- Datum:
- 12.02.2020
Rhein-Neckar-Zeitung: Herr Heil, viele Menschen blicken mit Sorge auf die Zukunft der Arbeit. Sie auch?
Hubertus Heil: Nein, weil wir jetzt richtige Weichen stellen. Deutschland wird die Arbeit ja auch in Zeiten der Digitalisierung nicht ausgehen. Aber: Es wird in vielerlei Hinsicht andere Arbeit sein. Wir erleben, dass bereits heute in einigen Bereichen Arbeitsplätze durch die Digitalisierung wegfallen, etwa bei Handel, Banken und Versicherungen. Also müssen wir jetzt dafür sorgen, dass jemand, der zum Beispiel in einem Callcenter arbeitet, das Recht auf Umschulung hat. Im verarbeitenden Gewerbe erleben wir, dass Arbeitsplätze nicht wegfallen, aber sich Berufsanforderungen ändern. Hier geht es um betriebliche Weiterbildung. Und bei den sozialen Berufen wie Gesundheit, Bildung und Pflege wird die Nachfrage nach menschlicher Arbeit noch stärker wachsen. Auf all diese Veränderungen müssen wir gute Antworten finden, damit die Beschäftigten von heute die Chance haben, die Arbeit von morgen zu machen.
Rhein-Neckar-Zeitung: Wie kann das funktionieren? Zumal manche meinen, man hätte bereits früher auf den Wandel reagieren müssen. Hat die Politik das Thema etwas verschlafen?
Hubertus Heil: Den Eindruck habe ich nicht. Den Wandel zu gestalten ist auch nicht allein Aufgabe der Politik, sondern eine gemeinsame Aufgabe von Wirtschaft, Gewerkschaften und Staat. Das müssen wir – bei allen Interessenunterschieden – schon gemeinsam hinbekommen. Unsere Aufgabe ist es, die Rahmenbedingungen zu verbessern, vor allem für kleine und mittelständische Unternehmen. Im vergangenen Jahr haben wir genau dafür das Qualifizierungschancengesetz in Kraft gesetzt. Es ermöglicht, dass Unternehmen, die im Strukturwandel stecken, bei Investitionen in Weiterbildung mit Mitteln der Bundesagentur für Arbeit unterstützt werden können. Wir wollen in diesem Wandel Arbeitslosigkeit verhindern, bevor sie entsteht. Und wir gehen jetzt mit dem Arbeit-von-morgen-Gesetz, das wir in der Koalition vereinbart haben, noch darüber hinaus: Es wird einen ganzen Instrumentenkasten geben, um dafür zu sorgen, dass die Transformation arbeitnehmerfreundlich gelingen kann.
Rhein-Neckar-Zeitung: Der Ökonom Erik Brynjolfsson hat kürzlich gesagt, jeder Einzelne solle genau darüber nachdenken, ob ein Teil seiner Tätigkeit von einer Maschine ersetzt werden kann – und was er stattdessen machen könne. Ist jeder auch selbst in der Verantwortung?
Heil: Natürlich. Aber ich glaube, dass viele Menschen auch Unterstützung brauchen. Deshalb gibt es einen Rechtsanspruch auf Weiterbildungsberatung durch die Bundesagentur für Arbeit, den wir geschaffen haben. Das müssen wir noch weiter ausbauen.
Rhein-Neckar-Zeitung: Ein großer Punkt bei der digitalen Ökonomie ist die Sorge, dass Wenige profitieren und Viele auf der Strecke bleiben – etwa all die Menschen, die unter prekären Bedingungen arbeiten.
Heil: Ich sehe in der Digitalisierung mehr Chancen als Risiken. Nicht nur durch neue, interessante Geschäftsmodelle und eine höhere Produktivität in der Wirtschaft. Sondern auch, weil wir jetzt die Chance haben, die Arbeitswelt im Sinne der Beschäftigen zu flexibilisieren und somit beispielsweise eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu ermöglichen. Aber technischer Fortschritt ist nicht automatisch sozialer Fortschritt. Wir haben bestimmte Bereiche des Arbeitsmarktes, in denen unter dem Stichwort Digitalisierung reine Ausbeutung betrieben wird. Etwa im wachsenden Onlinehandel. Wir alle bestellen bequem im Netz. Aber am Ende bringen nicht Flugdrohnen die Pakete, sondern Paketboten. Gerade in diesem Bereich haben wir erlebt, dass oft Löhne gedrückt und Sozialversicherungsbeiträge hinterzogen wurden. Wir haben reagiert – mit dem Paketbotenschutzgesetz. Und wir werden im Frühjahr darüber hinaus Vorschläge machen für das Thema Plattformarbeit. Die Rechte von Beschäftigten und ihr sozialer Schutz dürfen in der Digitalisierung nicht unter die Räder kommen.
Rhein-Neckar-Zeitung: Wie kann man diese Menschen schützen, die Dienstleistungen über webbasierte Plattformen verkaufen?
