- Datum:
- 28.05.2022
Berliner Morgenpost: Wen trifft die Inflation am härtesten?
Hubertus Heil: Die steigenden Preise für Energie und Lebensmittel treffen die Menschen mit geringen Einkommen besonders hart. Diejenigen, die wenig oder gar keine Reserven haben, leiden am meisten. Sei es im Supermarkt oder an der Zapfsäule: Die Preisexplosion ist derzeit überall zu spüren. Deswegen haben wir nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine mit einem Entlastungspaket von 30 Milliarden Euro sehr gezielt Menschen mit unteren und mittleren Einkommen geholfen...
Berliner Morgenpost: …und dabei die Rentnerinnen und Rentner vergessen.
Heil: Nein, das ist nicht der Fall. Das Paket enthält dauerhafte Entlastungen, die allen zugutekommen, beispielsweise die Abschaffung der Ökostromumlage.
Berliner Morgenpost: Die Energiepauschale von 300 Euro bekommen Rentner nicht.
Heil: Ich weiß, dass das viele ärgert. Es gibt aber im Gesamtpaket Unterstützung, die auch Rentnerinnen und Rentner zugutekommt. So geht der Heizkostenzuschuss zur Hälfte an Haushalte von Rentnerinnen und Rentnern. Auch vom Tankrabatt, den Hilfen für Mobilitätskosten, der Erhöhung des steuerlichen Grundfreibetrages und vom Zuschlag in der Grundsicherung profitieren Seniorinnen und Senioren. Und ich bin froh, dass die Rente zum 1. Juli deutlicher steigt als in den vergangenen Jahrzehnten. Aber natürlich sehe ich, dass auch Rentnerinnen und Rentner unter den dauerhaft steigenden Preisen leiden. Deshalb werden zeitlich befristete Entlastungen nicht mehr ausreichen. Es gibt jetzt eine Entwicklung bei den Energiepreisen, die es auch ohne den Krieg langfristig sowieso gegeben hätte, Stichwort Klimaneutralität. Energie wird also insgesamt teurer. Und der Energiehunger auf der Welt nimmt zu. Wir müssen eine Antwort geben über das jetzige Entlastungspaket hinaus…
Berliner Morgenpost: …und zwar welche?
Heil: Die hohen Preise sind für viele Menschen wirklich kritisch. Da geht es nicht darum, den Strandurlaub zu verkürzen oder den Autokauf zu verschieben, sondern wie man im Alltag noch über die Runden kommt. Es gibt die alleinerziehende Mutter, die sich Gedanken machen muss, ob sie sich das Obst für ihre Kinder noch leisten kann. Wir haben den Rentner, der sich vor der nächsten Heizkostenabrechnung fürchtet. Das kann keinen kalt lassen. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir dauerhafte und gezielte Entlastungen für alle mit geringen und mittleren Einkommen brauchen: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Rentnerinnen und Rentner, Studierende und Auszubildende. Und darum will ich mit der Einführung eines sozialen Klimageldes dafür sorgen, dass ein sozialer Ausgleich stattfindet.
Berliner Morgenpost: Bitte konkret.
Heil: Für mich als Sozialminister ist wichtig, dass wir dieses Klimageld sozial gestaffelt ausgestalten – nach dem Prinzip: Diejenigen, die es am nötigsten brauchen, bekommen am meisten. Diejenigen, die es nicht so nötig brauchen, bekommen etwas. Und diejenigen, die viel verdienen, bekommen nichts. Für Gutverdiener sind hohe Preise auch eine ärgerliche Sache, aber sie können damit umgehen. Die Ressourcen des Staates sind begrenzt. Daher sollten wir das Klimageld nicht mit der Gießkanne an alle ausgeben.
Berliner Morgenpost: Um welche Beträge geht es?
Heil: Ich bin dafür, dass wir das soziale Klimageld einmal im Jahr auszahlen. Es soll Menschen zugutekommen, die als Alleinstehende weniger als 4000 Euro brutto und als Verheiratete zusammen weniger als 8000 Euro brutto im Monat verdienen – also denjenigen, die normale und geringe Einkommen haben. Über die genaue Staffelung und den Umfang müssen wir noch sprechen. Ich will das in die Koalition einbringen, weil ich als Sozialminister eine Verantwortung habe – auch wenn die Federführung eher beim Finanzminister und beim Klimaminister liegt.
Berliner Morgenpost: Was ist, wenn Robert Habeck und Christian Lindner sich gegen Ihren Vorstoß sperren?
Heil: Im Grundsatz haben wir uns über das Projekt in den Koalitionsverhandlungen verständigt. Mir sind aber zwei Dinge wichtig: Dass wir das Klimageld sozial staffeln. Und dass wir es schneller einführen, als sich mancher in der Koalition das vorstellt. Wenn es technisch möglich ist, sollten wir das soziale Klimageld zum 1. Januar 2023 umsetzen. Falls das nicht gelingt, müssen wir mit überbrückenden Einmalzahlungen arbeiten. Zum 1. Januar wollen wir außerdem das neue Bürgergeld einführen, mit dem wir das Hartz-IV-System überwinden und dem Sozialstaat ein neues Gesicht geben.
Berliner Morgenpost: Wie wirkt sich das auf den Regelsatz aus?
