumsbremse beklagt, der weiß: die eigentliche Aufgabe liegt noch vor uns.
Ab 2025 wird die Generation der Babyboomerinnen und Babybooomer in den wohlverdienten Ruhestand gehen – also der vor 1964 Geborenen. Ich bin Jahrgang 1972, von mir gibt es schon ein paar weniger. Dazwischen war auch eine Sprunginnovation – nämlich die Pille. Und das wächst sich so durch. Wir müssen Antworten darauf finden und die Antworten finden sich darin, dass wir tatsächlich beides tun müsen: alle inländischen Potenziale zu nutzen und zu heben. Und qualifizierte Zuwanderung zu organisieren.
Wer etwas erreichen will mit Talent und Tatkraft, der soll es hier in Deutschland versuchen können. Davon profitieren auch innovative Unternehmen wie Biontech. Und damit wir alle!
Aber es geht nicht nur um Einwanderung. Es ist genauso wichtig, dass wir jedem eine Chance geben, der schon hier ist. Ich spreche über soziale Durchlässigkeit und unser Bildungssystem. Es ist kein guter Befund, dass in Deutschland Talent und Leistung nicht so stark zählen wie Herkunft. Und wir können uns das weder gesellschaftlich noch ökonomisch leisten.
Das fängt an in unseren Kitas, Familien und Schulen. Das setzt sich fort bei Fragen der Berufsorientierung an Schulen. Wenn Sie mich persönlich fragen: ich wünsche mir in jeder Schule in Deutschland, egal welche Schulform, ab der 5. Klasse Berufsorientierung. Mein Kind hat gerade so ein Fach. Mein Sohn ist 10 Jahre alt und hat ein Fach das heißt "Arbeit Technik Wirtschaft". Ich glaube es wird ihm nicht schaden.
Aber ich wünsche mir das für alle. Ob sie dann einen beruflichen oder einen akademischen Bildungsweg, oder einen hybriden Weg einlegen, ist nicht die entscheidende Frage. Aber wir haben viel zu viele, die auf der Strecke bleiben.
Wir reden über Arbeits- und Fachkräftemangel aber haben jedes Jahr 45.000 Schülerinnen und Schüler ohne Schulabschluss.
Wir reden über Arbeits- und Fachkräftemangel aber haben 1,3 Millionen Menschen zwischen 20 und 30 ohne berufliche Erstausbildung.
Wir reden über Arbeits- und Fachkräftemangel und haben ein ungehobenes Potenzial an gut ausgebildeten Frauen in Deutschland, die zwar auf den ersten Blick was die Erwerbsbeteiligung betrifft inzwischen am Arbeitsmarkt viel präsenter sind als noch vor 20, 30 Jahren. Aber wenn man sich das Arbeitszeitvolumen anguckt, erlebt man doch eher Männer in Vollzeit und Frauen oft in ungewollter Teilzeit.
Wir werden all die Register im Inland ziehen müssen und doch brauchen wir massiv qualifizierte Zuwanderung und das ist der Grund warum wir als Bundesregierung Eckpunkte für ein Einwanderungsgesetz beschlossen haben. Und ich bitte Sie um Unterstützung in der Debatte, die darauf folgt. Weil Migrationsdebatten nie einfach sind für eine Gesellschaft.
Wir müssen nicht nur ein Gesetz machen. Wir müssen nicht nur, wie in der Vergangenheit, qualifizierte Zuwanderung irgendwie bürokratisch hinnehmen. Wir müssen sie wollen. Und zwar gesellschaftlich und übrigens auch in der Administration.
Was nützt das modernste Einwanderungsgesetz, wenn wir unglaublich lange brauchen, um Visa zu erteilen. Was nützt es, ein besseres Einwanderungsgesetz zu haben und so – mit Verlaub – lahm zu sein, wie wir es sind, was die Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen betrifft. Und was nützt das modernste Einwanderungsgesetz, wenn man nicht den alten Satz beherzigt: "Es kommen nicht nur Arbeitskräfte, es kommen Menschen". Und wir werden Integration nicht nur anbieten – wir werden einladen müssen.
Ich bin der festen Überzeugung, dass uns das gelingen kann und gelingen wird in Deutschland. Und dass die Tatsache, dass es uns in der Vergangenheit nicht gelungen ist, keine Ausrede ist, es nicht anzugehen.
Und ich werbe ganz bewusst bei den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und bei den Unternehmerinnen und Unternehmern, weil die heute hier sind, dafür, dieses politische Projekt in unserem allgemeinen, eigenen Interesse zu unterstützen, damit wir ein Fortschrittsland bleiben. Denn Integration schafft auch Innovation!
Lieber Herr Şahin, liebe Frau Türeci, liebe Frau Karikó, lieber Herr Huber, Sie haben ja jetzt alle wie gesagt einen rheinland-pfälzischen Migrationshintergrund. Aber Sie sind die lebenden Beispiele dafür, dass ein Land, das nicht nur technologischen Fortschritt haben will, sondern auch auf wirtschaftlichen und sozialen, von Vielfalt lebt und nicht von Einfalt. Und von Ihren guten Bespielen müssen wir ein bisschen mehr in Deutschland lernen. Das ist meine feste Überzeugung.
Der Ökonom Richard Florida hat vor 20 Jahren mal ein Buch geschrieben über das Aufkommen einer kreativen Klasse. Und als Sozialdemokrat bin ich kein Fan von Klassen, außer es geht um die Schulen meiner Kinder. Aber er sprach in seinem Buch über "the rising of the creative class", über Standortbedingungen, die einem modernen Staat, eine moderne Volkwirtschaft, eine offene Gesellschaft ausmachen. Und er hat von 3 "T’s" gesprochen, die man braucht, um erfolgreich zu sein in der Zukunft. Von Technologie, von Talenten und von Toleranz. Und ich finde, das ist in dem Sinne dessen, was ich gerade beschrieben habe.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Wir reden in diesen Tagen sehr viel über große Probleme. Über steigende Preise. Über mangelnde Fachkräfte. Über Lieferengpässe. Und keine Frage: die Krisenbewältigung ist das Gebot der Stunde. Denn wir dürfen nicht zulassen, dass Putin mit dem Einsatz von Gas als Waffe unsere Gesellschaft spaltet und wirtschaftlich so beschädigt wie er es vorhat – das ist keine Verschwörungstheorie, das sind seine eigenen Reden –, damit unsere Solidarität mit der Ukraine zusammenbricht. Aber bei aller Notwendigkeit, Krisenmanagement zu betreiben, in Unternehmen, in der Politik, im Staat Wir müssen nicht nur Krise meistern, wir müssen Fortschritt machen, um ein starkes Land zu bleiben.
Und, meine Damen und Herren, jetzt mal ein Nicht-Naturwissenschaftler-Zitat, im besten Sinne dessen, was Bertold Brecht in seiner berühmten Kinderhymne bezeichnet: "Und weil wir unser Land verbessern // behüten und beschirmen wir's // Und das Beste mag's uns scheinen // wie andern Ländern ihrs."
In diesem Sinne setzt der Werner-von-Siemens-Ring ein deutliches Zeichen in dieser Zeit. Mein herzlicher Dank an diejenigen, die das vorbereitet haben. Mein ganz großer Dank und Respekt an die wunderbaren Preisträgerinnen und Preisträger. Herzlichen Glückwunsch zur Auszeichnung!