- Datum:
- 18.11.2023
Welt am Sonntag: Herr Heil, ist die Rente noch sicher?
Hubertus Heil: Wir stellen die Weichen dafür, dass das Alterssicherungssystem verlässlich bleibt. Dabei gilt: Je stabiler der Arbeitsmarkt ist, desto stabiler ist auch die Rente. Da hat sich vieles gut entwickelt in den vergangenen Jahren: Wir haben heute über fünf Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte mehr als vor zehn Jahren prognostiziert, sodass der Rentenbeitrag relativ lange schon stabil bei 18,6 Prozent liegt. Aber: Die große Aufgabe liegt vor uns, die Generation der Babyboomer geht in Rente und dafür müssen wir im Rentenrecht, aber eben auch am Arbeitsmarkt unsere Hausaufgaben machen.
WamS: Die Wirtschaftsweisen haben einen radikalen Umbau vorgeschlagen: Menschen mit höheren Einkommen sollen Rentenansprüche an Menschen mit geringen Einkommen abtreten. Was halten Sie von solchen Vorschlägen?
Heil: Es gab unterschiedliche Stimmen der Sachverständigen in ihrem Bericht. Grundsätzlich muss es bei der gesetzlichen Rente beim Prinzip der Leistungsgerechtigkeit bleiben: Die, die viel gearbeitet haben, die viel eingezahlt haben, haben höhere Ansprüche als diejenigen, die wenig eingezahlt haben. Für den sozialen Ausgleich haben wir die Grundrente eingeführt. Damit diejenigen, die immer fleißig waren und sehr viel gearbeitet haben, ohne ein hohes Einkommen zu bekommen, besser abgesichert sind.
WamS: Das heißt, der soziale Ausgleich muss mit Steuergeld geschehen und nicht, indem man Ansprüche umverteilt?
Heil: Es bleibt richtig, dass die Rente überwiegend durch Sozialbeiträge finanziert und durch einen Steuerzuschuss ergänzt wird. Für den sozialen Ausgleich innerhalb der Rentensystematik haben wir zum Beispiel neben der Grundrente auch weitere Instrumente wie die Mütterrente. Gegen Altersarmut gibt es zudem die Grundsicherung im Alter, die aus Steuern finanziert wird.
WamS: Müssen die Deutschen länger arbeiten, um das Rentensystem stabil zu halten?
Heil: Das gesetzliche Renteneintrittsalter steigt ja schrittweise bis 2031 auf 67 Jahre. Aber für die Stabilität der Rente ist nicht ein fiktives gesetzliches Renteneintrittsalter wichtig, sondern das tatsächliche. Das liegt in Deutschland bei 64,4 Jahren, ist also über die vergangenen zwanzig Jahre stark gestiegen. Damals hatten wir eine Beschäftigtenquote der 60- bis 64-Jährigen von rund 12 Prozent, heute liegt dieser Anteil rund 50 Prozent. Wir brauchen flexible Übergänge in den Ruhestand, aber eine einfache Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 68, 69 oder 70 Jahre würde in vielen Berufen wie in der Pflege nichts Anderes bedeuten als eine Rentenkürzung. Ich halte das für wirklichkeitsfremd, deshalb wird es das mit mir nicht geben.
WamS: Können Sie verstehen, dass viele junge Leute gleich zwei Ängste haben: Selbst keine gesetzliche Rente mehr zu bekommen und gleichzeitig immer mehr für die Alten von ihrem Lohn abgeben zu müssen?
Heil: Ich kann verstehen, dass es eine Fülle von Sorgen in diesen Zeiten gibt. Deshalb werden wir mit dem Rentenpaket II die Rente ja für die heute junge Generation stabilisieren. Denn es bringt gar nichts, die Generationen gegeneinander auszuspielen. Ich kenne keine Rentnerin, die ihren Enkeln die Zukunft verbauen will. Und ich kenne keine jungen Leute, die den Älteren keine angemessene Rente gönnen. Es geht darum, den Generationenvertrag so zu erneuern, dass für die heute jungen Menschen auch eine ordentliche Rente zu erwarten ist. Daran arbeiten wir mit dem Rentenpaket II.