Heil: Zum einen müssen wir klären: Was sind abhängig Beschäftigte, die über Plattformen arbeiten? Was sind neue Formen von Selbstständigkeit? Da gibt es selbstbestimmte Selbstständigkeit im Sinne von "New Work", wie man Neudeutsch sagt. Aber es gibt auch Scheinselbstständigkeiten und Ausbeutung. Ich erlebe, dass angesichts dieser Entwicklungen der bisherige Rechtsrahmen nicht mehr zeitgemäß ist. Wir werden etwa dafür sorgen müssen, dass alle Selbstständigen in Deutschland Schutz im Alter haben. Deswegen werden wir die Selbstständigen in das System der Alterssicherung einbeziehen – und zwar nicht erst in zehn Jahren. Damit müssen wir jetzt anfangen.
Rhein-Neckar-Zeitung: Das führt zu einem Ihrer wichtigsten Projekte: der Grundrente. Nun gibt es da nach langem Hin und Her einen Kompromiss. Sie gehen weiterhin davon aus, dass die Grundrente im Januar 2021 kommen wird?
Heil: Ja, dafür arbeite ich. Die Bundesregierung wird das Gesetz jetzt auf den Weg bringen und ich bin froh, dass wir das miteinander in der Koalition hinbekommen. Die Grundrente wird viele Menschen im Alter finanziell besserstellen. Dabei werden vor allem Frauen profitieren, die ein Leben lang gearbeitet, Kinder erzogen und Angehörige gepflegt haben.
Rhein-Neckar-Zeitung: Einer der Kritikpunkte an der Grundrente ist, dass sie keine Antwort ist auf die neue Art des Arbeitens. Um die Grundrente zu bekommen, muss man 33 Jahre Beiträge gezahlt haben. Das haben etwa all die Plattform-Arbeiter nicht.
Heil: Doch, wenn wir eben die Selbstständigen in das System der Alterssicherung einbeziehen, gilt die Grundrente auch für sie. In einer idealen Welt bräuchten wir die Grundrente nicht. Da hätte jeder die Chance, Vollzeit zu arbeiten und ausreichend zu verdienen. Und anständige Löhne zu erhalten. Aber viele Menschen haben ihr Erwerbsleben schon hinter sich. Denen bleibt nur die Grundsicherung im Alter, die aber keinen Unterschied macht, ob man gearbeitet hat, Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt hat. Die Grundrente schafft mehr Leistungsgerechtigkeit und ist ein Beitrag im Kampf gegen Altersarmut.
Rhein-Neckar-Zeitung: Eines der großen Themen für die Menschen hier ist die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Wenn alle die Chance haben sollen, Vollzeit zu arbeiten – was müsste geschehen, damit das klappt?
Heil: Ich propagiere nicht, dass jeder Vollzeit arbeiten muss. Es muss auch möglich sein, eine Zeit lang Teilzeit zu arbeiten – sowohl für Männer als auch für Frauen. Mein Grundsatz ist: Wir müssen dafür sorgen, dass die Arbeit zum Leben passt. Nicht umgekehrt. Dafür haben wir mit der Brückenteilzeit schon ein wichtiges Gesetz gemacht. Es geht aber auch um betriebliche Vereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften; es geht um die Verbesserung und Weiterentwicklung des Elterngeldes, die gerade von Familienministerin Franziska Giffey auf den Weg gebracht wird. In jedem Fall brauchen wir einen weiteren Ausbau der Kinderbetreuung und von Ganztagsangeboten. Es gibt also nicht den einen Schalter, den man da umlegen muss. Bei allen Maßnahmen muss es darum gehen: mehr Selbstbestimmung im Arbeitsleben.
Wenn wir etwa über Flexibilität von Arbeitszeiten reden, dürfen wir nicht nur die Flexibilitätsansprüche von Unternehmen im Blick haben. Wir müssen auch die Flexibilitätswünsche der Beschäftigten berücksichtigen.
Rhein-Neckar-Zeitung: Sie meinen Dinge wie Arbeitszeitkonten, Lebensarbeitszeit oder Homeoffice?
Heil: Zum Beispiel. Es gibt ja verschiedene Modelle. Auch hier werden wir den Rechtsrahmen anpassen, etwa durch ein Recht auf mobiles Arbeiten. Inzwischen können zwölf Prozent der Beschäftigten in Deutschland mobil arbeiten. Laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung wäre das theoretisch in 40 Prozent der Unternehmen möglich. Und wir wollen das mehr Angestellten ermöglichen. Aber natürlich ohne Zwang. In manchen Betrieben funktioniert Homeoffice nicht. Wenn sie in einer Bäckerei arbeiten, können sie die Brötchen nicht zu Hause backen. Und es gibt auch Beschäftigte, die Homeoffice nicht als Verheißung empfinden, weil sie das Gefühl haben, dass die Arbeit ins Private entgrenzt wird. Aber für die, in deren Leben das passt, soll es einfacher möglich sein.