Heil: Mit dem Bürgergeld wollen wir Menschen besser, gezielter und schneller in Arbeit bringen. Wir wollen dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt ermöglichen – zum Beispiel durch das Nachholen eines Berufsabschlusses. Und wir wollen das System unbürokratischer gestalten. Aber es muss auch darum gehen, dass die Leistungen angemessen sind. In dieser schwierigen Situation dürfen wir diejenigen nicht vergessen, die aus existenziellen Gründen auf die Leistungen des Staates angewiesen sind.
Berliner Morgenpost: Angemessen – was bedeutet das für Sie?
Heil: Wir haben über die steigenden Alltagspreise gesprochen. Die bisherige Berechnung des Regelsatzes hält der Preisentwicklung nicht mehr stand. Mein Vorschlag ist, dass wir etwa bei Familienhaushalten die unteren 30 statt der unteren 20 Prozent der Einkommen als Grundlage nehmen. Damit können wir erreichen, dass die Regelsätze im Bürgergeld pro Person und Monat in etwa um 40 bis 50 Euro höher sein werden als in der Grundsicherung. Das entspricht einer Steigerung von etwa 10 Prozent. Das finde ich vernünftig.
Berliner Morgenpost: Unterstützen Sie auch Forderungen nach einer Senkung der Mehrwertsteuer auf Energie und Lebensmittel?
Heil: Die Forderung klingt sympathisch. Aber zum einen besteht die Gefahr, dass diese Steuersenkungen von den Konzernen nicht an die Verbraucherinnen und Verbraucher weitergegeben oder auch sehr Wohlhabende entlastet werden. Ich will lieber gezielt etwas für die Menschen tun, die jetzt wirklich Unterstützung brauchen. Ich schlage das soziale Klimageld und ein höheres Bürgergeld vor. Ich finde: Bürger wie ich müssen nicht entlastet werden in dieser Zeit.
Berliner Morgenpost: Die Menschen könnten sich auch selbst entlasten von hohen Energiepreisen – indem sie weniger Auto fahren oder auf Fernreisen verzichten. Rufen Sie dazu auf?
Heil: Energiesparen ist immer eine gute Idee – schon des Klimaschutzes wegen. Aber ich bin dagegen, dass wir diese Frage zu einem individuellen Schicksal machen. Wer wenig Einkommen hat, kann sich nicht einfach eine neue Heizung oder ein Elektroauto kaufen.
Berliner Morgenpost: Das Auto mal stehenlassen – das könnten auch Geringverdiener.
Heil: Das machen auch schon viele. Aber ein allgemeiner Appell, das Auto stehenzulassen geht an der Lebensrealität vieler Menschen vorbei. Berufspendler, wie die Krankenschwester auf dem Land, sind auf ihr Auto angewiesen, die dürfen wir nicht im Regen stehenlassen.
Berliner Morgenpost: Was kosten das soziale Klimageld und das höhere Bürgergeld, das Sie vorschlagen?
Heil: Wir sind noch in Modellrechnungen, aber wir reden schon von zweistelligen Milliardenbeträgen. Das ist ein finanzieller Kraftakt, der aber notwendig ist, um die Gesellschaft zusammenzuhalten.
Berliner Morgenpost: Woher soll das Geld dafür kommen?
Heil: Das Klimageld finanziert sich aus den Einnahmen der CO2-Bepreisung. Und das Bürgergeld wird aus Steuern finanziert, das ist durchaus darstellbar. Letztlich gibt es ja Einigkeit darüber, dass wir die Gesellschaft durch Entlastungen zusammenhalten müssen – mir ist wichtig, dass das zielgerichtet erfolgt..
Berliner Morgenpost: Wollen Sie immer neue Schulden machen?
Heil: Die beste staatliche Einnahmequelle ist eine Wirtschaft, die gut läuft. Aus der krisenbedingten Verschuldung werden wir nur durch einen guten Arbeitsmarkt und durch eine dynamische Wirtschaft langfristig rauskommen. Auch dazu habe ich meinen Beitrag geleistet: Wir sind so gut wie kaum eine andere Nation durch zwei Jahre Krise gekommen: Unser Arbeitsmarkt ist dank des Kurzarbeitergeldes stabil geblieben.
Berliner Morgenpost: Wie denken Sie über höhere Steuereinnahmen – etwa über eine Vermögensteuer?
Heil: Man kann munter solche Diskussionen führen und ich habe dazu auch eine politische Meinung. Aber das steht aktuell nicht auf der Agenda und ist auch nicht Gegenstand der Koalitionsvereinbarung.
Berliner Morgenpost: Die Gewerkschaften fordern kräftige Lohnsteigerungen. Halten Sie das in dieser Lage für geboten?
Heil: Wir haben die stärkste Inflation seit Anfang der Achtzigerjahre. Sie ist aber nicht das Ergebnis von überzogenen Lohnforderungen. Die steigenden Energiepreise und die Störung von Lieferketten sind die Ursache. Ich gehe davon aus, dass Inflationsausgleich in den Tarifverhandlungen eine Rolle spielt. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben ein Recht auf angemessene Lohnsteigerungen. Ich werde mich als Arbeitsminister nicht in die Tarifverhandlungen einmischen. Aber ich sage offen, dass auch anständige Löhne dazu beitragen müssen, die Preisentwicklungen hier im Land abzufedern. Und es ist gut, dass der Mindestlohn zum 1. Oktober auf 12 Euro steigt. Das ist für Geringverdiener eine Erhöhung von 20 Prozent. Auch das hilft angesichts gestiegener Preise.