WamS: Die Ampel verliert in Umfragen deutlich an Zuspruch, das liegt auch an dem verbreiteten Gefühl, dass viele Menschen in unsere Sozialsysteme einwandern. Finden Sie es besorgniserregend, dass es inzwischen mehr Bürgergeldempfänger mit ausländischem als mit deutschem Pass gibt?
Heil: Die Rekordbeschäftigung, die wir haben, verdanken wir zu einem starken Teil der Zuwanderung. Also die meisten Menschen wandern in unseren Arbeitsmarkt ein und nicht in die Sozialsysteme. Aber ich bin froh, dass wir einen Schulterschluss zwischen Bund und Ländern über Parteigrenzen hinweg gefunden haben, die Dinge in der Migrationspolitik zu ordnen. Es geht um Dreierlei: Erstmal müssen wir unserer humanitären Pflicht gerecht werden, politisch Verfolgte und Kriegsflüchtlinge aufzunehmen. Dieses Land hat da Großes geleistet. Wir haben über 1,1 Millionen Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen. Zum Zweiten geht es darum, irreguläre Migration massiv zu reduzieren. Dazu haben wir eine ganze Menge vereinbart, zum Beispiel schnellere Rückführung von Menschen ohne Bleibeperspektive. Und es geht drittens um gesteuerte qualifizierte Einwanderung für unseren Arbeitsmarkt und darum, Geflüchtete mit Bleiberecht und Bleibeperspektive schneller in Arbeit zu bringen. So sorgen Bund und Länder für Humanität und Ordnung.
WamS: Aber ist es nicht ein Problem, wenn der Eindruck entsteht, dass unser Sozialsystem leicht ausgenutzt werden kann?
Heil: Sozialmissbrauch muss bekämpft werden. Es gilt die, die arbeiten können und eine Bleibeperspektive haben, in Arbeit zu bringen. Ich will es am Beispiel der Geflüchteten aus der Ukraine verdeutlichen, die vor Putins Angriffskrieg geflohen sind. Von den ukrainischen Geflüchteten im erwerbsfähigen Alter sind inzwischen rund 140.000 in Arbeit. Das reicht mir nicht, aber die Richtung stimmt. Mit dem Job-Turbo wollen wir jetzt deutlich mehr dieser Menschen schneller in Arbeit bringen. Die Chance dafür ist da, weil die Arbeitskräftenachfrage nach wie vor hoch ist und viele Geflüchtete inzwischen Kenntnisse der deutschen Sprache erworben haben.
WamS: Wie soll das gehen?
Heil: 100.000 Ukrainerinnen und Ukrainer haben die Integrationssprachkurse gerade absolviert, weitere 100.000 sind kurz davor. Gleiches gilt für rund 200.000 Erwerbsfähige aus anderen Herkunftsländern. Die Jobcenter werden diese in kürzeren und regelmäßigen Abständen einladen um ihnen möglichst zielgenaue Arbeitsangebote zu unterbreiten und sie auf dem Weg in Beschäftigung zu unterstützen. Gleichzeitig werden sie dabei auf ihre Eigenverantwortung und Mitwirkungspflichten hingewiesen. Wer nicht mitwirkt, erhält Leistungsminderungen. Damit der Job-Turbo gelingt, brauchen wir aber auch die Bereitschaft von Arbeitgebern, diese Menschen einzustellen, auch wenn sie bisher nur Grundkenntnisse der deutschen Sprache haben. Aber Deutsch lernt man nicht nur in Kursen, sondern auch während der Arbeit. Ich habe dazu am kommenden Montag die deutsche Wirtschaft und die Sozialpartner eingeladen. Ich bin froh, dass wir für die Umsetzung des Job-Turbos Daniel Terzenbach als Sonderbevollmächtigten der Bundesregierung gewinnen konnten. Er ist ein erfahrener Experte und verfügt als Vorstand der Bundesagentur für Arbeit über die notwendigen Managementfähigkeiten.
WamS: Wenn wir über Zuwanderung sprechen, ist Qualifikation nicht das einzige Kriterium. Ein aktuelles Thema ist auch die Frage, ob wir uns Antisemitismus ins Land holen. Müssen unsere Werte eine stärkere Rolle bei der Auswahl derer spielen, die wir anwerben?
