- Datum:
- 06.04.2019
Rheinische Post: Die Autoindustrie steht vor großen Umbrüchen, der Verbrennungsmotor könnte bald Geschichte sein. Was steht den Beschäftigten der Branche bevor?
Hubertus Heil: Die deutsche Automobilindustrie mit ihren 810.000 Beschäftigten muss gerade einen doppelten Stresstest bewältigen: Es geht um neue umweltfreundliche Antriebe und die Digitalisierung, die die Unternehmen und die Arbeit grundlegend verändern werden. Heute sind viele Zulieferbetriebe auf den Verbrennungsmotor ausgerichtet. In den nächsten Jahren werden aber die Elektromobilität und andere Antriebe stärker gefragt sein. Darum ist es wichtig, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer rechtzeitig die Chance zur Weiterbildung erhalten. Mit dem Qualifizierungschancengesetz sind wir hier ein gutes Stück weitergekommen. Davon konnte ich mich in den vergangenen Monaten bei einigen Werksbesuchen selbst überzeugen.
RP: Muss sich eine starke Industrie darauf nicht ohne staatliche Hilfe einstellen?
Heil: In erster Linie sind die Arbeitgeber für die Weiterbildung ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verantwortlich. Aber die Politik muss diesen rasanten Strukturwandel flankieren. Wir müssen verhindern, dass wir in Europa bald nur noch die verlängerte Werkbank Asiens sind, wenn nämlich die Autos in Zukunft nur noch mit Batterien oder anderen Antrieben aus Fernost fahren. Als Arbeitsminister will ich meinen Beitrag leisten, dass Deutschland auch zukünftig noch Produktionsstandort in der Automobilindustrie ist. Aber über gute Arbeitsmarktpolitik hinaus braucht es dafür eine aktive Industriepolitik.
RP: Wie soll die aussehen?
Heil: Ein Großteil der Wertschöpfung bei der Elektromobilität steckt in der Batteriezellfertigung. Wir müssen dafür sorgen, dass in Deutschland moderne Batteriezellen entwickelt und produziert werden. Dafür müssen wir rasch attraktivere Standortbedingungen schaffen. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Bis Ende des Jahres müssen von meinem Kollegen Altmaier Vorschläge kommen, wie wir die Standortbedingungen für die Batteriezellfertigung verbessern. Wir sind hier etwa bei den Stromkosten derzeit nicht wettbewerbsfähig. Deshalb müssen wir für die neuen Fabriken der Batteriezellfertigung die EEG-Umlage senken. Als Arbeitsminister will ich dafür sorgen, dass wir auch 2030 noch ein Land sind mit vielen Arbeitsplätzen in der Mobilitätswirtschaft und der Automobilindustrie.
RP: Der Plan, in Deutschland Batteriezellen herzustellen, wird in der Wirtschaft nicht gerade mit Beifall versehen. Ihr Kollege Altmaier will die Ansiedlung ja mit einer Milliarde Euro subventionieren. Warum sind Sie so sicher, dass das der richtige Weg ist?
Heil: Wir dürfen nicht zulassen, dass die Wertschöpfung in der Autoindustrie woanders stattfindet und wir nur noch Autos zusammenschrauben. Wir dürfen uns in der Autoindustrie nicht auf den Erfolgen der Gegenwart und der Vergangenheit ausruhen.
RP: Der Arbeitsplatzabbau in der Automobilindustrie geht einher mit weiteren großen Veränderungen durch die Digitalisierung der Arbeitswelt. Was erwarten Sie?
Heil: Im Bereich Handel, Banken und Versicherungen werden wir erleben, dass menschliche Arbeit sehr rasch auch durch künstliche Intelligenz ersetzt werden kann. Was machen wir mit Kassiererinnen, deren Arbeit künftig durch digitale Kassensysteme erledigt wird? Oder mit den Menschen in Callcentern, deren Arbeit durch intelligente Computersoftware ersetzt wird? Hier geht es handfest um Umschulung. Im produzierenden Gewerbe wiederum geht es eher um betriebliche Weiterbildung und Qualifizierung. Bei sozialen Dienstleistungen, bei Pflege-, Bildungs- und Erziehungsberufen wird es ganz anders sein: Da wird der Bedarf nach menschlicher Arbeit viel größer werden. Deshalb müssen wir hier attraktivere Arbeitsbedingungen schaffen.
RP: Wie wollen Sie die Wild-West-Methoden bei manchen digitalen Dienstleistern, etwa Pizza-Lieferanten oder Paketdienstleistern, eindämmen?
Heil: Manche verwechseln Digitalisierung mit Ausbeutung. Ich beobachte das gerade im Online-Handel. Bei uns werden sehr viele Menschen aus Osteuropa bei den Paketdiensten ausgebeutet – durch die Konstruktion von Sub-Sub-Sub-Unternehmen. Einige Unternehmen wollen den Mindestlohn unterlaufen und sich die Sozialversicherungsbeiträge ersparen. Deshalb will ich eine Generalunternehmerhaftung auch für Paketdienste und die gesamte Logistikbranche durchsetzen. Das haben wir auch in der Bauwirtschaft erfolgreich eingeführt.
RP: Sind Sie auch für ein Mindesthonorar vergleichbar zum Mindestlohn für solche Beschäftigten, die selbstständig arbeiten?
