- Datum:
- 03.02.2020
Spiegel: Herr Heil, wie lange werden Sie noch Minister sein?
Hubertus Heil: Ich habe jedenfalls noch sehr viel vor.
Spiegel: Sie rechnen also damit, dass die Koalition bis zum planmäßigen Ende hält?
Heil: Ich kümmere mich nicht darum, wann diese Regierung zu Ende ist, sondern darum, was in dieser Regierung möglich ist.
Spiegel: Was macht Sie so zuversichtlich? Die Koalition wirkt seit langem alles andere als stabil.
Heil: Die Menschen erwarten, dass wir ihren Lebensalltag verbessern. Und das ist mein Anspruch als Minister. Wir haben viel vor der Brust, wir haben Dinge verabredet, die müssen wir umsetzen. Zum Beispiel in meinem Bereich die Grundrente.
Spiegel: Aber bedroht nicht gerade im Moment Ihr Lieblingsprojekt Grundrente den Fortbestand der Koalition?
Heil: Nein, wir haben das politisch verabredet, und das werden wir jetzt hinkriegen. Es geht ja um diejenigen, die wirklich hart gearbeitet haben, die Kinder erzogen oder die Angehörige gepflegt haben. Die haben sich das verdient.
Spiegel: Alle paar Monate heißt es, es wurde eine Kompromisslinie gefunden, und dann geht der Streit von vorne los.
Heil: Wir reden über eine große Sozialreform. Jeder, der sich etwas auskennt, weiß, das ist nicht leicht umzusetzen. Aber wir machen ja Dinge nicht, weil sie leicht sind, sondern weil sie richtig und notwendig sind.
Spiegel: Nicht nur der Wirtschaftsflügel und die Sozialpolitiker der Union kritisieren Ihren Gesetzentwurf einmütig. Auch die Rentenversicherung äußerte sich ungewöhnlich harsch.
Heil: Wir haben eine Kompromisslösung und ich arbeite daran, diese umzusetzen. Die offenen Fragen sind lösbar. Es geht zum Teil um technische Dinge und wir sind auf der Zielgeraden.
Spiegel: Dazu gehört, dass Sie bei der Grundrente eine Einkommensprüfung über einen Datenabgleich von Rentenversicherung und Finanzbehörden planen, der zurzeit nicht mal auf Papier existiert. Das ist mehr als ein technisches Detail.
Heil: Deshalb macht man Gesetze, um dafür die Voraussetzungen zu schaffen. Wir wollen, dass die Menschen im Alter sich nicht mit Bürokratie und Formularen herumschlagen müssen, um ihren berechtigten Anspruch auf eine Grundrente zu begründen. Natürlich ist das ambitioniert, aber so muss ein moderner Sozialstaat funktionieren.
Spiegel: In der Union gibt es Stimmen, die den Start der Grundrente auf Sommer 2021 verschieben wollen. Ist das ein Abschied auf Raten?
Heil: Alle sollten wissen: Dies ist die dritte Bundesregierung in Folge, die den Bürgerinnen und Bürgern die Grundrente versprochen hat. Ich glaube nicht, dass sie ein weiteres Scheitern tolerieren würden.
Spiegel: Auch die SPD macht es Ihnen nicht leicht, schränkt Ihren Spielraum ein.
Heil: Das nehme ich nicht so wahr.
Spiegel: Norbert Walter-Borjans will die Grundrente über den Kompromiss der Koalition ausweiten und den Anspruch Grundrente längerfristig auf alle Rentner ausweiten, die länger als 33 Jahre gearbeitet haben.
Heil: Er hat gesagt, dass wir die Verabredung gemeinsam umsetzen. Und da sind sich die Spitzen von CDU, CSU und SPD einig. Klar ist, dass wir weiter gingen, wenn wir alleine regieren würden.
Spiegel: Die SPD rückt mit den neuen Parteichefs nach links. Sie hingegen gelten als Pragmatiker. Sind Sie das Korrektiv in der neuen SPD-Spitze?
