- Datum:
- 25.03.2022
RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND): Herr Heil, die Wirtschaft hat erst unter der Pandemie gelitten und leidet nun unter den Folgen des Kriegs in der Ukraine. Erinnert Sie das auch an einen Kranken, der sich von Infekt zu Infekt schleppt?
Hubertus Heil: Deutschland ist ein starkes Land und kein Patient. Aber wir stehen vor sehr großen Herausforderungen. Die Pandemie hat uns viel abverlangt und der Krieg wird das ebenfalls tun. Wir sehen jetzt schon die Auswirkungen, die Flüchtlingsbewegung und die gestörten Lieferketten in der Wirtschaft. Die steigenden Preise für Rohstoffe und Energie müssen wir abfedern.
RND: Auf zusätzliche Energiepreis-Entlastungen hat sich die Koalition nach gut zwei Wochen Streit nun endlich verständigt. Warum hat das so lange gedauert?
Heil: Wir haben uns in der Koalition verständigt, zielgenau dort zu entlasten wo es nötig ist: Beim Strom, beim Heizen, bei der Mobilität und bei den Lebenshaltungskosten. Die jetzt getroffenen Vereinbarungen sind richtig und sozial ausgewogen, Die Maßnahmen helfen vor allem den Menschen mit mittleren und geringen Einkommen. Auch dass wir die Menschen mit wenig Geld in der Grundsicherung noch einmal kräftig unterstützen, war mir wichtig.
RND: Laut Deutschem Industrie und Handelskammertag fürchtet jedes zehnte Unternehmen um seine Existenz. Werden Sie als Folge des Kriegs in der Ukraine länger als geplant auf Kurzarbeit setzen müssen?
Heil: In der Pandemie war die Kurzarbeit der entscheidende Baustein, um Massenentlassungen zu verhindern. Sie kann jetzt auch ein wichtiges Mittel sein, um die Folgen des Krieges in der Ukraine für den Arbeitsmarkt in Deutschland abzumildern. Ich bin sehr froh, dass der Bundestag jüngst beschlossen hat, die vereinfachten Zugangsvoraussetzungen zur Kurzarbeit bis Juni zu verlängern und mich zu einer weiteren Verlängerung bis September zu ermächtigen. Falls nötig, werde ich nicht zögern, eine solche Verordnung auf den Weg zu bringen.
RND: Und über diesen Zeitpunkt hinaus?
Heil: Keiner weiß, wie lange der Krieg dauern wird. Wir haben noch nicht alle Register gezogen und können jederzeit nachsteuern – auch bei der Kurzarbeit. Ich werde weiter alles tun, um den Arbeitsmarkt robust durch die Krise zu bringen.
RND: Heißt das, die Bundesagentur für Arbeit braucht zusätzliche Mittel?
Heil: Die Bundesagentur ist voll handlungsfähig. Mit dem Finanzminister habe ich besprochen, dass wir diesen Weg mit Hilfe des Bundes weitergehen. Ja, Kurzarbeit kostet eine Menge Geld. Aber es ist gut investiertes Geld, weil die Alternative, die Rückkehr von Massenarbeitslosigkeit zuzulassen, für Staat und Gesellschaft viel teurer wird.
RND: Kann der Staat wirklich alles und jeden absichern?
Heil: Nein, das ist nicht meine Haltung. Unser Staat hat viel Kraft. Aber wir müssen unsere Ressourcen klug, sozial ausgewogen und zielgenau einsetzen. Wir helfen bedürftigen Menschen, Geringverdienern, der arbeitenden Mitte und auch Selbständigen. Und wir stabilisieren die Wirtschaft. Menschen, die sehr viel Geld haben, können und müssen die höheren Preise selber tragen.
RND: Wo Sie das Thema „Ressourcen zusammenhalten“ schon ansprechen: Wie sicher sind Sie, dass für wichtige Anliegen der SPD wie die Kindergrundsicherung und die Abschaffung von Hartz IV noch genügend Geld da ist?
Heil: Da bin ich sehr sicher, und da sind wir uns in der Koalition auch einig. Die Vorstellung, dass es keinen Fortschritt in der Krise gibt, ist ein Irrtum, genauso wie die Idee, dass man sich zwischen äußerer und sozialer Sicherheit entscheiden muss. Ich unterstütze die 100 Milliarden Euro für die Ausrüstung der Bundeswehr aus Überzeugung. Aber sie wird nicht zulasten des sozialen Zusammenhalts gehen. Dafür stehe ich als Arbeits- und Sozialminister ein.
RND: Trotzdem bleibt ja die Frage, wie viele und welche Vorhaben man gleichzeitig gestemmt bekommt.
Heil: Das bestreite ich nicht. Aber: Es geht gerade um die Widerstandfähigkeit unserer Gesellschaft. Dafür brauchen wir Sicherheiten nach Außen und einen starken Sozialstaat. Die Frage ist nicht, ob wir Rüstung oder Rente wollen. Beides ist notwendig, damit diese Gesellschaft in Zeiten rasanter Krisen und Veränderungen nicht gespalten wird. Nur so überstehen wir Krisen und ermöglichen Fortschritt.
