Arbeitsrecht

"Wir müssen als Gesellschaft über den Wert der sozialen Sicherung diskutieren"

Interview von Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Soziales, mit der Neuen Osnabrücker Zeitung

Datum:
02.05.2022

Neue Osnabrücker Zeitung: Herr Minister, ausgerechnet der Tag der Arbeit liegt auf dem morgigen Sonntag. Muss der Feiertag nicht nachgeholt werden?

Hubertus Heil: Die Debatte kehrt immer wieder, ich finde sie auch gar nicht unsympathisch. Als Bürger freue ich mich, wenn wir mal wieder unter der Woche feiern können. Aber das Thema hat zur Zeit für die Bundesregierung nicht oberste Priorität.

NOZ: Sondern?

Heil: Am Tag der Arbeit geht es darum, dass Arbeiten einen Wert und eine Würde hat. Gute Arbeitsbedingungen und faire Entlohnung: Deshalb haben wir in dieser Woche im Deutschen Bundestag die Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro zum 1. Oktober auf den Weg gebracht. Und es geht am 1. Mai um die Zukunft der Arbeit. Der digitale Fortschritt und der ökologische Umbau der Industriegesellschaft sorgen für massive Veränderungen in der Arbeitswelt, die wir gestalten müssen.

NOZ: Zu den Wünschen vieler Arbeitnehmer und Arbeitgeber gehören flexiblere Arbeitszeiten. Wann startet der im Koalitionsvertrag vereinbart Modellversuch?

Heil: Ziel flexiblerer Arbeitszeitmodelle muss sein, dass Arbeit besser zum Leben passt, und zwar während des gesamten Erwerbslebens. Viele junge Leute wollen nach der Ausbildung voll loslegen. Wenn Kinder kommen, gibt es den Wunsch nach mehr Zeit für den Nachwuchs, dafür haben wir die Elternzeit. Danach braucht es die Möglichkeit auf Vollzeit-Rückkehr oder Weiterbildungszeiten. Beim Stichwort Flexibilität geht es also nicht nur um Wochen- oder Tagesarbeitszeiten. Und der Sinn von Arbeitszeitgesetzen ist, die Gesundheit der Beschäftigten zu schützen, deswegen werden wir die Arbeitszeitgesetze nicht schleifen.

NOZ: Sie stehen auf der Bremse?

Heil: Nein. Wir haben vereinbart, Experimentierräume unter dem Dach von Tarifverträgen zu schaffen. Dabei wird sich zeigen, dass Tarifverträge schon jetzt viel mehr Flexibilität erlauben, als viele Verbandsfunktionäre gerne erzählen. Den starren Acht-Stunden-Tag für alle gibt es schon längst nicht mehr. Die Experimentierräume werden wir in dieser Legislatur auf den Weg bringen, aber unter dem Dach von Tarifverträgen. Also, wenn Arbeitgeber und Gewerkschaften das gemeinsam vereinbaren.

NOZ: Zum Arbeitsmarkt: Werden wegen des Ukraine-Krieges bald viele Menschen ihren Job verlieren?

Heil: Hier ein vorsichtiges Nein: Die Lage ändert sich fast täglich und Prognosen sind schwierig. Aber nach allem was wir zum jetzigen Zeitpunkt wissen, rechnen wir nicht mit einem substanziellen Anstieg der Arbeitslosenzahl. In der durch Corona bedingten tiefsten Wirtschaftskrise unserer Generation ist es gelungen, den Arbeitsmarkt dank Kurzarbeit stabil zu halten. Das waren vernünftige Brücken über ein tiefes Tal, für die der Staat mehr als 43 Milliarden Euro ausgegeben hat. Die Alternative, die Rückkehr von Massenarbeitslosigkeit, wäre viel teurer geworden. Wir setzen das Kurzarbeitergeld nun auch ein, um die Kriegsfolgen – Stichwort gerissene Lieferketten – abzufedern. Meine Zuversicht ist groß, dass wir trotz des kriegsbedingt geringeren Wachstums auf absehbare Zeit einen sehr, sehr robusten Arbeitsmarkt haben werden, wenn wir die Energieversorgung nicht gefährden. In vielen Regionen und Bereichen haben wir sogar einen akuten Fachkräftemangel.

NOZ: Wenn die Kurzarbeit so teuer ist und es an Jobs nicht mangelt, warum dann an dem Instrument festhalten?

Heil: In der deutschen Automobilindustrie etwa fehlen Kabelbäume aus der Ukraine und Rohstoffe aus Russland. In bestimmten Branchen brauchen wir die Kurzarbeit bis auf weiteres. Wo die Wirtschaft wieder durchstartet, besteht kein Bedarf mehr. Wir werden Kurzarbeit so lange einsetzen, so lange es die Lage erfordert. Aber natürlich ist das nicht alles. Deutschland muss auch zur Weiterbildungsrepublik werden, damit die Beschäftigten von heute die Chance haben, die Arbeit von morgen zu machen.

NOZ: Wie?

Heil: Wir werden Bildungszeiten und Bildungsteilzeiten wie in Österreich einführen. Das werde ich in diesem Jahr noch auf den Weg bringen, damit es 2023 eingeführt werden kann. Wir werden ermöglichen, dass sich Beschäftigte ein Jahr weiterbilden oder neu orientieren können oder – in Teilzeit – auch zwei Jahre. Der Staat wird in diesen Phasen den Lebensunterhalt sichern, durch eine Lohnfortzahlung vergleichbar mit dem Arbeitslosengeld. Dazu braucht es Vereinbarungen mit den Arbeitgebern. Das ist ein großes Reformprojekt, das ich mit Nachdruck verfolge. In Österreich hat das die Weiterbildung massiv nach vorne gebracht, das sehe ich auch bei uns.

