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"Massenarbeitslosigkeit wäre um ein Vielfaches teurer als Kurzarbeit"

Interview von Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Soziales, mit ZEIT ONLINE

Datum:
22.03.2021

ZEIT ONLINE: Herr Heil, selten war ein Arbeitsminister so gefragt wie in dieser Krise: Wie viele Überstunden machen Sie momentan?

Hubertus Heil: Als Bundesminister gehört es zur Amtsverantwortung, die eigenen Überstunden nicht zu zählen. Natürlich ist das alles auch für einen Minister eine Herausforderung. Aber ich will nicht klagen und lieber an diejenigen denken, die den Laden zusammenhalten: an der Kasse, in der Pflege, in der Verwaltung.

ZEIT ONLINE: Sie mussten viele Entscheidungen treffen: Kurzarbeit einführen, neue Regeln für die Fleischindustrie vorbereiten, Soforthilfen für Selbstständige verabschieden. Geht das auch im Homeoffice?

Heil: Ich habe in der Tat einige Gesetzesvorlagen zu Hause unterzeichnet und weiß deshalb auch, wie schwierig es sein kann, Homeoffice und Homeschooling mit zwei Kindern im Grundschulalter zu organisieren. Und Homeoffice kann auch nicht dauerhaft den direkten Kontakt zu Menschen ersetzen. Ich hoffe, dass ich bald wieder öfter auf Terminen unterwegs sein kann.

ZEIT ONLINE: Viele Menschen sind gerade froh, überhaupt noch einen Job zu haben. Was tun Sie, um Arbeitsplätze langfristig zu erhalten?

Heil: Es stimmt, auch in Deutschland ist die Arbeitslosigkeit in diesem Jahr der Pandemie gestiegen. Wir haben rund eine halbe Million mehr Arbeitslose – und jedes Schicksal ist da eins zu viel. Aber wir liegen weiterhin unter der Drei-Millionen-Marke und im internationalen Vergleich ist der deutsche Arbeitsmarkt relativ robust. Das wichtigste Instrument ist dafür die Kurzarbeit. Im April 2020 waren sechs Millionen Menschen in Kurzarbeit, jetzt sind es noch 2,4 Millionen. Die meisten Menschen sind aus der Kurzarbeit in Arbeit zurückgekehrt – und eben nicht arbeitslos geworden.

ZEIT ONLINE: Das Kurzarbeitergeld ist für den Staat sehr teuer. Irgendwann wird die Unterstützung auslaufen müssen. Was kommt danach?

Heil: Ja, Kurzarbeit ist teuer. Aber die Rückkehr zu Massenarbeitslosigkeit wäre wirtschaftlich und sozial um ein Vielfaches teurer. Und im Gegensatz zu anderen Wirtschaftshilfen, die leider sehr verzögert ankommen, wirkt die Kurzarbeit. Bereits im August, als viele meinten, es komme keine zweite Welle, haben wir die Sonderregelungen bis Ende 2021 verlängert. Jetzt will ich den erleichterten Zugang noch bis zum 30. Juni verlängern. Die dazu notwendige Verordnung wird aktuell vorbereitet und soll noch im März ins Kabinett. Gleichzeitig müssen wir weiter darauf setzen, dass wir die Gesundheitskrise überwinden. Wir müssen impfen, das Infektionsgeschehen kontrollieren und die internationale Entwicklung im Blick gehalten. Nur dann kann auch die Wirtschaft wieder voll durchstarten. Wir haben keine Gewissheiten, aber ein paar plausible Annahmen: Die meisten Ökonomen sagen uns, dass wir schon Ende des Jahres einen Aufholprozess beginnen können. Das Jahr 2022 könnte schon wieder ein gutes Jahr werden.

ZEIT ONLINE: Alle Unternehmen werden es nicht schaffen …

Heil: Die Branchen werden sich unterschiedlich schnell erholen. Beim produzierenden Gewerbe könnte es schneller gehen, zum Beispiel weil die Exportnachfrage aus China wieder angesprungen ist. Andere Bereiche, wie die Gastronomie, sind besonders stark vom Lockdown betroffen. Letztlich wird es darum gehen, die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Manches wird sich durch die Pandemie verändert haben. Ich glaube, dass wir das schaffen.

ZEIT ONLINE: Sie klingen optimistisch. Eine Umfrage unter Jugendlichen zeigt, dass knapp 60 Prozent der Schülerinnen und Schüler fürchten, keinen Job zu finden.

Heil: Die Situation am Ausbildungsmarkt bereitet mir tatsächlich große Sorgen. Zum einen findet an Schulen gerade nicht die Berufsorientierung statt, die jungen Leuten sonst hilft. Außerdem werden seltener Praktika angeboten. Und gleichzeitig sind etliche Unternehmen unsicher, ob sie trotz ihrer Einbußen Ausbildungsplätze anbieten wollen. Genau für diese Fälle haben wir im vergangenen Sommer die Ausbildungsprämie gestartet. Gerade jetzt ist es wichtig, auszubilden. Damit wir nach der Krise nicht wieder über den Fachkräftemangel jammern müssen.