RND: Notfalls muss man eben noch Mal die Schuldenbremse aussetzen?
Heil: Unser Ziel ist, dass wir die Schuldenbremse 2023 wieder einhalten. Aber ich kann heute nicht absehen, welche Folgen des Krieges noch auf uns zukommen.
RND: In der Folge des Krieges kommen viele ukrainische Flüchtlinge, und anders als bei früheren Fluchtbewegungen liegt die Anerkennungsquote bei 100 Prozent. Sollte der Bund da nicht direkt die Kosten übernehmen – etwa über die Grundsicherung?
Heil: Wie erleben die größte Fluchtwelle in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Zu Beginn geht es um elementare Fragen wie Unterbringung und medizinische Versorgung. Es ist richtig, dass diese Menschen über das Asylbewerberleistungsgesetz versorgt werden. Zumal ein Teil der Menschen ja auch in andere Länder weiterreisen wird. Wir klären derzeit in einer Arbeitsgruppe zwischen Bund und Ländern, was eine sinnvolle Weiterentwicklung sein könnte und wie wir die Kosten und Aufgaben zwischen Bund und Ländern gemeinsam schultern, damit wir unsere Kommunen nicht im Regen stehen lassen.
RND: Sie sind der Arbeitsminister – wie schnell können Sie die Flüchtlinge in Lohn und Brot bringen?
Heil: Wer arbeiten will und registriert ist, kann das rechtlich jetzt schon tun. Dafür haben Innenministerin Nancy Faeser und ich gesorgt. Ich weiß von einer ukrainischen Bäckerin, die direkt eine Anstellung gefunden hat. Solche Fälle freuen mich natürlich. Aber man muss ehrlich sein: Viele Geflüchtete sind traumatisiert Es kommen ja viele Mütter mit Kindern, da muss erst Mal die Betreuung der Kinder sichergestellt werden. Auch über Sprachkurse und die Anerkennung ukrainischer Abschlüsse müssen wir reden. Es gibt da eine Menge zu tun. Um das gut zu organisieren, habe ich kommende Woche Vertreter der Wirtschaft, der Gewerkschaften, der Wohlfahrtsverbände und der Länder zu einem Gipfel der Arbeitsmarktintegration eingeladen.
RND: Können Sie sagen, wie es um das Qualifikationsniveau der Menschen bestellt ist?
Heil: Es kommen vermutlich auch sehr viele sehr gut ausgebildete Menschen. Darunter auch Pflegekräfte, Ingenieure, Ärztinnen und Erzieherinnen. Zunächst einmal müssen wir diesen Menschen helfen. Für manche ist dabei die Normalität eines geregelten Arbeitsalltags womöglich die beste Hilfe – zumindest, wenn sie in ihrem Beruf arbeiten können. Es ist wichtig, dass wir ukrainische Berufsabschlüsse schnell und unkompliziert anerkennen. Da müssen wir erheblich besser und schneller werden.
RND: Sind die Flüchtlinge angesichts des massiven Fachkräftemangels nicht vor allem eine große Chance für Deutschland?
Heil: Jetzt geht es erst Mal um humanitäre Hilfe. Wir haben den Zugang zu unserem Arbeitsmarkt geöffnet und der deutsche Arbeitsmarkt ist in vielen Bereichen sehr aufnahmefähig. Grundsätzlich gilt: Wenn mehr Menschen arbeiten, profitieren davon alle – übrigens auch und besonders unsere Sozialsysteme.
RND: Die Fluchtbewegung sichert unsere Renten?
Heil: Angesichts des Leids der Menschen in der Ukraine wäre diese Haltung zynisch und grundfalsch. Jenseits dieser Frage ist klar: Unsere Renten sind langfristig stabiler, je mehr Menschen in Arbeit sind. Wir haben heute ungefähr 4 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte mehr als vor zehn Jahren prognostiziert – das haben all jene, die vom Ende der Rente fabuliert haben, komplett unterschätzt. Trotzdem stehen wir vor großen Herausforderungen, wenn die geburtenstarken Jahrgänge den Arbeitsmarkt verlassen. Da hilft jeder Beschäftigte – keine Frage.
RND: Im letzten Jahr stiegen die Renten gar nicht oder nur leicht, in diesem Jahr geht es richtig nach oben. Folgt im nächsten Jahr wieder eine Nullrunde?
Heil: Die Höhe der Rente folgt der Lohnentwicklung im darauffolgenden Jahr. Das erste Corona-Jahr 2020 hätte deshalb statistisch zu einer Rentenkürzung im Jahr 2021 geführt. Das haben wir mit der Rentengarantie verhindert. Die Lohnsteigerungen und der stabile Arbeitsmarkt führen jetzt im Juli wieder zu deutlichen Rentensteigerungen. Wenn es gelingt, den Arbeitsmarkt weiter stabil zu halten und es angemessene Lohnabschlüsse gibt, sind im kommenden Jahr Erhöhungen möglich.