NOZ: Wird wirklich genug getan, um die nach Deutschland geflüchteten Ukrainer in den Arbeitsmarkt zu integrieren?

Heil: Wir haben bereits den sofortigen Zugang zum Arbeitsmarkt für alle registrierten Kriegsflüchtlinge sichergestellt. Und wir haben gerade beschlossen, dass zukünftig die finanziellen Leistungen und die Integration in den Arbeitsmarkt aus einer Hand von den Jobcentern kommen.  Damit haben wir gute Voraussetzungen geschaffen, aber es müssen noch viele praktische Probleme gelöst werden. Frauen brauchen für ihre Kinder Kitaplätze. Die Integrationssprachkurse sind bereits geöffnet. Wo wir noch besser werden müssen, das ist bei der Anerkennung von Berufen. Das gilt sowohl für geschützte Berufe wie Ärzte, Ingenieure oder Lehrer. Aber auch Abschlüsse in anderen Berufen müssen schneller anerkannt werden, damit die Menschen ihren Kompetenzen entsprechend eingestellt und bezahlt werden. Die Länder haben dazu die Bereitschaft signalisiert, das muss aber noch deutlich beschleunigt werden, da bitte ich die Länder um rasches Handeln.

NOZ: Gewerkschaften fürchten, Kriegsflüchtlinge würden als Billiglöhner ausgenutzt. Sehen auch Sie diese Gefahr?

Heil: Zunächst ist die Bereitschaft vielerorts groß, die zu uns geflüchteten Menschen zu integrieren. Die meisten sind gut qualifiziert und wollen arbeiten, und es hilft ihnen, mit den Kriegstraumata umzugehen und sich nicht nur als Opfer zu sehen. Hinzu kommt, dass viele Unternehmen Fachkräfte suchen. Trotzdem stimmt es: Wir müssen verhindern, dass Kriegsflüchtlinge bei uns als Billiglöhner ausgebeutet werden. Ergänzend dazu unterstütze ich als Bundesarbeitsminister die Gewerkschaften durch ein Programm dabei, die Menschen über ihre Rechte aufzuklären, auch in der eigenen Sprache. Und klar ist: Wer versucht, die Notlage der Geflüchteten auszunutzen, muss mit der vollen Härte unseres Rechtsstaats rechnen. Wir werden genau hinschauen!

NOZ: Kommen wir zur Rente: Sie versprechen ein Niveau von 48 Prozent. Das werden Arbeitnehmer bald teuer zu bezahlen haben, die Beiträge werden steigen, liegt das nicht auf der Hand?

Heil: Ein dauerhaft stabiles Rentenniveau von 48 Prozent ist im Koalitionsvertrag vereinbart. Das ist uns in den vergangenen Jahren viel besser gelungen als von manchen Untergangspropheten diagnostiziert, weil sich der Arbeitsmarkt sehr gut entwickelt hat. Die Beiträge sind schon sehr, sehr lange stabil, liegen seit 2018 bei 18,6 Prozent. Unter Helmut Kohl lagen sie schon mal bei mehr als 20 Prozent.

NOZ: In drei Jahren gehen die ersten Babyboomer in Rente. Werden nicht spätestens dann die Beiträge kräftig steigen?

Heil: Wir stehen vor enormen Herausforderungen, keine Frage. Wir müssen ein stabiles Rentenniveau über 2025 hinaus solide gegenfinanzieren. Die beste Voraussetzung dafür ist ein starker Arbeitsmarkt mit anständiger Lohnentwicklung, einer höheren Frauenerwerbsbeteiligung und mehr Qualifizierung und Weiterbildung. Wenn das gelingt, ist ein stabiles Rentenniveau für alle Generationen zu finanzieren.

NOZ: Nicht nur die Arbeitgeber haben extreme Zweifel …

Heil: Wir müssen als Gesellschaft über den Wert der sozialen Sicherung diskutieren. Eine gute Absicherung nach dem Erwerbsleben ist für eine Gesellschaft fundamental wichtig, und zwar für alle Generationen. Dafür ist die gesetzliche Rente die tragende Säule, private und betriebliche Altersvorsorge können immer nur ergänzen. Es stimmt, die Herausforderung ist gewaltig, aber eine Absenkung des Rentenniveaus ist für mich keine Option.

NOZ: Ein stabiles Niveau hat Vorrang vor stabilen Beiträgen?

Heil: Es wird uns noch eine Weile gelingen, die Beiträge stabil zu halten, und wie gesagt, sie waren schon mal höher. Und etwa in der Arbeitslosenversicherung wurden die Beiträge gesenkt. Wir brauchen eine Gesamtschau der Sozialversicherungsbeiträge und müssen bundespolitisch entscheiden, was über Beiträge und was über Steuern finanziert wird. Und das werden wir in dieser Koalition klären.

NOZ: Wird der geplante Kapitalstock helfen, ein stabiles Rentenniveau zu finanzieren?

Heil: Wir werden einen Kapitalstock schaffen, der gut und sicher angelegt ist, um die Rente langfristig zu stabilisieren. Die Gespräche mit Finanzminister Christian Lindner dazu laufen.