Europa

"Es geht nicht nur um Menschlichkeit, sondern auch um Vernunft"

Interview von Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Soziales, mit der Neuen Zürcher Zeitung

Datum:
23.05.2022

Neue Zürcher Zeitung: Herr Heil, der Krieg in der Ukraine und die hohen Energiepreise bremsen die wirtschaftliche Erholung nach der Corona-Krise stark. Droht in Deutschland auch ein Anstieg der Arbeitslosigkeit?

Hubertus Heil: Der deutsche Arbeitsmarkt ist sehr robust und stabil, trotz aller Probleme vor die uns die hohe Inflation und dieser dramatische Krieg wirtschaftlich stellen. Wir haben zwei Jahre Corona-Wirtschaftskrise hinter uns, aber wir haben mit aktiver Arbeitsmarktpolitik einen Tsunami am Arbeitsmarkt verhindert. Das haben wir auch dem massiven Einsatz von Kurzarbeit zu verdanken. Dieses Instrument hat den Unternehmen geholfen, Fachkräfte an Bord zu halten. Die coronabedingte Kurzarbeit ist erfreulicherweise stark zurückgegangen. Wir haben aber Schwierigkeiten durch Lieferkettenstörungen, da fehlen zum Beispiel Kabelbäume zur Automobilproduktion aus der Ukraine. Deshalb haben wir den erleichterten Zugang zur Kurzarbeit sofort nach Beginn von Putins schrecklichem Angriffskrieg noch einmal verlängert. Damit stabilisieren wir den Arbeitsmarkt in unsicheren Zeiten. Wir rechnen in diesem Jahr nach wie vor mit Wachstum und keiner Rezession, wenn es nicht zu einem totalen Energie-Embargo kommt.

NZZ: Heißt das, ein Embargo für Gasimporte aus Russland bleibt auf Dauer unmöglich?

Heil: Wir wollen und müssen Schritt für Schritt von Energie-Importen unabhängiger werden. Das ist Teil der Zeitenwende, dass wir unser Wirtschaftsmodell umbauen müssen, auch aus Gründen des Klimaschutzes. Wir bereiten uns mit Notfallplänen auf Eskalationen vor, für den Fall, dass Russland Europa und Deutschland den Gashahn zudrehen würde. Deshalb bauen wir in rasender Geschwindigkeit LNG-Terminals. Aber wir sollten von uns aus keine Sanktionen erlassen, die im Zweifelsfall Europa und Deutschland mehr schaden als dem Kreml. Sinn der Sanktionen ist es, Druck auf Putin und Russland zu machen, und nicht, uns zu schwächen.

NZZ: Vielen reicht das nicht. Sie fordern ein sofortiges, vollständiges Energie-Embargo. Können Sie das nachvollziehen?

Heil: Ich kann verstehen, dass wir alle mit den Bildern dieses verbrecherischen Krieges im Kopf aus einem Gefühl heraus sofort den Gasimport stoppen wollen. Aber eine verantwortliche Politik darf sich nicht allein von Gefühlen leiten lassen, sondern muss besonnen zum Wohle unseres Landes entscheiden. Das gilt auch für die Sanktionen gegen Russland. Sie müssen Putin maximal schaden, nicht uns. Es sind die schärfsten, die wir je gegen ein vergleichbares Land erlassen haben. Wir haben eine starke industrielle Produktion. Ein sofortiges Gas-Embargo hiesse: massive Schädigungen und drohende Abwanderung ganzer Industriezweige, etwa der chemischen Industrie und eine drohende Stagflation, also eine Mischung aus massiver Wirtschaftskrise und noch stärker steigenden Preisen. Wir sehen ja heute schon die sozialen Folgen von sehr hohen Preisen, die wir abfedern, wo wir können. Äussere Sicherheit und sozialer Zusammenhalt sind zwei Seiten derselben Medaille. Es geht immer auch um die Widerstandsfähigkeit unserer Gesellschaft.

NZZ: Derzeit drängen die Gewerkschaften unter Verweis auf die hohe Inflation auf massive Tariflohn-Erhöhungen. Droht eine Lohn-Preis-Spirale, die die Teuerung weiter anheizt? 