Heil: Nein, ich bringe meine Überzeugungen ein. Die sozialdemokratische Partei muss sich für die Menschen einsetzen, die den Laden am Laufen halten, jeden Tag arbeiten und es oft nicht leicht haben. Wenn Sie so wollen: die arbeitende Mitte oder die Leistungsträger im Alltag. Für die mache ich Politik. Leistungsträger sind übrigens nicht nur die mit einem Einkommen ab 100 000 Euro. Und die meisten von ihnen tragen keinen Schlips - sie sind auch Handwerksmeisterin, Berufsfeuerwehrmann und Altenpflegerin.
Spiegel: Die neue Parteispitze hat jede Menge Ideen vorgebracht. Ein Beispiel: Sie will den Spitzensteuersatz anheben. Sehen Sie das genauso?
Heil: Bei Entlastungen sollten wir uns auf die unteren und mittleren Einkommen konzentrieren. Es ist sinnvoll, den Soli in den Spitzensteuersatz zu integrieren, der sich dadurch erhöhen würde, damit der Staat handlungsfähig bleibt. Da sind Norbert Walter Borjans, Olaf Scholz und ich uns einig.
Spiegel: Der Spitzensteuersatz greift aber schon bei denen, die Sie als Leistungsträger bezeichnen, nämlich auch bei Facharbeitern.
Heil: Der Spitzensteuersatz sollte später greifen. Aber alle, die deutlich mehr verdienen, müssen einen höheren Spitzensteuersatz zahlen, um Investitionen in Bildung, Forschung und Infrastruktur zu ermöglichen.
Spiegel: Ein weiteres Thema der neuen Parteispitze ist die Wiederbelebung der Idee des demokratischen Sozialismus. Wie stehen Sie dazu?
Heil: Dieser Begriff gehört zur Geschichte der Partei. Ich bin Sozialdemokrat.
Spiegel: Das heißt?
Heil: Sie haben gesagt, ich sei Pragmatiker. Das halte ich nicht für ein Schimpfwort. Aber ich bin kein wertefreier Pragmatiker. Ich kenne die Geschichte meiner Partei und habe eine Vorstellung davon, wie man Gesellschaft verändert und in welche Richtung.
Spiegel: In welche Richtung wollen Sie mit der SPD?
Heil: Meine Partei darf nicht ständig über sich und die Vergangenheit sprechen, sondern muss sich um die Dinge kümmern, die für das Land jetzt und in Zukunft wichtig sind. Jeder Mensch sollte die Chance haben, seinen eigenen Lebensweg zu gehen. Der Staat muss dafür die Voraussetzungen schaffen, etwa in den Schulen, in der Arbeitswelt oder in der Pflege. Erneuerung und Sicherheit – dafür steht die Sozialdemokratie heute.
Spiegel: Die SPD hat seit 1998 knapp 18 Jahre lang regiert. Trotzdem geht es bei den Umfragewerten und Wahlergebnissen immer weiter bergab. Nun werden Parteien nicht für das gewählt, was sie gemacht haben, sondern für das, was sie für die Zukunft vorhaben. Was ist Ihr Angebot?
Heil: Wir halten die Gesellschaft zusammen. Wir sorgen dafür, dass aus digitalem Fortschritt auch sozialer Fortschritt wird und dass die Beschäftigten von heute die Chance haben, die Arbeit von morgen zu machen.
Spiegel: Der SPD gelingt es aber nicht, damit Menschen von sich zu überzeugen.
Heil: Das werden wir ändern. Ich habe immer konkrete Leute vor Augen, wenn ich Politik mache. Nehmen wir die Klimapolitik. Eine Anwältin in Berlin kann locker mit einem höheren CO2-Preis leben, weil sie einen guten öffentlichen Personennahverkehr hat. Eine Polizistin auf dem Land, die mit dem Auto zum Revier lange Strecken fahren muss, erlebt das anders. Wir müssen dafür sorgen, dass der Klimaschutz gelingt, ohne die Gesellschaft zu spalten.
