- Datum:
- 11.04.2020
Focus: Herr Minister, bisher haben rund eine halbe Million Unternehmen in Deutschland Kurzarbeit angemeldet. Wie viele Arbeitnehmer sind davon betroffen?
Hubertus Heil: Die wichtigste Aufgabe ist nach wie vor, Gesundheit und das Leben der Menschen zu schützen, auch wenn das gravierende wirtschaftliche und soziale Auswirkungen mit sich bringt. Derzeit haben mehr als 470.000 Unternehmen Kurzarbeit angemeldet. Wie viele Menschen konkret in Kurzarbeit sind, lässt sich wegen der unterschiedlichen Größe der Betriebe noch nicht hochrechnen. Das können wir erst Anfang Mai beziffern. Die Beschäftigten in den Arbeitsagenturen arbeiten unter Hochdruck und ich bin ihnen sehr dankbar dafür.
Focus: Wird es schlimmer als in der Finanzkrise 2008/9?
Hubertus Heil: Ja, es deutet alles darauf hin. Damals gab es in der Spitze 1,4 Millionen Kurzarbeiter und ich gehe davon aus, dass es jetzt erheblich mehr sein werden.
Focus: Kurzarbeit schützt erst einmal vor Entlassung. Aber werden die Unternehmen mit Fortdauer der Krise nicht gezwungen sein, vielen Leute zu kündigen?
Hubertus Heil: Zunächst einmal wirkt Kurzarbeit bei der Sicherung von Millionen von Arbeitsplätzen und stabilisiert so die Wirtschaft. Es ist ein bewährtes, schnell wirkendes Instrument, das Bücken baut. In den USA kennt man so etwas nicht, dort werden die Beschäftigten jetzt entlassen. Binnen einer Woche gab es 6,5 Millionen Arbeitslose mehr. Ohne Kurzarbeit wäre der wirtschaftliche Einbruch auch bei uns um ein Vielfaches größer. Mein Appell an die Arbeitgeber in Deutschland ist deshalb, ihre Beschäftigten mit Hilfe der Kurzarbeit an Bord zu halten. Es kommen auch wieder bessere Zeiten und dann sind alle dankbar, auf bewährte Arbeitskräfte zurückgreifen zu können.
Focus: Die Arbeitslosigkeit ist vor der Krise zuletzt auf 5,1 Prozent gesunken. Welche Entwicklung erwarten Sie jetzt?
Hubertus Heil: Wir können nicht jeden Job garantieren, aber wir können sehr viele Arbeitsplätze sichern. Dennoch rechne ich mit steigender Arbeitslosigkeit. Die Zahlen hängen davon ab, wie lange die Einschränkungen in der Krise aufrechterhalten werden müssen. Und nicht zuletzt spielt auch die Entwicklung der Weltwirtschaft für die Beschäftigung in einem Exportland wie Deutschland eine große Rolle.
Focus: Bei geschlossenen Geschäften und stillgelegter Produktion wegen unterbrochener Lieferketten sind die Unternehmen auf Kredite angewiesen. Die Banken sperren sich aber in vielen Fällen. Reichen da die 90-Prozent-Bürgschaften des Staates?
Hubertus Heil: Man muss die Hilfspakete von Bund und Ländern in der Gesamtheit sehen. Den Solo-Selbständigen und Kleinstunternehmern wird durch direkte Zuschüsse geholfen ebenso wie durch Liquiditätssicherungen. Darüber hinaus werden Kredite durch Bürgschaften des Bundes bis zu 100 Prozent gesichert. Es kommt jetzt auch auf die Hausbanken der Firmen an, die zur Bewältigung der Last einen wichtigen Teil beitragen müssen. Insgesamt ist Deutschland aber besser für die Krise gerüstet als andere Länder.
Focus: Wird die "Bazooka" noch einmal nachgeladen, also können die staatlichen Hilfen gegebenenfalls noch erhöht werden?
Hubertus Heil: Wir müssen zunächst die weiteren Entwicklungen in den kommenden Wochen abwarten. Ich kann nicht ausschließen, dass wir weitere Maßnahmen zur Abfederung der Folgen treffen müssen.
Focus: Wo genau?
Hubertus Heil: Nun lassen Sie uns doch erst einmal sehen, wie die aufgespannten Sicherungsschirme wirken. Das läuft ja alles gerade erst an und deshalb ist eine seriöse Beurteilung noch gar nicht möglich. Wir haben es mit der größten Krise unserer Generation zu tun. Wir kämpfen um jeden Arbeitsplatz, um die Wirtschaft vor dauerhaftem Schaden zu bewahren. Zudem wird es weitere konjunkturelle Maßnahmen geben, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln.