Heil: Man muss den deutschen Sozialpartnern zugutehalten, dass die derzeitige hohe Inflation nicht das Ergebnis von überzogenen Lohnabschlüssen ist, sondern mit massiv gestiegenen Energiepreisen und gestörten Lieferketten zu tun hat. Und es ist nachvollziehbar, dass auch in diesem Jahr die Gewerkschaften angemessene Lohnforderungen stellen. Als Staat leisten wir einen Beitrag mit einer gezielten Entlastung von unteren und mittleren Einkommen und für die Menschen, die auf unsere Mindestsicherungssysteme angewiesen sind. Wir haben Entlastungspakete im Umfang von insgesamt 30 Milliarden Euro auf den Weg gebracht, um sehr gezielt Menschen in diesen schwierigen Zeiten das Leben ein Stück einfacher zu machen. Wir müssen uns darauf vorbereiten, neben diesen gezielten Unterstützungen auch weitere Entlastungen für untere und mittlere Einkommen zu organisieren, falls das Preisniveau länger so hoch bleibt und nicht wieder absinkt.

NZZ: Deutschland hat einen akuten Fachkräftemangel. Was wollen Sie dagegen tun?

Heil: Fachkräftemangel droht eine Wachstumsbremse in Deutschland zu werden. Mein größter Horror als Arbeitsminister wäre ein tief gespaltener Arbeitsmarkt: auf der einen Seite immer mehr Unternehmen, die keinen Umsatz generieren können, weil sie die nötigen Fachkräfte nicht haben. Und auf der anderen Seite viele Menschen, die beim grundlegenden Umbau der Industriegesellschaft in Richtung Digitalisierung und Klimaneutralität nicht mehr mitkommen. Das müssen wir verhindern. Deshalb setzen wir in der Bundesregierung gemeinsam mit Wirtschaft und Gewerkschaften auf eine Fachkräftestrategie. Dazu gehört auch eine höhere Frauenerwerbsbeteiligung. Wir müssen dafür sorgen, dass jeder junge Mensch eine Chance auf Ausbildung hat. Wir haben in Deutschland fast 1,4 Millionen Menschen zwischen 20 und 30 ohne berufliche Erstausbildung. Da müssen wir besser werden. Und wir brauchen ergänzende qualifizierte Zuwanderung. 

NZZ: Rächt sich jetzt die Einseitigkeit der deutschen Bildungspolitik, die immer mehr Studenten hervorbringen will und den alternativen Weg der Lehre über Jahre abgewertet hat?

Heil: Das fängt schon bei der Sprache an, wenn wir von beruflicher Bildung als "niedrigerem" Abschluss reden. Das lehne ich ab. Es ist nicht das Problem, dass mehr Menschen Abitur machen. Das Problem ist, dass in der Vergangenheit der Wert des beruflichen Ausbildungssystems in Deutschland unterschätzt wurde. Die Frage ist, wie man das in Zukunft besser machen kann. Meine Antwort ist: Wir brauchen konsequent, spätestens ab der siebten Klasse, in allen Schulen eine Berufsorientierung, übrigens auch an Gymnasien.

NZZ: Wie heißt das konkret?

Heil: Da gibt es die unterschiedlichsten Möglichkeiten; für die Bildungspolitik sind ja im Wesentlichen die Bundesländer zuständig. In meiner niedersächsischen Heimat gibt es zum Beispiel das Fach "Arbeit, Technik, Wirtschaft" ab der siebten Klasse. Da lernen junge Menschen nicht nur über ein Praktikum, sondern konsequent das Arbeitsleben und die verschiedensten Berufe kennen. Berufliche Bildung ist mindestens so wichtig wie akademische. Dieses Land braucht nicht nur mehr Master, sondern auch mehr Meister.

NZZ: In Deutschland gibt es über 700.000 Geflüchtete aus der Ukraine. Ein Teil davon dürfte irgendwann auch auf dem Arbeitsmarkt ankommen. Von welchen Größenordnungen gehen Sie aus?

Heil: Es gibt viele Unsicherheiten und deshalb ist es schwierig, Projektionen zu machen. Niemand kann sagen, wie lange dieser Krieg dauert. Unter den Geflüchteten sind viele Frauen mit kleinen Kindern, aber auch viele erkrankte und ältere Menschen. Deshalb betrachten wir die Menschen, die zu uns kommen, nicht primär als Arbeitskräfte. Sie sind ja nicht der Arbeit wegen nach Deutschland gekommen, sondern vor Putins schrecklichem Krieg geflüchtet. Es geht aber nicht nur um Menschlichkeit, sondern auch um Vernunft. Und die Vernunft hat ganz Europa dazu gebracht, allen Beteiligten erstmal Schutz und Obdach zu geben. Und wir haben in Deutschland vernünftigerweise allen ein Recht auf sofortigen Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht. Jetzt hängt es davon ab, wie schnell wir praktische Barrieren beseitigen können, etwa in der Kinderbetreuung und in der Sprache.

