- Datum:
- 06.03.2024
Tagesspiegel: Herr Heil, wie erklären Sie Ihren beiden Kindern, dass sie für die Rentengarantie, die Sie gerade verkündet haben, teuer werden bezahlen müssen.
Hubertus Heil: Ich würde ihnen das so erklären: Es geht darum, dass sich alle Generationen auf die Rente im Alter verlassen können. Nicht nur die Großeltern und die heutigen Eltern, sondern auch die Kinder. Deshalb stärken wir die Rente und sichern das Rentenniveau. Es geht eben nicht allein um die Rentnerinnen und Rentner von heute, sondern auch um die heute Beschäftigten. Ich mache es mal an einem praktischen Beispiel fest. Eine heute 49-jährige Krankenschwester mit einem Verdienst von 3.100 Euro brutto wird, wenn sie 2040 in Rente geht, dank der Rentengarantie 1.100 Euro mehr im Jahr bekommen. Weil das Rentenniveau bis dahin nicht absinkt, sondern durch unsere Garantie stabilisiert wird.
Tagesspiegel: Die Bevölkerung wird immer älter, das belastet die Rentenkasse. Sie verschieben die bewährte Balance, wie diese Kosten verteilt werden, zu Lasten der Jüngeren. Wie kann das fair sein?
Heil: Das ist nicht richtig. Und es ist falsch, Generationen gegeneinander ausspielen. Ohne das Rentenpaket müssten jüngere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer höhere Beiträge zahlen, immer länger arbeiten und hätten niedrige Renten. Das wäre tatsächlich ungerecht - und das werden wir verhindern. Es geht um Sicherheit für alle Generationen.
Tagesspiegel: Jeder vierte Euro aus dem Bundeshaushalt geht in die Rentenkasse. Ihr Rentenpaket wird die Kosten weiter steigen lassen. Gibt es eine Belastungsgrenze?
Heil: Wir können uns nicht alles Gewünschte leisten. Deshalb kann ich nicht versprechen, dass es in den nächsten Jahren ein höheres Rentenniveau gibt, wie es sich Einige wünschen. Aber wir müssen sicherstellen, dass auch die Rentnerinnen und Rentner nicht von der allgemeinen Lohnentwicklung abgekoppelt werden oder Beschäftigte von heute arbeiten, bis sie umfallen. Das würde die Gesellschaft auseinandertreiben.
Tagesspiegel: Der Rat der Wirtschaftsweisen hält Ihre Rentengarantie für falsch. Haben die alle in ihrem VWL-Studium schlecht aufgepasst?
Heil: Forderungen aus dem Rat nach einem noch höheren gesetzlichen Rentenalter sind in jedem Fall der falsche Weg. Sehr viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer können nicht bis 68, 69 oder 70 arbeiten. Für viele, etwa Schichtarbeiter, Beschäftigte in der Lagerlogistik oder im Einzelhandel, für Kitaerzieher, Handwerker oder Pflegekräfte wäre das in der Realität nichts anderes als eine Rentenkürzung, weil die Beschäftigten es schlicht nicht mehr schaffen. Im Übrigen tun wir etwas, damit die Rentenbeiträge nicht ungebremst steigen. Mit dem Generationenkapital legen wir jetzt Geld an. Die Erträge daraus werden mithelfen, den Anstieg der Beitragssätze abzudämpfen.
Tagesspiegel: Beim Generationenkapital wetten Sie darauf, dass mit einer guten Anlagestrategie mehr Rendite zu machen ist als der Staat Schulden für das geliehene Kapital zu zahlen hat. Was ist, wenn die Wette schiefgeht?
Heil: Im Generationenkapital werden Mittel langfristig angelegt, um aus den Erträgen die Rentenkasse zu unterstützen. Es geht also nicht um kurzfristige Spekulationen. Dazu werden keine Beitragsmittel aus der Rentenversicherung verwendet. Das war mir wichtig.
Tagesspiegel: Die Kritik daran ist nahezu einhellig: In der nun beschlossenen Dimension bringt das Generationenkapital so gut wie nichts. Warum geschieht das nicht gleich mit mehr Finanzmitteln?
Heil: Wir haben ein vernünftiges Gesamtpaket. Um die gesetzliche Rente stabil zu halten, wird sie künftig auf drei Säulen stehen: Sozialversicherungsbeiträgen, einem Bundeszuschuss und ergänzend den Erträgen des Generationenkapitals. Das ist ein sicherer Weg. Forderungen aus der CDU von Friedrich Merz, die Rente radikal auf Kapitalmärkte abzustützen, das Rentenniveau abzusenken und die Lebensarbeitszeit für alle zu verlängern würden letztlich auf eine Privatisierung von Lebensrisiken hinauslaufen. Das wäre ein fataler Weg.
Tagesspiegel: Sie sind gegen radikale Änderungen am Rentensystem, aber die Fakten sind radikal: Im Jahr 2020 kamen auf 100 Beitragszahler noch 57 Rentner, im Jahr 2050 werden es 77 sein. Woher nehmen Sie den Optimismus, dass sich das System ohne Einschnitte stabil halten lässt?