Spiegel: Ein Problem der SPD ist doch, dass jeder andere Wähler vor Augen hat. Es herrscht keine Einigkeit darüber, wen man eigentlich ansprechen will.
Heil: Die SPD ist keine Partei für einzelne Wählergruppen, keine Klientelpartei wie die FDP. Wenn wir den Anspruch erneuern wollen, die soziale Volkspartei zu sein, müssen wir ein gemeinsames Verständnis von Gemeinwohl haben. Die Sozialdemokratie darf sich nicht an den Rand verkriechen. In anderen europäischen Ländern sehen wir, was dann passiert. Diesen Gesellschaften geht es nicht gut.
Spiegel: Sie haben beim Mitgliedervotum so wie die meisten führenden Genossen Olaf Scholz und Klara Geywitz unterstützt. Gewonnen haben Esken und Walter-Borjans. Wie soll die Zusammenarbeit jetzt funktionieren?
Heil: Gemeinsam. Die SPD ist keine Holding, sondern die eine Partei. Wenn es unterschiedliche Nuancen und Strömungen gibt, ist das gut für eine Volkspartei. Die Erfahrung lehrt aber, dass man gemeinsam stärker ist.
Spiegel: Wie die SPD inhaltlich in den nächsten Wahlkampf gehen wird, hängt maßgeblich davon ab, mit welchem Kandidaten Sie antreten. Wie sieht der Zeitplan dafür aus?
Heil: Da müsste ich jetzt so Generalsekretärssprüche machen. Die wollte ich mir eigentlich abgewöhnen.
Spiegel: Um eine Antwort kommen Sie aber nicht herum.
Heil: Der Generalsekretär würde sagen: Das werden wir rechtzeitig entscheiden.
Spiegel: Im SPD-Bericht „Aus Fehlern lernen“ nach der Wahl 2017 heißt es, man solle den Kandidaten künftig rechtzeitig, also mindestens ein Jahr vor der Wahl bestimmen. Ist das schon wieder passé?
Heil: 1985 hat die SPD Johannes Rau als Kandidaten präsentiert, für die Wahl 1987. Das war zu früh. Dann gab es Zeiten, in denen es spät gemacht wurde und der Kandidat nicht vorbereitet war. Und es kam vor, dass die SPD alles richtig gemacht hat und ein gutes Timing hatte. Aus Fehlern zu lernen ist wichtig. Viel schöner finde ich es aber, aus Erfolgen zu lernen.
Spiegel: Der letzte richtig erfolgreiche SPD-Wahlkampf auf Bundesebene liegt schon mehr als 20 Jahre zurück. Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder gelang 1998 die Verbindung von linker Partei und einem pragmatischen Kanzlerkandidaten.
Heil: Richtig bleibt: Du musst die Gesellschaft verändern wollen, und du musst wissen, wie das gelingt. Wir sind jetzt aber nicht am Ende der Kohl-Ära.
Spiegel: Aber am Ende der Merkel-Ära.
Heil: Jede Zeit ist anders. Die SPD sollte jedenfalls ermutigen, dass Angela Merkel bei der nächsten Wahl keine Kanzlerkandidatin mehr ist.
Spiegel: Stehen Sie als Kanzlerkandidat zur Verfügung?
Heil: Ich peile das nicht an, sondern konzentriere mich auf meine Arbeit.
Spiegel: Hat Olaf Scholz eine Chance auf die Kandidatur?
Heil: Jetzt ist nicht die Zeit für Spekulationen. Im Übrigen macht Olaf Scholz einen ausgezeichneten Job.
Spiegel: Wer immer Kandidat der SPD werden wird, muss einerseits verloren gegangene Wähler zurückgewinnen und dabei die eigene Partei zusammenhalten.
Heil: Wir brauchen für die Bundestagswahl drei P’s: glaubwürdige Personen, ein glaubwürdiges Programm und eine glaubwürdige Performance. Und es geht um politische Klarheit. Unklarheit war ein Teil unseres Problems in den vergangenen Wahlkämpfen. Wir haben brav Dinge umgesetzt und Gesetze gemacht. Das ist auch richtig. Aber wir müssen dem Land auch eine größere Perspektive anbieten.