NZZ: Demnächst gehen in Deutschland die geburtenstärksten Jahrgänge in Rente. Dennoch heißt es im Koalitionsvertrag, keine Renten würden gekürzt, und das Renteneintrittsalter werde nicht erhöht. Wie wollen Sie diese Quadratur des Kreises erfüllen?

Heil: Wir müssen zwei Seiten im Blick haben. Erstens das, was wir im Rentensystem zur Finanzierung beitragen werden. Dazu werde ich in der zweiten Jahreshälfte ein Gesetzentwurf vorlegen, der das sauber durchrechnet. Zweitens ist die Rente stabil, wenn der Arbeitsmarkt stabil ist. Wer das nicht glaubt, muss sich angucken, wie die Prognosen vor zehn Jahren waren. Danach hätte der Beitrag der Arbeitnehmer und Arbeitgeber an die gesetzliche Rentenversicherung stark steigen müssen. Er liegt aber seit vielen Jahren recht stabil bei 18,6 Prozent des Bruttolohns. Und das Rentenniveau ist auch stabil geblieben. Warum? Weil wir heute vier Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte mehr haben als vor zehn Jahren prognostiziert. Gleichwohl ist die Demographie eine Riesenherausforderung. Die Generation der sogenannten Babyboomer, die vor 1964 geboren sind, geht ab 2025 in Rente. Es muss uns gelingen, einen sehr hohen Beschäftigungsstand zu haben mit ordentlichen Löhnen, um uns das volkswirtschaftlich mit einem auskömmlichen Rentenniveau leisten zu können.

NZZ: Gleichwohl muss der Bundeshaushalt die gesetzliche Rentenversicherung schon heute mit gut 100 Milliarden Euro pro Jahr subventionieren, Tendenz steigend. Wo liegt die Schallgrenze?

Heil: Der prozentuale Anteil des Rentenzuschusses am Bundeshaushalt ist über die Jahre relativ stabil geblieben. Ich verkenne nicht die Größe der Aufgabe. Sie wird aber für den Bundeshaushalt und auch für die Beitragszahler einfacher zu bewältigen sein, wenn wir es schaffen, einen hohen Beschäftigungsgrad zu organisieren. Und das ist uns in den letzten Jahren gelungen, auch durch das Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Endlich gibt es das Bekenntnis, dass wir ein Einwanderungsland sind. Wir müssen gezielt Fachkräfte, also mehr kluge Köpfe und zupackende Hände für Deutschland gewinnen − in der EU, aber auch darüber hinaus.

NZZ: Ist die Altersvorsorge somit auch für die jüngeren Generationen gesichert? 

Heil: Das ist mein Ziel. Wir werden die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Rente in Deutschland auch für kommende Generationen stabil bleibt. Ziel der Koalition ist die dauerhafte Sicherung des Rentenniveaus, aber auch der Aufbau einer Stabilitäts- und Kapitalreserve im System der Rentenversicherung. Wir müssen gleichzeitig unsere Hausaufgaben im deutschen Arbeitsmarkt machen. Wenn das gelingt, schaffen wir es, dass die Rente für alle Generationen stabil ist.

NZZ: Viele Jüngere haben aber eine so niedrige Rente in Aussicht, dass sie davon nicht einmal die Miete bezahlen könnten. Müsste Sie das als Sozialdemokrat nicht alarmieren?

Heil: Mich alarmiert das, was wir insgesamt an Kostensteigerungen haben, auch die Mietpreissteigerungen vor allem in Ballungszentren, aber auch in mittleren Städten. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass mehr gebaut wird, übrigens auch mehr sozialgebundene Wohnungen. Daran arbeitet die Bundesbauministerin Klara Geywitz, die allerdings genug Fachkräfte in diesem Bereich braucht, um das zu realisieren. Dabei werde ich sie unterstützen. Dann gibt es das Wohngeld in Deutschland als sozialen Ausgleichsmechanismus.