- Datum:
- 25.02.2021
Stern: Sie haben ja Zivildienstleist gemacht. Haben Sie damals überlegt, in der Pflege zu arbeiten?
Hubertus Heil: Ich habe das überlegt und mich dann anders entschieden.
Stern: Weil Sie die Arbeitsbedingungen abgeschreckt haben.
Heil: Das war's nicht. Natürlich ist manches gewöhnungsbedürftig, etwa Gerüche. Ich habe Demenzkranke und andere pflegebedürftige ältere Menschen daheim betreut, und da habe ich gelernt durch den Mund zu atmen, wenn man Menschen versorgt oder den Kathederbeutel wechselt. Meine Erfahrungen von damals möchte ich aber nicht missen.
Stern: Warum?
Heil: Als junger Mensch hat man wenig mit Schmerz und Tod zu tun, aber durch den Zivildienst kam ich damit in Berührung. Das verändert die Einstellung zum Leben. Die Arbeit hat mir auch persönlich geholfen.
Stern: Wie?
Heil: Meine Mutter war alleinerziehend. Ich lebte als Kind in einem Dorf, eine ältere Frau, die ich Oma genannt habe, hat mich betreut. Als ich den Dienst gemacht habe, wurde sie pflegebedürftig, und ich habe meine Arbeit von Hannover nach Peine verlegt, so dass ich mich um sie kümmern konnte.
Stern: Sie haben die Folgen von Pflege auch in der eigenen Familie erlebt.
Heil: Bei meiner Mutter. Sie war über viele Jahre krebskrank und wollte in ihrer Wohnung bleiben. Wir haben dann einen guten Pflegedienst gefunden, aber am Ende ging es in ihrer Wohnung nicht mehr.
Stern: Und dann?
Heil: Ich habe sie zu uns nach Hause geholt. Sie wollte in einem Hospiz versorgt werden. Eine Woche war sie bei uns, dann hatte das Hospiz einen freien Platz, wir haben sie hingebracht, und einen Tag später ist sie gestorben. Das war eine kurze, intensive Zeit. Zumal in derselben Woche meine Tochter geboren wurde, aber so hat meine Mutter noch ihr Enkelkind kennengelernt.
Stern: Klingt nach einer Achterbahn der Gefühle.
Heil: Auf jeden Fall. Durch die Pflege bei meiner Mutter habe ich erlebt, was ein Pflegefall emotional und organisatorisch bedeutet, und worum man sich kümmern muss. Für andere Angehörige können da finanzielle Risiken entstehen, so bin ich froh, dass wir die Unterhaltsgesetze geändert haben.
Stern: Dass Kinder nur für die Pflege der Eltern einspringen müssen, wenn das Bruttoeinkommen über 100.000 Euro liegt ...
Heil: Genau. Sonst zahlt die Grundsicherung.
Stern: Die Politiker versuchen seit Jahren die Lage der Pflegekräfte zu verbessern. Ohne großen Erfolg. Woran liegt es?
Heil: In der Altenpflege wurde zu viel ökonomisiert, so ist ein harter Druck für die Beschäftigten entstanden. Außerdem fehlen Tarifverträge. Jeder weiß, dass Tarifverträge die Arbeitsbedingungen verbessern, aber in der Altenpflege gelten sie nur für eine Minderheit der Beschäftigten. Wir haben viele verschiedene Arbeitgeber, aber keinen starken Arbeitgeberverband wie in der Metallindustrie. Wegen dieser kleinteiligen Strukturen haben es Gewerkschaften wie Verdi schwer, Mitglieder zu sammeln.
Stern: Okay. Der Stern will die Pflege verbessern und hat eine Bundestagspetition gestartet. Darin wird eine Abkehr von Profitdenken gefordert. Sie wollen ähnliches. Wie packen Sie es an?
Heil: Wir haben die Konzertierte Aktion Pflege ins Leben gerufen. Drei Bundesminister, Franziska Giffey, Jens Spahn und ich, haben alle, die in der Pflege etwas zu sagen haben, an einen Tisch gebracht, also Arbeitgeber, Gewerkschaften, Länder, Wissenschaft, Wohlfahrtsverbände.
Stern: Warum sollte ein runder Tisch etwas ändern?