Spiegel: Als Arbeitsminister kommt Ihnen dabei eine zentrale Rolle zu. Sie müssen das Vertrauen einer Kernklientel der SPD zurückgewinnen – der Facharbeiter.
Heil: Das ist mir bewusst. Aber es geht nicht nur um die Facharbeiter, so wichtig sie mir sind. Es geht um den rasanten Wandel der gesamten Arbeitswelt. Solche Situationen hat das Land in der Vergangenheit schon erfolgreich gemeistert, aber es gab auch Strukturbrüche, etwa in Ostdeutschland, die bis heute Narben hinterlassen Die Digitalisierung darf nicht zu Brüchen und Spaltung führen. Sie muss Fortschritt für alle sein. Dazu leiste ich meinen Beitrag.
Spiegel: Diese Zukunft ist doch längst Gegenwart. Gewerkschafter und Arbeitgeber der Automobilindustrie verlangen Erleichterungen bei der Kurzarbeit wegen der Strukturkrise.
Heil: Deshalb handeln wir jetzt. Wir haben immer noch einen sehr robusten Arbeitsmarkt. Von der Situation der Finanzmarktkrise 2009 sind wir weit entfernt. Aber regional und in einzelnen Branchen ist die Lage schwierig. Da sind Meldungen nicht nur aus Baden-Württemberg, wo wir schon den Anstieg der Arbeitslosigkeit haben im verarbeitenden Gewerbe, aber auch Ankündigungen von Entlassungen und Anmeldungen zur Kurzarbeit. Diese Nachrichten nehme ich ernst und daher habe ich dazu bereits im November einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt. Die Koalition hat in dieser Woche beschlossen, dass wir das jetzt umsetzen.
Spiegel: Neue Frage: Was werden Sie konkret tun?
Heil: Mit dem Arbeit-von-morgen-Gesetz schaffen wir einen Werkzeugkasten dafür, dass der Wandel gelingt. Dazu gehört die Förderung von betrieblicher Weiterbildung, wenn etwa der Techniker, der bisher Verbrennungsmotoren hergestellt hat, jetzt Elektromotoren herstellen soll. Wir sorgen mit Transfergesellschaften und Qualifizierung dafür, dass Beschäftigte, die nicht mehr im Betrieb bleiben können, den Anschluss nicht verlieren. Und: Wir erweitern die Kurzarbeit und verbinden sie mit Weiterbildung. Wir sichern Beschäftigung und den Fachkräftebedarf.
Spiegel: Kritiker sagen, Kurzarbeit sei das falsche Instrument zur Zeit. Sie diene dazu konjunkturelle Krisen zu überwinden, nicht strukturelle Probleme einzelner Branchen.
Heil: Bei der letzten Krise haben wir positive Erfahrungen mit der Kurzarbeit gemacht. Unsere Schwierigkeit heute ist, dass man nicht nach Lehrbuch unterscheiden kann: Was sind konjunkturelle, was strukturelle Verwerfungen? Den Beschäftigten ist es am Ende egal, ob konjunktureller oder struktureller Wandel für sie eine Gefahr ist. Sie brauchen Sicherheit.
Spiegel: Und was machen Sie, wenn sich die Lage nicht verbessern sollte? Dann haben Sie Ihr Pulver verschossen.
Heil: Ich will doch gar nicht alle Instrumente auf einmal ziehen. Aber ich will, dass wir im Bedarfsfall alle Möglichkeiten haben.
Spiegel: Glauben Sie, dass die Union mitmachen wird? Bei der Grundrente hieß es auch, die Koalition sei sich einig.
Heil: Meine Vorschläge hat der Koalitionsausschuss beschlossen, so dass wir das Arbeit-von-morgen-Gesetz jetzt umsetzen können.
Spiegel: Wird es nach der nächsten Bundestagswahl noch einmal eine Große Koalition geben?
Heil: Ich will, dass die SPD nach der nächsten Wahl eine Bundesregierung anführen kann.
Spiegel: Herr Minister, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.