Heil: In diesem Land gelten Regeln, und die gelten für alle – für Einheimische und für Zugewanderte. Richtig ist, dass die, die hier arbeiten, dauerhaft bleiben und Steuern zahlen, auch die Chance haben müssen, Teil der Gesellschaft zu sein. Dafür müssen sie sich allerdings auch zu unserer Werteordnung bekennen. Wir haben Erfahrungen mit Zuwanderern in Westdeutschland aus den 1960er- und 1970er-Jahren. Wir haben die Integration damals weder angeboten noch verlangt. Das muss jetzt anders sein.
WamS: Erleben Sie diese zunehmenden gesellschaftlichen Spannungen auch im Arbeitsumfeld? Ist der Betriebsfrieden gefährdet durch den Nahostkonflikt?
Heil: Antisemitismus und Israelfeindlichkeit darf nirgendwo toleriert werden, weder auf der Straße noch im Betrieb. Bislang haben wir für die Arbeitswelt keine konkreten Hinweise, es ist aber klar, dass wir ein waches Auge darauf haben müssen. Dass jüdische Einrichtungen in Deutschland geschützt werden müssen, ist per se schwer zu ertragen. Und dass Menschen jüdischen Glaubens Angst haben, sich zu ihrer Religion zu bekennen, ist nicht akzeptabel. Worte allein reichen da nicht aus. Gegen Rechtsbruch muss hart vorgegangen werden. Eine wehrhafte Demokratie darf so etwas nicht tolerieren.
WamS: Insgesamt gibt es in Deutschland so viele Erwerbstätige wie noch nie, aber die Produktivität sinkt trotzdem. Woran liegt das?
Heil: Noch nie waren so viele Menschen in Arbeit wie heute. Das ist ein großer Erfolg und zeugt von großer Leistungsbereitschaft. Wir haben 46 Millionen Erwerbstätige und 34,6 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigte. Das zeigt, dass wir nicht mehr die Massenarbeitslosigkeit von vor 20 Jahren haben. Gleichzeitig muss unser Wirtschaftsstandort wettbewerbsfähig und produktiv sein. Dafür sind Erneuerungen notwendig, zum Beispiel, indem wir stärker auf Digitalisierung setzen. Wir brauchen eine höhere Produktivität. KI ist hier eine Riesenchance: Sie kann helfen, menschliche Arbeit da zu konzentrieren, wo sie unerlässlich ist, und damit auch einen Beitrag zur Fachkräftesicherung leisten. Dafür ist es aber notwendig, Vertrauen zu schaffen. Wir müssen den Menschen im Hinblick auf die Digitalisierung Ängste und Sorgen nehmen: Uns wird auch mit KI die Arbeit nicht ausgehen.
WamS: Sie haben gerade gesagt, die Gesellschaft sei nicht faul, aber kürzlich sorgte im Internet das Video einer jungen Frau für Aufsehen, die jammerte, weil sie für ein Einstiegsgehalt von 36.000 Euro mit 30 Tagen Urlaub 40 Stunden pro Woche arbeiten sollte. Haben Sie dafür Verständnis?
Heil: Nein. Diese Gesellschaft darf zu ordentlicher Arbeit und Leistung kein gebrochenes Verhältnis bekommen. Arbeit bringt unser Land voran, Leistung bedeutet auch Anstrengung. Vielleicht sollte sie sich mal mit anderen Beschäftigten aus der Pflege, der Logistik oder dem Reinigungsgewerbe unterhalten. Wir dürfen aber nicht so tun, als sei so ein Video repräsentativ und alle jungen Menschen seien faul und wollten nicht arbeiten. Es gibt in jeder Generation Faule und Fleißige. Mein Eindruck ist, dass die junge Generation von heute vor allen Dingen mehr Orientierung braucht. Das heißt für mich vor allem bessere und frühere Berufsorientierung für alle.
WamS: Sie sagen, uns geht die Arbeit nicht aus und wir haben auch kein Problem mit Faulheit in der Gesellschaft und trotzdem gibt es Teile Ihrer Partei, die mit der Vier-Tage-Woche liebäugeln. Wie passt das zusammen?
