- Datum:
- 28.11.2021
Bild am Sonntag (BamS):Herr Heil, wie kann die vierte Welle gebrochen werden?
Hubertus Heil: Die Lage ist dramatisch – vor allem in Sachsen, Thüringen und Bayern. Das Wichtigste ist, dass sich mehr Menschen impfen lassen. Das gilt auch für diejenigen, die viel verdienen und im Rampenlicht stehen, zum Beispiel Profi-Fußballer. Es gibt eine moralische Impfpflicht.
Bild am Sonntag (BamS): Braucht es auch eine richtige Impfpflicht für alle?
Heil: Wer sich impfen lässt, schützt sich selbst. Aber Impfen ist auch eine Frage der Solidarität – mit Kindern und vorerkrankten Menschen, die sich nicht impfen lassen können, mit den Ärzten und Pflegern, die auf den Intensivstationen unvorstellbar schuften. Impfen ist der einzige Weg, die Pandemie zu überwinden.
Bild am Sonntag (BamS): Wollen Sie jetzt eine Impfpflicht oder nicht?
Heil: Ja, und ich finde es richtig, dass wir in einem ersten Schritt noch vor Weihnachten dafür sorgen, dass es in zum Beispiel Kliniken, in Pflege-, Alten- und Behinderteneinrichtungen eine Impfverpflichtung gibt. Und wir müssen die Debatte über eine allgemeine Impfpflicht richtig führen. Denn wenn die Impfpflicht kommen soll, muss sie rechtssicher und praktisch umsetzbar sein.
Bild am Sonntag (BamS): Das Kurzarbeitergeld wurde bis März verlängert. Mit wie vielen Kurzarbeitern rechnen Sie in der vierten Welle und wie viel kostet das?
Heil: In der Arbeitsmarktpolitik ist es uns - anders als in der Gesundheitspolitik - gelungen, vor die Welle zu kommen. Wir haben Millionen Jobs gerettet, die Zahl der Kurzarbeiter ist von 6 Millionen auf circa 500.000 gesunken. Aufgrund von Lieferkettenstörungen in der Industrie und Umsatzeinbrüchen aufgrund regionaler Lockdowns rechnen wir mit einer leichten Zunahme der Kurzarbeit in diesem Winter und Zusatzkosten von 400 Millionen Euro. Das ist eine Menge Geld - aber eine sinnvolle Investition, um Massenarbeitslosigkeit zu verhindern.
Bild am Sonntag (BamS): Dafür kürzt die Ampel bei den Rentnern.
Heil: Diese Koalition kürzt nicht bei Rentnern.
Bild am Sonntag (BamS): Doch. Eigentlich hatten sich die Rentner fürs nächste Jahr auf ein dickes Plus gefreut. Aber diese Erhöhung wird so nicht stattfinden. Weil die Löhne wegen des Corona-Einbruchs gesunken sind, hätten auch die Renten sinken müssen. Das ist gesetzlich aber ausgeschlossen. Diese unterbliebene Kürzung soll jetzt mit der Erhöhung verrechnet werden. Mit wie viel können die Rentner noch rechnen?
Heil: Die Renten werden nicht gekürzt, sie steigen: Wir erwarten für das kommende Jahr kräftige Rentenerhöhungen. Prognostiziert waren 4,8 Prozent. Jetzt erwarte ich, dass die Renten in Deutschland ab Juli 2022 um 4,2 Prozent steigen. Das ist immer noch sehr ordentlich. Wichtig sind mir zwei zentrale Anliegen: Mit einer sozialdemokratisch geführten Regierung wird es nicht zu Rentenkürzungen kommen. Und: Die Rentenentwicklung darf nicht von der Lohnentwicklung abgekoppelt werden. Deswegen sorgen wir dauerhaft für ein stabiles Rentenniveau.
Bild am Sonntag (BamS): Was wird das erste Gesetz des Ampel-Arbeitsministers?
Heil: Die Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro werden wir sehr schnell angehen. Spätestens im kommenden Sommer soll die Erhöhung gelten. Dann verdienen rund zehn Millionen Menschen mehr.
Bild am Sonntag (BamS): Ein bisschen Rente, ein bisschen Mindestlohn. Wo ist die große, neue Idee der Ampel?
Heil: Diese Koalition macht Politik, für die, die das Land am Laufen halten. So werden wir ganz konkret den Alltag von Familien erleichtern. Gerade als Eltern von kleinen Kindern oder wenn man Angehörige pflegt, braucht man Unterstützung. Sei es beim Putzen der Wohnung, bei der Kinderbetreuung oder bei der Pflege. Doch Normalverdiener können es sich oft nicht leisten, für diese Hilfe eine reguläre, sozialversicherte Arbeitskraft zu engagieren. Manche Bürger weichen in die Schwarzarbeit aus, viele versuchen, ihren Alltag mit Job und Familie alleine zu stemmen. Das werden wir ändern! Wir führen für Familien ein System der Alltagshelfer ein.
Bild am Sonntag (BamS): Wie soll das genau funktionieren?
Heil: Der Staat gibt Familien in Form von Gutscheinen einen Zuschuss, damit sie sich legale Hilfe im Haushalt leisten können. Als ersten Schritt sollen Familien mit Kindern, Alleinerziehende und Menschen, die Angehörige pflegen, einen jährlichen Bonus von maximal 2.000 Euro erhalten. Mit diesem Geld können sie sich dann Alltagshelfer leisten.
Bild am Sonntag (BamS): Muss die Familie selbst gar nichts zahlen?
Heil: Staat und Familie teilen sich die Kosten für Alltagshelfer - 40 Prozent werden durch den Zuschuss bezahlt, 60 Prozent von den Bürgern selbst.
Bild am Sonntag (BamS): Wird die Abrechnung nicht ein Bürokratiemonster?
Heil: Keineswegs. Ich kann mir vorstellen, dass wir das mittels einer App regeln, über die zertifizierte Firmen ihre Dienstleistungen anbieten können. Die Familie bucht dann zum Beispiel das wöchentliche Putzen der Wohnung, gibt den vom Staat zugeschickten Gutscheincode ein und muss automatisch nur noch 60 Prozent zahlen. Die Firma rechnet den Gutschein dann mit der zuständigen Behörde ab. Alltagshelfer verbessern die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und schenken den Familien Zeit füreinander. Und auch die Alltagshelfer profitieren, weil sie sozialversichert sind und mindestens 12 Euro Stundenlohn erhalten. Sie sind keine rechtlosen Diener, sondern bekommen den Schutz und Respekt, den sie verdienen. Ich will, dass der Alltagshelfer aus der Schwarzarbeit rauskommt und ein ganz normaler Beruf in Deutschland wird.
Bild am Sonntag (BamS): Wie teuer wird das?
Heil: Mein Plan ist es, das Modell im nächsten Jahr vorzubereiten. Ab 2023 soll es dann die Gutscheine für Familien, Alleinerziehende, Pflegende geben. Für das erste Jahr rechnen wir mit 400 Millionen Euro Kosten. Später - eventuell schon in dieser Legislatur - soll jeder Haushalt einen solchen Alltagshelfer-Gutschein bekommen. Dann kostet es etwa 1,6 Milliarden Euro. Allerdings wird der Staat durch die Sozialversicherungsbeiträge und Steuern der Alltagshelfer auch Gegeneinnahmen haben. Das schafft einen ganz neuen Arbeitsmarkt und Fortschritt in der Familienpolitik.