ZEIT ONLINE: Die Ausbildungsprämie haben Sie bereits eingeführt. Was wollen Sie noch tun, um dem Fachkräftemangel vorzubeugen?

Heil: Zunächst einmal werden wir die Ausbildungsprämien verdoppeln. Wenn eine Firma genauso viele junge Menschen ausbildet wie im Jahr zuvor, wird die Prämie von 2.000 auf 4.000 Euro pro Vertrag verdoppelt. Wenn eine Firma zusätzliche Ausbildungsplätze schafft, wird diese Prämie von 3.000 auf 6.000 Euro erhöht. Und für Unternehmen, die Azubis von Firmen übernehmen, die während der Corona-Krise insolvent gegangen sind, gibt es auch noch mal zusätzliche Gelder. Außerdem will ich, dass mehr Firmen von der Prämie profitieren können. Wir wollen die Prämie deshalb erweitern und auch auf größere Betriebe anwenden: Die Unternehmensgröße soll deshalb von 249 Mitarbeiter auf 499 Mitarbeiter verdoppelt werden.

ZEIT ONLINE: Nicht nur junge Menschen könnten in die Arbeitslosigkeit rutschen, auch diejenigen, die es bereits sind, verharren darin. Die Langzeitarbeitslosigkeit ist bereits gestiegen.

Heil: Das ist eine besonders bittere Nachricht, weil wir vor der Krise die Zahl der Langzeitarbeitslosen kräftig gesenkt hatten. Wir wissen, dass diese Menschen nicht von alleine in Arbeit zurückfinden. Zwei Drittel der Langzeitarbeitslosen haben keine Berufsausbildung. Wichtig ist deshalb, dass diese Menschen nicht in kurzfristige Jobs gebracht werden, die in einer Krise auch zuerst wieder wegfallen. Sondern wir müssen ihnen Abschlüsse ermöglichen. Ich stelle mir eine Weiterbildungsprämie vor für Menschen, die Arbeitslosengeld beziehen. Wer sich für eine Weiterbildung entscheidet, könnte Zuschüsse bekommen. Außerdem haben wir bereits einen sozialen Arbeitsmarkt eingeführt, um langzeitarbeitslosen Menschen den Weg zurück in Arbeit zu ermöglichen. Trotz Corona-Pandemie haben wir so schon 55.000 Menschen aus der Langzeitarbeitslosigkeit geholt.

ZEIT ONLINE: Wir haben in den vergangenen Monaten auch viel über systemrelevante Berufe wie die Pflege gesprochen. Vor einem Jahr haben Menschen auf ihren Balkonen für die Angestellten in Krankenhäusern geklatscht. Verbessert hat sich deren Situation bis jetzt nicht …

Heil: So ganz stimmt das nicht. Unsere Pflegemindestlohnkommission hat zum Beispiel eine bessere Bezahlung ausgehandelt, und wir haben bereits vor der Pandemie daran gearbeitet, dass die Löhne steigen und dass es einen Weg zu einem allgemeingültigen Tarifvertrag für die Pflege gibt.

ZEIT ONLINE: Ein Weg, der jetzt aber gescheitert ist.

Heil: Leider Gottes, ja, das ärgert mich auch. Letztendlich hätte der größte Arbeitgeber, die Caritas, nur noch zustimmen müssen. Doch deren zuständiges Gremium hat überraschend abgelehnt. Ich will mich aber nicht damit abfinden. Da müssen wir jetzt einen anderen Weg gehen.

ZEIT ONLINE: Und zwar?

Heil: Wir müssen jetzt schnell dafür sorgen, dass Seniorenheime nur noch dann aus der Pflegekasse refinanziert werden, wenn sie Tariflöhne zahlen. Nur so wird es gehen. Dazu muss der Gesundheitsminister noch vor dem Wahlkampf einen soliden Gesetzentwurf vorlegen. Außerdem brauchen wir grundsätzlich einen deutlich höheren Mindestlohn.

ZEIT ONLINE: Was den Pflegekräften wenig bringt, weil sie ja bereits mehr verdienen.

Heil: Das stimmt, aber vielen anderen Menschen in systemrelevanten Berufen würde das helfen. Gemeinsam mit Olaf Scholz habe ich deshalb einen Plan vorgelegt, um den Mindestlohn bis zum Jahr 2022 auf zwölf Euro anzuheben.

ZEIT ONLINE: Wie wollen Sie im Wahlkampf einem Restaurantbetreiber oder Barbesitzer erklären, dass er kurz nach der Krise plötzlich höhere Löhne zahlen soll?

Heil: Wir finanzieren jetzt Kurzarbeit, was sehr teuer ist und vom Steuerzahler getragen wird. Wenn wir wieder im Aufschwung sind, müssen die Leute doch wieder einkaufen und die Wirtschaft ankurbeln. Deshalb ist es sinnvoll, gerade die Löhne für Geringverdiener zu erhöhen. Die tragen das Geld nicht mal eben nach Luxemburg oder auf die Cayman Islands, sondern konsumieren, auch in der Gastronomie. Damit ist also allen geholfen. Es geht ja um die Zeit nach der Krise.

