Soziale Sicherung

"Mit dem Bürgergeld wollen wir Menschen aus der Not herausholen"

Interview von Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Soziales, mit der Neuen Passauer Presse

Datum:
24.10.2022

Neue Passauer Presse: Die Ampel-Koalition ist bald ein Jahr im Amt, der Kanzler hat gerade seine Richtlinienkompetenz nutzen müssen. Sind die Gemeinsamkeiten schon erschöpft?

Hubertus Heil: Nein, ganz im Gegenteil. Ich kann mich über die Gemeinsamkeiten in der Koalition und den Umgang miteinander nicht beklagen.  Diese Koalition steht in der Verantwortung, das Land sicher durch sehr schwierige Zeiten zu bringen und gleichzeitig für gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt zu sorgen. Da haben wir bislang schon viel an den Start gebracht und sind als Koalition entschlossen, diesen Weg weiter zu gehen. 

NPP: Das Bürgergeld stellt ein Schlüsselprojekt der Ampel dar. Nun kritisiert der Bundesrechnungshof ihre Großzügigkeit, etwa beim Schonvermögen. Was halten Sie dem entgegen?

Heil: Das Bürgergeld verfolgt zwei Ziele: Erstens, Menschen, die in existentielle Not geraten sind, verlässlich abzusichern und zweitens, sie dauerhaft aus der Arbeitslosigkeit herauszuholen. Mit dem neuen Bürgergeld ermöglichen wir es einen Berufsabschluss nachzuholen und so dauerhaft auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Klar ist: Arbeit muss sich immer lohnen und den Unterschied machen. Deshalb haben wir etwa den Mindestlohn erhöht, Beiträge für Geringverdiener gesenkt und das Wohngeld massiv verbessert. Wir dürfen nicht zulassen, dass Putin unsere Gesellschaft sozial spaltet. Deshalb haben wir alle im Blick, die es im Moment besonders hart trifft - Menschen mit geringen Einkommen genauso wie Bedürftige.

NPP: Ein Kritikpunkt ist die Höhe des angesetzten Schonvermögens bei Bürgergeld?

Heil: In der Corona-Krise waren plötzlich Personen auf Grundsicherung angewiesen, die daran bis dato nicht im Entferntesten gedacht haben – etwa viele Selbstständige. Da haben wir gesagt, ihr müsst nicht noch Euer letztes Erspartes aufbrauchen, bevor Euch geholfen wird. Das ist auch eine Frage des Respekts vor Lebensleistung. Beim Bürgergeld geht es auch darum, dass Menschen die in Not geraten nicht auch noch Angst haben müssen, ohne Wohnung zu verlieren. Deshalb schauen wir uns zwei Jahre die Angemessenheit der Wohnung nicht an. Das entlastet auch die Jobcenter von Bürokratie und gibt ihnen Zeit, sich um die Vermittlung in Arbeit zu kümmern. Mit dem Bürgergeld wollen wir nicht Not verwalten, sondern Menschen herausholen aus einer solchen Situation.

NPP: Die Krise wird immer tiefer, die Finanzspielräume des Staates werden enger. Müssen sich da auch die Arbeitsmarkt- und die Sozialpolitik zurücknehmen?

Heil: Die schwierige Lage, in der wir sind, hat mit Putins Angriffskrieg zu tun. Es ist sein Kalkül uns wirtschaftlich zu schädigen und sozial zu spalten. Ein starker Sozialstaat wirkt dem entgegen. Die finanziellen Spielräume sind begrenzt, aber im Krisenmanagement leiste ich als Arbeits- und Sozialminister meinen Beitrag, um unser Land wirtschaftlich und sozial zusammenzuhalten. Dazu gehört nicht zuletzt, den Arbeitsmarkt stabil zu halten – etwas mit dem Instrument der Kurzarbeit. Die gute Nachricht ist, wir haben den höchsten Stand an sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung den wir je hatten. Das stärkt die Sozialversicherungen, insbesondere bei der Arbeitslosen- und Rentenversicherung. 

NPP: Angesichts massiver Ausgaben zur Krisenabwehr: Sollte man deshalb nicht die Schuldenbremse ganz abschaffen?

Heil: Wir haben bisher Wege gefunden, das Notwendige zu tun, ohne die Schuldenbremse im nächsten Jahr zu reißen. Etwa mit dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds, der gestern im Bundestag beschlossen wurde. In Krisenzeiten muss man pragmatisch handeln. Jetzt ist nicht die Zeit für ideologische Debatten.