Focus: Das Kurzarbeitergeld beträgt 60 Prozent des Lohns, für Arbeitnehmer mit Kindern 67 Prozent. Reicht das für die vielen Geringverdiener aus?
Hubertus Heil: Keine Frage, für Beschäftigte mit Teilzeitjobs oder kleinen Einkommen ist das ein großer Einschnitt. Auch viele Minijobber sind betroffen; sie bekommen kein Kurzarbeitergeld, weil sie nicht in die Arbeitslosenversicherung einbezogen sind. Ich werde aber um Ostern herum mit Gewerkschaften und Arbeitgebern beraten, was noch möglich ist, um Lohneinbußen abzufedern.
Focus: Kann der Arbeitgeber das Kurzarbeitergeld ergänzen?
Hubertus Heil: Es gibt die Möglichkeit, das über Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen aufzustocken und das wird in vielen Betrieben und Branchen auch gemacht.
Focus: Was kann man als Betroffener tun?
Hubertus Heil: In existenziellen Fällen können Leistungen aus der Grundsicherung beantragt werden. Außerdem haben wir die Hinzuverdienstmöglichkeiten in der Kurzarbeit so verändert, dass man die Summe der Lohneinbußen mit einer anderen Tätigkeit wieder hinzuverdienen kann, ohne dass das Kurzarbeitergeld gestrichen wird. Es gibt ja durchaus Bereiche, wo gerade händeringend Arbeitskräfte gesucht werden, etwa im Handel, der Logistik oder der Landwirtschaft.
Focus: Die Bundesanstalt für Arbeit hat Rücklagen von rund 26 Milliarden Euro. Wie lange reichen die?
Hubertus Heil: Lange. Zunächst einmal haben wir jetzt in der Corona-Krise mehr Rücklagen als in der Finanzkrise 2008/9.
Focus: Wie hoch schätzen Sie die "Mitnahmeeffekte" derjenigen ein, deren Firmen ohnehin zu wenig Aufträge und Umsätze hatten?
Hubertus Heil: Diese Wahrnehmung habe ich nicht. Von Einzelfällen abgesehen, rechne ich nicht mit einem Missbrauch auf breiter Front, zumal es auch Überprüfungen gibt.
Focus: Die Auswirkungen der Krise hängen von deren Dauer ab. Wie lange können wir uns den Shut-down volkswirtschaftlich noch leisten?
Hubertus Heil: Es geht um Gesundheit und Leben von Menschen. Und wenn man die schrecklichen Bilder aus Italien und anderen Ländern sieht und auch in Deutschland erlebt, dass Menschen an dem Virus sterben wie etwa in manchen Alten- und Pflegeeinrichtungen, dann weiß man, dass Gesundheit Vorrang haben muss vor durchaus nachvollziehbaren wirtschaftlichen Interessen.
Focus: Die Geschwindigkeit der Infektionswelle geht deutlich zurück. Sollte man nicht nach und nach kleinere Geschäfte wieder öffnen?
Hubertus Heil: Die Geschwindigkeit der Infektionsverbreitung wird laufend überprüft. Erst wenn diese deutlich zurückgeht und wir keine Überforderung des Gesundheitssystems mehr befürchten müssen, können die Lockerungen der Maßnahmen überprüft werden – aber erst dann. Ich verstehe die Ungeduld vieler Bürger, Beschäftigter und Unternehmer sehr gut, aber es geht um verantwortliches Handeln und dazu hat die Bundeskanzlerin die richtigen Worte gefunden.
Focus: Hat die Bundesregierung denn einen Exit-Plan? Eine Lockerung wird ja nur schrittweise möglich sein, denn man kann ja kaum binnen eines Stichtages von totaler Schließung auf totale Öffnung umschalten.
Hubertus Heil: Man darf solche Debatten um Lockerungen nicht zur Unzeit führen. Die Menschen wissen um den Ernst der Situation und halten sich weitestgehend an die Beschränkungen. Widersprüchliche Signale aus den Reihen der Politik verwirren da nur. Aber glauben Sie mir, die Bundesregierung trifft alle Vorbereitungen.
Focus: Das heißt es wird gerade an einem Exit-Plan gearbeitet?