Heil: Wir haben ein neues Gesetz geschaffen, das Pflege-Löhne-Verbesserungsgesetz. Ich weiß, ein komplizierter Name, aber damit besteht eine echte Chance die Lage zu verbessern. Als Arbeitsminister kann ich nun per Gesetz einen bestehenden Tarifvertrag leichter für allgemeingültig erklären, wenn sich andere Arbeitgeber anlehnen.
Stern: Und wenn Caritas und Diakonie nicht mitmachen?
Heil: Das ist eine historische Chance und die Erwartungen sind riesig. Altenpflege war schon vor Corona hart, doch die Pandemie schuf neue Lasten. Die Pflegekräfte mussten sich um soziale Kontakte für die Bewohner bemühen, weil die Angehörigen nicht ins Heim konnten. Sie sollten das Testen übernehmen und fürchteten um die eigene Gesundheit. Für ihre Arbeit gab es Respekt, aber Klatschen reicht nicht. Die Wohlfahrtsverbände, Verdi, Caritas und Diakonie haben in einem Brief während der Koalitionsverhandlungen von uns bessere Bedingungen gefordert. Nun haben wir geliefert.
Stern: Die privaten Anbieter sprechen von einem "Angriff auf die Tarifautonomie", weil Verdi und ein paar Heime die Löhne diktierten. Wie holen sie die Arbeitgeber vom Baum runter?
Heil: Indem wir vernünftig über die Sache reden. Ich glaube diejenigen, die solche Sprüche lassen, haben lange nicht mehr mit Pflegekräften gesprochen. Ich weiß auch, dass in Deutschland nicht der Staat die Löhne festlegt, sondern die Tarifpartner. Aber wenn es zu wenig Tarifverträge gibt, müssen wir eingreifen. Das haben wir über Mindestlöhne getan und jetzt bietet sich die historische Chance über die Allgemeingültigkeit von Tarifverträgen. Die Arbeitgeber sollten sich überlegen, ob sie das Vorgehen bekämpfen. Die Arbeitsbedingungen werden sonst nie besser, aber später jammern alle über Fachkräfte-Mangel.
Stern: Die privaten Anbieter betreiben 44 Prozent aller Heime, zwei Drittel aller ambulanten Dienste. Können Sie sie einfach verprellen?
Heil: Nein. Ich will die privaten Anbieter nicht alle über einen Kamm scheren. Sie müssen kostendeckend arbeiten und Umsätze machen, das ist auch in Ordnung. Es gibt aber auch Konzerne und internationale Fonds, die Pflegeheime betreiben, und sehr hohe Renditen erwarten. Manche dieser Renditeerwartungen finde ich unanständig.
Stern: Sie wollen Gewinne vorschreiben?
Heil: Mein Kollege Jens Spahn von der CDU hat diese Renditeerwartungen auch kritisiert. Ich denke, wir müssen darüber reden, wie wir die Pflegeversicherung so aufstellen, dass sich Finanzinvestoren nicht die Taschen füllen. Für die Finanzierung gibt es ja nur folgende Wege. Wir lassen die Menschen das privat zahlen, aber da sind schon viele an der Kante. Oder wir machen es solidarisch über Pflegeversicherung und Steuern. Das ist mein Weg.
Stern: Ihren Plan bezahlen die Pflegebedürftigen. Höhere Löhne bedeuten einen höheren Eigenanteil, und der liegt im Schnitt bei 2000 Euro im Monat. Wer soll das bezahlen, wenn die Durchschnittsrente bei 1200 Euro liegt.
Heil: Es ist klar, dass wir etwas ändern müssen. Die höheren Löhne müssen über die Pflegeversicherung abgebildet und der Eigenanteil gedeckelt werden.
Stern: Genau diesen Deckel will Spahn. Die Heime sollen dazu nur Geld von der Pflegeversicherung erhalten, wenn sie Tariflöhne zahlen.
Heil: Ich hätte mir gewünscht, dass Kollege Spahn keine Eckpunkte zum Ende einer Legislaturperiode vorgelegt hätte, sondern einen wirklichen Gesetzentwurf, über den wir dann verhandeln. Bislang haben wir nur bedrucktes Papier, aber keine konkrete Gesetzgebung.
Stern: Rechnen Sie noch mit Spahns Pflegedeckel vor der Bundestagswahl?
Heil: Nicht ernsthaft. Es liegt noch kein Gesetzentwurf vor und uns läuft die Zeit davon. Den Job müssen wir wohl nach der Bundestagswahl erledigen.