NPP: Was halten sie von Forderungen nach einer Entlastung der Unternehmen?

Heil: Mit den Entlastungspaketen, Wirtschaftshilfen und der Gaspreisbremse gehen wir diesen Weg. Wir kämpfen dafür, dass wir genug Gas haben, um eine Mangellage zu verhindern und die Energiepreise wirksam zu senken. Die hohen Preise sind für einige Unternehmen existenziell, hier stehen wir an der Seite der Betriebe.

NPP: Die Sozialversicherungen stecken in Bedrängnis. Droht dem Staat wegen höherer Zuschüsse eine Überlastung?

Heil: Für die Rentenversicherung ist ein starker Arbeitsmarkt entscheidend.  Wir haben heute den höchsten Stand sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung, den je gab. Die Bundeszuschüsse zur gesetzlichen Rentenversicherung sind gerechtfertigt, um Leistungen zu sichern, die nicht beitragsgedeckt sind. Und sie sind im Verhältnis zu den Beiträgen prozentual nicht viel größer als vor einigen Jahren.

Weil uns das gelungen ist, ist der Beitrag seit vielen Jahren stabil. Mein Ziel ist es, sie bis Mitte des Jahrzehnts stabil zu halten. Angesichts der demografischen Entwicklung ist die spannende Frage, wie schaffen wir das auch in der Zeit danach. Je besser es uns gelingt, die Menschen in Beschäftigung zu halten, desto einfacher wird es. Was den Bundeszuschuss zur gesetzlichen Rentenversicherung angeht – ja, der ist gestiegen. Aber der Anteil im Bundeshaushalt ist prozentual nicht viel größer als vor einigen Jahren

NPP: Die Rente ist eine Baustelle. Wann kommt die angekündigte Rentenreform 2?

Heil: Ein erstes Reformpaket haben wir im Frühjahr verabschiedet. Zum Rentenpaket Zwei sind wir in sehr guten Gesprächen mit dem Bundesfinanzminister. Wenn es nach mir geht, werden wir zeitnah einen Gesetzentwurf vorlegen, so dass der dann im nächsten Jahr im Bundestag beschlossen werden kann.

Er wird im Wesentlichen zwei Dinge regeln: Ein dauerhaft stabiles Rentenniveau von 48 Prozent über 2025 hinaus. Zum anderen geht es um den Aufbau einer Kapitalreserve zur langfristigen Stabilisierung der Beiträge. Das Ziel unserer Reform ist eine Alterssicherung, auf die sich alle verlassen können.

NPP: Der Mindestlohn ist kräftig erhöht worden – zugleich frisst ihn die Inflation aber wieder auf. Muss er noch einmal außerplanmäßig aufgestockt werden?

Heil: Wir haben den Mindestlohn ja gerade um 22 Prozent gegenüber dem Vorjahr erhöht. Davon profitieren über sechs Millionen Menschen. Das ist für viele davon sicher die größte Lohnerhöhung in ihrem Leben. Ich bin froh, dass diese Anhebung deutlich über der Inflationsrate liegt.

NPP: Wie wollen Sie erreichen, dass die Tarifbindung in Deutschland höher wird?

Heil: Der große Auftrag für Politik, Gewerkschaften und Arbeitgeber ist es, im Land für mehr Tarifbindung der Unternehmen zu sorgen. Nur noch 52 Prozent der Beschäftigten arbeiten in einem Unternehmen mit Tarifbindung. Wir werden also Maßnahmen ergreifen, um dafür mehr Anreize zu geben. So werden wir dafür sorgen, dass Aufträge des Bundes nur an Firmen gehen, die nach Tarif bezahlen. Dazu werde ich einen Gesetzentwurf vorlegen, so dass das im nächsten Jahr in Kraft treten kann.

NPP: Zur Behebung des Fachkräftemangels bedarf es unter anderem mehr Zuwanderung aus dem Ausland. Was planen Sie dazu?

Heil: Wir brauchen mehr qualifizierte Zuwanderung. Deshalb werden wir noch im Herbst Eckpunkte für ein modernes Fachkräfte-Einwanderungsgesetz vorlegen. Wir müssen aber auch bei uns besser werden. Deshalb werden wir alle Register ziehen, um im Inland Fachkräfte zu sichern: Bei der Ausbildung, der Weiterbildung, der Steigerung der Frauenerwerbstätigkeit. Die Sicherung der Fachkräftebasis in Deutschland ist neben einer nachhaltigen und bezahlbaren Energieversorgung die wesentliche Grundlage für Wohlstand in Deutschland.