ZEIT ONLINE: Was wird sich in der Arbeitswelt nach der Krise noch verändern?

Heil: Wir erleben gerade einen ungeplanten Großversuch zum Homeoffice. Erfreulich ist, dass das viel unproblematischer ging, als viele davor erwartet hätten. Trotzdem gibt es beim Arbeiten von zu Hause auch einige Gefahren, die man nicht vergessen darf. Etwa, dass Homeoffice und Homeschooling kaum zusammengehen. Oder dass Menschen dazu neigen, im Homeoffice keinen ordentlichen Schlussstrich zu ziehen. Deshalb brauchen wir einen neuen Ordnungsrahmen für mobiles Arbeiten.

ZEIT ONLINE: Im vergangenen Jahr forderten Sie ein Recht auf Homeoffice, für mindestens 24 Tage im Jahr. Nun sollen Angestellte nur das Recht erhalten, mit ihrem Arbeitgeber über Homeoffice-Regeln zu sprechen. Das klingt nicht nach einem Fortschritt.

Heil: Mit den Koalitionspartnern ist ein Rechtsanspruch auf Homeoffice nicht zu machen. Das ist sehr schade, aber kurzfristig nicht zu ändern. Was wir jetzt haben, ist mein Gesetzesentwurf zum sogenannten Erörterungsanspruch. Diesen Weg gehen die Niederlande seit Jahren, und zwar erfolgreich. Arbeitgeber müssen schriftlich begründen, warum sie den Wunsch ihrer Angestellten nach Homeoffice ablehnen. Ein Chef kann also nicht mehr willkürlich Nein sagen, sondern braucht sachliche Argumente.

ZEIT ONLINE: Im Homeoffice haben sich bis jetzt vor allem die Frauen um den Haushalt und die Kinder gekümmert. Ist das ein gutes Zukunftsmodell?

Heil: Homeoffice sollte nicht zur Retraditionalisierung der Rollen führen – weder privat noch beruflich. Um das zu verhindern, spielt eine verlässliche Kinderbetreuung eine ganz entscheidende Rolle. Ich bin überzeugt, dass wir einen Rechtsanspruch für die Betreuung von Kindern auch im Grundschulalter brauchen. Den gibt es schon im Vorschulbereich und in den Kitas, aber auch Grundschulkinder können sich noch nicht selbst versorgen. Da braucht es mehr Betreuungsangebote. Nur so werden Männer und Frauen künftig ähnlich viel arbeiten und auch verdienen können. Die Lohnlücke, das haben wir vor einigen Tagen am Equal-Pay-Day gesehen, liegt in Deutschland immer noch bei 18 Prozent.

ZEIT ONLINE: Die EU-Kommission hat nun vorgeschlagen, ein stärkeres Recht für Gehaltstransparenz schaffen. Finden Sie auch, dass das deutsche Entgelttransparenzgesetz nicht ausreicht?

Heil: Ja, ich finde es richtig, dass wir für mehr Transparenz bei den Gehältern sorgen. Das EU-Gesetz ist eine wichtige Weiterentwicklung, die ich unterstütze. Zu wissen, wie viel die Kolleginnen und Kollegen verdienen, kann dabei helfen, die Lohndiskriminierung zu reduzieren. Es erleichtert Frauen, ihr Gehalt fair zu verhandeln. Das betrifft aber nur den bereinigten Teil der Lohnlücke, die sechs Prozent. Der Rest hat etwas damit zu tun, dass Frauen oft in schlecht bezahlten Branchen arbeiten und häufiger in Teilzeit sind. Da reicht ein Transparenzgesetz nicht aus, um mehr Gleichberechtigung herzustellen.

ZEIT ONLINE: Eine aktuelle Studie zeigt, dass Männer gerne weniger und Frauen gerne mehr arbeiten würden. Wäre nicht auch eine Reduzierung der Vollzeitarbeitszeit auf 32 Stunden eine Lösung?

Heil: Das glaube ich nicht. Es gibt verschiedene Lebensphasen, und auf die sollte man Rücksicht nehmen. Nach der Ausbildung wollen die meisten Männer und Frauen voll reinhauen. Kommen Kinder, wollen meist beide ihre Arbeitszeiten reduzieren. In anderen Phasen des Lebens hat man wieder mehr Kapazitäten. Darauf haben wir mit dem Gesetz zur Brückenteilzeit reagiert, aber das kann natürlich nur ein Anfang sein.

ZEIT ONLINE: Könnten Sie sich vorstellen, irgendwann wieder weniger zu arbeiten?

Heil: Ja, eines Tages kann ich mir das sehr gut vorstellen. Aber vom Ruhestand bin ich mit 48 Jahren noch weit entfernt.