Heil: Eine viel wichtigere Debatte wäre es, mal über Flexibilität im Erwerbsverlauf zu sprechen, ob man also in bestimmten Lebensphasen mehr arbeitet und in anderen weniger. Es gibt sehr unterschiedliche Gründe für die Debatte um eine Vier-Tage-Woche: Es gibt große Unternehmen wie Volkswagen, die damit schon mal Beschäftigung gesichert haben. Ich habe einen Handwerksbetrieb kennengelernt, der eine Vier-Tage-Woche eingeführt hat, um attraktiver zu sein für Arbeitskräfte. Und es gibt die Debatte über die Vereinbarkeit des Erwerbslebens mit dem anderen Teil des Lebens. Der Staat kann aber nur Rahmenbedingungen setzen, die Aufgabe, das Arbeitszeitvolumen zu vereinbaren, liegt bei den Sozialpartnern.
WamS: Klingt nicht so, als wären Sie ein Fan einer generellen Vier-Tage-Woche?
Heil: Das haben Sie richtig verstanden. Ein starres Arbeitszeitregime für alle Unternehmen und Beschäftigten wird es nicht geben. Die Aushandlung von passenden Lösungen ist Aufgabe von Wirtschaft und Gewerkschaften und liegt nicht beim Staat.
WamS: Die Debatte zeigt, dass in großen Teilen der Bevölkerung nicht angekommen ist, in was für einer wirtschaftlichen Lage wir uns befinden: Die Wirtschaft stagniert, die Industrie droht abzuwandern. Liegt das auch daran, dass es trotz der Krise kaum Arbeitslosigkeit gibt?
Heil: Es war richtig, dass wir mit dem massiven Einsatz von Kurzarbeit während der Coronakrise und angesichts des russischen Angriffskrieges den deutschen Arbeitsmarkt stabil gehalten haben. Das war eine große Leistung und ist ein großer Erfolg. Allerdings können wir uns darauf nicht ausruhen. Deutschland braucht in vielerlei Hinsicht eine Erneuerung. Das betrifft das Thema Arbeits- und Fachkräftesicherung, die Fragen, in welcher Geschwindigkeit wir Planungs- und Genehmigungsverfahren abwickeln, wie wir Bürokratie abbauen und wie wir gezielte Einwanderung organisieren und steuern. Eines will ich aber auch ganz klar sagen: Dieses Land ist nicht der kranke Mann Europas. Wir haben Rekordbeschäftigung, nie zuvor haben mehr Menschen in diesem Land gearbeitet. Ich finde es wichtig, dass wir in der Betrachtung der Probleme ein realistisches Bild haben und uns weder zurücklehnen noch uns in den Untergang reden. Diese Bundesregierung geht unter schwierigen Umständen die wirtschaftliche Modernisierung des Landes an.
WamS: Herr Heil, das Bundesverfassungsgericht hat den Nachtragshaushalt der Koalition gekippt und damit die Diskussion um Schuldenbremse und Finanzierungsprioritäten neu eröffnet. Für die Ampel ist das ein Grundproblem. Welche der drei Parteien muss sich jetzt bewegen? Und ist damit möglicherweise auch die Erhöhung des Bürgergelds gefährdet, weil die Koalition die Prioritäten ganz generell neu setzen muss?
Heil: Das Urteil gilt und hat erst einmal unmittelbare Folgen für den Klima- und Transformationsfonds. Die Bundesregierung wird das Urteil jetzt detailliert auswerten und dann gemeinsam tragfähige Lösungen erarbeiten. Ich will aber auch darauf hinweisen, dass das Bundesverfassungsgericht in anderen Urteilen den Staat dazu verpflichtet hat, ein menschenwürdiges Existenzminimum für diejenigen zu gewährleisten, die in Not geraten sind. Das Bürgergeld sichert nicht mehr und nicht weniger als dieses Existenzminimum und wird entsprechend zum 1. Januar angepasst. Um Kosten zu dämpfen ist der beste Weg Menschen aus der Bedürftigkeit in Arbeit zu bringen.