Heil: Es gab vor zehn Jahren Propheten, die bereits für das Jahr 2024 einen deutlich höheren Rentenbeitrag von über 20 Prozent und ein deutlich niedrigeres Rentenniveau prognostiziert haben. Sie haben Unrecht behalten. Warum? Weil wir heute ungefähr fünf Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigte mehr haben als damals prognostiziert.
Das heißt für die Zukunft: Wir müssen weiter unsere Hausaufgaben am Arbeitsmarkt machen. Je mehr Menschen in Arbeit sind, desto stabiler ist das Rentensystem. Wir müssen also die Arbeits- und Fachkräftebasis sichern, mit Aus- und Weiterbildung, mit noch mehr Erwerbsbeteiligung von Frauen und Älteren und mit der notwendigen Fachkräfteeinwanderung. Dafür haben wir die Weichen gestellt.
Tagesspiegel: Die Arbeitgeber kritisieren, dass der Fachkräftemangel schon jetzt riesengroß sei und der Staat durch die Rente mit 63 gleichzeitig Anreize bietet, um früher in Rente zu gehen. Sie sind ja nicht nur Sozial-, sondern auch Arbeitsminister. Setzen Sie Fehlanreize?
Heil: Die Wahrheit ist: Heute arbeiten deutlich mehr ältere Menschen als noch vor 20 Jahren. Das tatsächliche Renteneintrittsalter liegt heute im Schnitt bei 64,4 Jahren. Und das gesetzliche Renteneintrittsalter wird auf 67 Jahre steigen. Dass aber Menschen, die über 45 Jahre gearbeitet haben, mit 64 oder 65 abschlagfrei in Rente gehen können, ist ein Gebot der Fairness.
Tagesspiegel: Also keine Reformen mehr?
Heil: Statt einer weiteren Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters über 67 hinaus setzen wir auf flexiblere Übergänge in den Ruhestand. Es geht darum, dass Menschen tatsächlich länger arbeiten können und um mehr Anreize, freiwillig länger zu arbeiten. Darüber führen wir einen Dialog mit Arbeitgebern und Gewerkschaften. Im Sommer werden wir Vorschläge machen.
Tagesspiegel: Herr Heil, Sie sagten kürzlich, dass Bürgergeld sei kein bedingungsloses Grundeinkommen. Warum konnte dieser Eindruck entstehen, sodass sich der zuständige Minister zur Klarstellung genötigt sieht?
Heil: Weil viele Falschmeldungen über das Bürgergeld verbreitet wurden. Im Herbst etwa hat die CDU behauptet, das Bürgergeld führe zu Massenkündigungen. Jetzt zeigen die Zahlen, dass das Gegenteil der Fall ist und so wenige Menschen aus Arbeit ins Bürgergeld gehen wie seit 2005 nicht mehr. Das Bürgergeld hat zwei Aufgaben: Es sichert das Existenzminimum - nicht mehr und nicht weniger. Und es hilft, die Erwerbsfähigen besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Das alte Hartz-IV-System hat das nicht mehr geschafft.
Tagesspiegel: Was funktioniert aus Ihrer Sicht besser?
Heil: Zwei Drittel der Langzeitarbeitslosen haben keine abgeschlossene Berufsausbildung. Das Bürgergeld gibt den Menschen die Chance, sich zu qualifizieren oder einen Berufsabschluss nachzuholen, um so dauerhaft am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Ich war immer dafür, dass es dafür eine Mitwirkungspflicht und im Zweifelsfall Sanktionen gibt. Wir haben das deshalb nochmal verschärft. Aber das betrifft einen kleinen Teil von Leuten. Die meisten wollen raus aus der Unterstützung, und denen wollen wir besser helfen.
Tagesspiegel: Die FDP fordert jetzt, das neu ankommende Ukrainer nicht mehr Bürgergeld bekommen sollen, sondern wie Asylbewerber behandelt werden. Auch in der SPD gibt es solche Überlegungen. Ist es an der Zeit dafür?
Heil: Mir geht es vor allem darum, mehr Ukrainerinnen und Ukrainer, die vor Putins Krieg geflohen sind, in Arbeit zu bringen. Es ist richtig, das über die Jobcenter zu machen. 200.000 Ukrainer haben inzwischen einen Sprachkurs hinter sich. Und 160.000 haben wir schon in Arbeit gebracht. Das ist der richtige Weg.
Tagesspiegel: Seit Monaten wird darüber diskutiert, ob sich Arbeit gar nicht mehr wirklich lohnt durch das Bürgergeld und andere Sozialleistungen wie das Wohngeld ...
Heil: ... Arbeit lohnt sich immer! Das haben inzwischen mehrere Gutachten wissenschaftlich erwiesen. Wir wollen dafür sorgen, dass der Abstand zwischen Verdienst und Bürgergeld größer wird. Das schafft man aber nicht, indem man verfassungswidrig das Existenzminimum herunterrechnet.