Heil: Ich bin nicht für Mindesthonorare und wüsste auch nicht, wie der Staat diese für alle Selbstständigen festlegen könnte. Was wir angesichts auch neuer und zum Teil prekärer Formen von Selbstständigkeit brauchen, ist eine angemessene soziale Absicherung. Wir beobachten allerdings im Moment, dass es in der Plattformökonomie immer schwieriger wird zu unterscheiden, wer abhängig beschäftigt und wer selbständig ist.
RP: Sie wollen also Scheinselbstständigkeit nicht mehr bekämpfen?
Heil: Ganz im Gegenteil: Scheinselbstständigkeit müssen wir auch weiterhin abstellen. Wir müssen aber in der digitalen Welt unsere sozialen Sicherungssysteme anpassen. Ein Beispiel: Wir haben erlebt, dass in Köln bei Deliveroo Fahrradkuriere rausgeschmissen wurden, weil sie einen Betriebsrat gründen wollten. Dafür wurden dann Scheinselbstständige angeheuert. Das ist schon heute rechtswidrig. Bei der Überprüfung des Falles haben wir aber auch gesehen, dass die Frage, ob sie einen Betriebsrat hätten gründen dürfen, rechtlich zumindest zweifelhaft war, weil sie dafür eine physische Betriebsstätte hätten haben müssen. Denn das Betriebsverfassungsgesetzt sieht derzeit noch vor, dass es einen physischen Betriebsort gibt. Der Betriebsort der Fahrradkuriere war aber ein Algorithmus. Das Beispiel zeigt: Wir müssen Arbeitnehmerrechte in der Digitalisierung erneuern. Nur so wird aus der sozialen Marktwirtschaft eine soziale Datenökonomie.
RP: Was wollen Sie zur Alterssicherung der Selbstständigen tun?
Heil: Ich werde Ende des Jahres einen Gesetzentwurf zur Einbeziehung der Selbstständigen in das System der Alterssicherung vorlegen. Wir haben drei Millionen Selbstständige in Deutschland, die im Alter nicht abgesichert sind. Der Koalitionsvertrag sieht vor, dass wir alle Selbstständigen in ein System der Alterssicherung einbeziehen. Das heißt, die Selbstständigen müssen Mitglied in einem Versorgungswerk sein, wie beispielsweise Ärzte und Anwälte, durch die Rürup-Rente abgesichert sein oder eben in die gesetzliche Rentenversicherung eintreten.
RP: Wie wollen Sie die Rente für die Selbstständigen finanzieren?
Heil: Bei den Selbstständigen geht es nicht nur um Absicherung. Durch diese Gruppe kommen auch neue Beitragszahler in das System der Alterssicherung.
RP: Wer soll von der Selbstständigen-Rente profitieren?
Heil: Die Einbeziehung in das System der Alterssicherung ist eine große sozialpolitische Reform. Auch für Selbstständige muss gelten, dass man nach einem Leben harter Arbeit abgesichert ist. Deshalb ist es auch für Selbstständige wichtig, dass wir vorher die Grundrente einführen.
RP: Kriegen Sie überhaupt eine Einigung bei der Grundrente mit der Union hin?
Heil: Ja, diese Koalition wird eine Einigung bei der Grundrente zustande bringen, und ich bin entschlossen, meinen Beitrag dazu zu leisten. Ich werde im Mai meinen Gesetzentwurf vorlegen, und dann werden wir verhandeln.
RP: Über die Bedürftigkeitsprüfung?
Heil: Die Grundrente ist ja nicht bedingungslos, sondern das Ergebnis von Lebensleistung. Wir reden etwa über Friseurinnen, Lagerarbeiter und Altenpflegehelferinnen, die 35 Jahre gearbeitet haben und nur aufgrund von niedrigen Löhnen im Alter nicht mehr bekommen als die, die nie gearbeitet haben. Im Koalitionsvertrag ist festgelegt, dass die Grundrente einen Beitrag im Kampf gegen Altersarmut leisten soll und die Lebensleistung anerkennen soll. Es ist auch vereinbart, dass die Grundrente über die Rentenversicherung organisiert wird.
RP: Und der Koalitionsvertrag sagt: "Die Voraussetzung für den Bezug der Grundrente ist eine Bedürftigkeitsprüfung entsprechend der Grundsicherung."
Heil: Der Koalitionsvertrag ist an dieser Stelle widersprüchlich. Denn die Rentenversicherung kennt grundsätzlich keine Bedürftigkeitsprüfung. Diejenigen, die die Grundrente bekommen werden, haben sie sich verdient. Diesen fleißigen Leuten sollten wir eine bürokratische Bedürftigkeitsprüfung ersparen.
RP: Wann wollen Sie eigentlich Zwischenbilanz in der großen Koalition ziehen – mit Beginn der Sommerpause oder erst im Herbst nach den Landtagswahlen?
Heil: Ich denke, nach dem Sommer. Ein genaues Datum kenne ich nicht. Wir werden bilanzieren, was wir aus dem Koalitionsvertrag bisher umgesetzt haben und was sich in den vergangenen Jahren an neuen Herausforderungen ergeben hat, auf die wir dann auch weitere Antworten geben müssen.
RP: Wie sieht Ihre persönliche Bilanz bisher aus. Lohnt es sich, mit der Union weiterzuregieren?
Heil: Es lohnt sich, das Land zu erneuern und Schritt für Schritt den Alltag von Menschen zu verbessern. Hier ist in einem Jahr viel erreicht worden – beim sozialen Wohnungsbau, für mehr Bildung und zum Beispiel mit dem sozialen Arbeitsmarkt. Ich habe noch viel vor.