Hubertus Heil: Natürlich wird auf den unterschiedlichsten Ebenen daran gearbeitet, wie man nach einem deutlichen Absinken der Infektionszahlen verfährt und wie das allmähliche Auslaufen der Maßnahmen gestaltet werden kann. Eine Normalisierung der Lage wird wahrscheinlich nur schrittweise erfolgen können. Aber jetzt ist das Hochfahren von Intensivkapazitäten in den Krankenhäusern und die Beschaffung von Schutzkleidung, Atemmasken und Beatmungsgeräten am wichtigsten.
Focus: Angesichts der gewaltigen Summen, die für die Abfederung der Krisenfolgen ausgegeben werden müssen – wie soll das Geld wieder reinkommen?
Hubertus Heil: Die Unternehmen erleiden Umsatzverluste, die Beschäftigten Lohneinbußen und auch der Staat hat weniger Steuereinnahmen. Zum Glück haben wir in den zehn Jahren vor der Krise gut gewirtschaftet, sodass wir jetzt Reserven haben.
Focus: Aber mit Reserven alleine lässt sich die "Bazooka" nicht bezahlen...
Hubertus Heil: Das stimmt. Wir müssen nach der Krise darüber reden, wie die Lasten fair in der Gesellschaft verteilt werden.
Focus: Rechnen Sie mit einer Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung?
Hubertus Heil: Nein, ich sehe keine Notwendigkeit, über eine Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zu spekulieren. Wir haben zwar einen historisch niedrigen Stand bei der Beitragshöhe, aber auch große Rücklagen. Und falls die Krise wirklich sehr lange dauern sollte, gibt es noch die Möglichkeit, das aus dem Bundeshaushalt zu unterstützen. Das haben wir 2009 nach der Finanzkrise auch so gehandhabt.
Focus: Ihre Parteivorsitzende Saskia Esken schlägt eine einmalige Sonderabgabe von Super-Reichen vor? Ist das eine gute Idee?
Hubertus Heil: Ich konzentriere mich erst einmal auf die Umsetzung der beschlossenen Schutzmaßnahmen. Nach der Krise müssen wir für einen fairen Lasten- und Interessenausgleich sorgen.
Focus: Die großen Vermögen in Deutschland stecken sehr häufig in Unternehmen. Die befinden sich aber jetzt gerade in großen Schwierigkeiten. Wäre dann eine solche Sondersteuer nicht kontraproduktiv?
Hubertus Heil: Ich freue mich, dass wir im Moment einen großen Zusammenhalt in der Gesellschaft erleben und ich wünsche mir, dass diese Solidarität anhält, wenn irgendwann die Lasten verteilt werden müssen. Aber alles zu seiner Zeit.
Focus: Wenn viele Milliarden neuer Schulden gemacht werden müssen – kann sich die Bundesregierung dann noch die geplante Abschaffung des Solidaritätszuschlags und die Einführung der Grundrente leisten?
Hubertus Heil: Wir sollten sowohl die Abschaffung des Soli für 90 Prozent der Steuerzahler als auch die Grundrente umsetzen. Damit entlasten wir die Bürger, was für die Ankurbelung der Konjunktur nach der Krise wichtig ist. Das gilt am Ende auch für die Grundrente. Und den jetzt zu Recht gelobten "Heldinnen des Alltags", also der Kassiererin im Supermarkt oder der Pflegerin, hilft das besonders. Der Staat sollte verlässlich sein und die beschlossenen Verbesserungen jetzt nicht wieder zurücknehmen.
Focus: Ein Drittel der Arbeitnehmer arbeitet derzeit krisenbedingt im Home-Office. Bislang lag Deutschland bei der Arbeit in der eigenen Wohnung immer weit hinter anderen Ländern zurück. Wird aus der Verlegenheitslösung "Home Office" nach der Krise eine Dauerlösung?
Hubertus Heil: Tatsächlich arbeiten derzeit rund 35 Prozent der Beschäftigten im Home Office und das zeigt eine hohe Flexibilität der Beschäftigten, aber auch der Arbeitgeber. Für rund 53 Prozent ist Home-Office allerdings nicht möglich, weil sie an einer Kasse sitzen oder auf Baustellen, Feldern oder in der Logistik arbeiten. Wir werden nach der Krise genau auswerten, ob und wie sich die Arbeit der Zukunft dann gestaltet. Ich glaube, dass die erprobte Flexibilität manche Abläufe verändern wird. Klar ist schon jetzt, dass die mehr oder weniger spontane Einrichtung von Millionen Arbeitsplätzen im Home-Office einen Riesenschub für die Digitalisierung auslösen wird.