Tagesspiegel: Wie dann?
Heil: Damit Arbeit sich mehr lohnt, haben wir den Mindestlohn erhöht, Steuern und Sozialversicherungsbeiträge für Geringverdiener gesenkt, das Kindergeld erhöht und das Wohngeld für fleißige Menschen deutlich angehoben. Ich will, dass Arbeit einen Unterschied macht, dass Leistung sich lohnt. Das bringt unsere Gesellschaft voran.
Tagesspiegel: Arbeit muss sich lohnen, sagen Sie. Doch ein Gutachten im Auftrag Ihres eigenen Hauses hat gezeigt, dass das oft nicht gilt. Für eine vierköpfige Familie in München macht es zum Beispiel keinerlei Unterschied, ob die Erwachsenen 3500 oder 5000 Euro brutto selbst erarbeiten. Denn die verschiedenen Sozialleistungen, die schlecht aufeinander abgestimmt sind, werden so ungeschickt abgeschmolzen, dass am Ende dasselbe netto auf dem Konto ist. Was wollen Sie dagegen tun?
Heil: Das Beispiel zeigt vor allem, dass für normale Menschen in München die Mieten zu hoch sind. Die Studie sagt aber für Deutschland vor allem eines: Arbeit macht immer einen Unterschied zur Grundsicherung. Die spannende Frage ist, ob es sich ausreichend lohnt, mehr zu arbeiten. Ein Weg dahin sind mehr Tariflöhne. Deshalb werden wir ein Gesetz vorlegen, das dafür sorgt, dass wir Anreize für mehr Tarifbindung schaffen und zum Beispiel öffentliche Aufträge nur noch an Unternehmen vergeben, die nach Tarif bezahlen.
Tagesspiegel: Dass die Hilfesysteme schlecht aufeinander abgestimmt sind, ist nicht das Problem?
Heil: Wir werden uns die Hinweise des Gutachtens in der Koalition genau anschauen. Mit der Bürgergeldreform haben wir bereits Hinzuverdienstmöglichkeiten beim Bürgergeld erhöht, damit sich Arbeit mehr lohnt. Und wir haben zum Beispiel dafür gesorgt, dass Menschen mit einem Einkommen von unter 2000 Euro weniger Sozialversicherungsbeiträge zahlen, ohne dass sich ihr sozialer Schutz verschlechtert. Wir haben also dafür gesorgt, dass Menschen netto mehr in der Tasche haben und sich Arbeit mehr lohnt.
Tagesspiegel: Wie kann eine Reform aussehen?
Heil: Das werden wir in der Koalition miteinander besprechen.
Tagesspiegel: Herr Heil, an allen Ecken fehlt dem Staat Geld. Ihr Etat macht 40 Prozent des gesamten Bundeshaushaltes aus. Braucht es eine Zeitenwende im Sozialetat?
Heil: Die Zeitenwende betrifft die gesamte Gesellschaft. Aber wir dürfen äußere Sicherheit jetzt nicht gegen soziale Sicherheit ausspielen. Putin greift nicht nur militärisch die Ukraine an. Er greift uns wirtschaftlich an und will unser Land destabilisieren. Eine starke Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik leistet gerade in dieser Situation einen Beitrag, um unser Land zusammenzuhalten.
Tagesspiegel: Sie wollen also keinen Cent im Sozialen sparen?
Heil: Jeder weiß, dass wir nicht uns alles leisten können, dass man haushaltspolitische Schwerpunkte setzen muss. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass man gerade in diesen bewegten Zeiten den Menschen nicht die soziale Sicherheit nehmen kann. Die Renten gegen die Rüstung auszuspielen, wäre der falsche Weg.
Tagesspiegel: Für den Haushalt 2025 fehlen 25 bis 30 Milliarden Euro, in diesen Tagen sollen die Sparvorgaben von Herrn Lindner kommen. An welcher Stelle sind Zugeständnisse möglich?
Heil: Auch mein Etat hat 2024 einen spürbaren Beitrag zur Haushaltskonsolidierung geleistet. Aber ein Großteil des Budgets steht den Menschen per Gesetz zu. Wir werden keine Leistungen kürzen, die den Bürgerinnen und Bürgern zustehen.
Tagesspiegel: Was ist dann möglich?
Heil: Die Haushaltsverhandlungen beginnen jetzt, und ich führe sie nicht öffentlich. Im Grundsatz gilt: Jeder muss einen Beitrag leisten. Wir müssen auch darüber reden, wie zielgenau bestimmte Leistungen sind. Aber noch mal: Kürzungen der sozialen Sicherheit wird es mit mir nicht geben. Die beste Möglichkeit in meinem Haushalt Kosten zu sparen, ist eine andere …
Tagesspiegel: Und zwar?
Heil: Wir müssen mehr Menschen aus der Bedürftigkeit in gut bezahlte Arbeit bringen. Darauf konzentriere ich mich.