- Datum:
- 22.02.2019
Handelsblatt: Herr Minister, die SPD hat ein milliardenschweres Sozialstaatskonzept vorgelegt, das bei der Union prompt auf breiten Widerstand gestoßen ist. Bereiten Sie den Ausstieg aus der Großen Koalition vor?
Hubertus Heil: Nein. Ich will, dass diese Koalition erfolgreich für die Bürgerinnen und Bürger bis zum Ende der Legislaturperiode arbeitet. Die Arbeitswelt ändert sich und die Bürger haben ein Recht auf soziale Sicherheit. Das müssen wir anpacken.
Handelsblatt: Aber wie lange kann man in einer Koalition zusammenarbeiten, wenn sich jeder auf Kosten des anderen profilieren will?
Heil: Es geht doch darum, das Land nach vorne zu entwickeln und auf die Erwartungen der Menschen die richtigen Antworten zu finden. Darüber muss man sich intensiv unterhalten, um am Ende die beste Lösung zu haben. Das ist Demokratie, nicht Profilierung.
Handelsblatt: Welches Ziel verfolgen Sie genau?
Heil: Ich will das Land in turbulenten Zeiten des digitalen Wandels erneuern und die Gesellschaft dabei zusammenhalten. Wir haben zwar eine ausgezeichnete Lage am Arbeitsmarkt. Aber auch den Brexit, den Streit um die Autozölle mit den USA und nicht zuletzt die Herausforderungen durch die Digitalisierung. Darum haben wir zum Beispiel das Qualifizierungschancengesetz gemacht, mit dem wir Unternehmen und Beschäftigte bei der Weiterbildung finanziell unterstützen.
Handelsblatt: Die SPD will länger Arbeitslosengeld zahlen und sich vom Hartz-IV-System verabschieden. Nichts davon steht im Koalitionsvertrag.
Heil: Für ist mich ist der Koalitionsvertrag die Grundlage des Handelns. Das hält uns aber nicht davon ab, gemeinsam zu weitergehenden Lösungen zu kommen. Der Sozialstaat muss weiterentwickelt werden. Es geht darum: Was ist mit Blick auf die kommenden Jahre für unsere Gesellschaft richtig, leistbar und notwendig?
Handelsblatt: Gehört zu der Debatte auch eine Bremse bei den Sozialabgaben, wie sie der Wirtschaftsminister vorgeschlagen hat?
Heil: Ich habe den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung um 0,5 Punkte gesenkt. Es ist doch keine Frage, dass wir die Lohnnebenkosten stabil halten wollen. Ich bin aber nicht der Meinung, dass wir dafür unsere Verfassung ändern müssen.
Handelsblatt: Sie hätten den Arbeitslosenbeitrag auch noch stärker senken können.
Heil: Wir brauchen bei der Bundesagentur für Arbeit auch Rücklagen für schwierige Zeiten, falls wir zum Beispiel wieder Kurzarbeit unterstützen müssen um Arbeitsplätze zu sichern. Das kann mit den konjunkturellen Folgen des Brexits schneller passieren als viele denken.
Handelsblatt: Auch Ihr Vorschlag zur Grundrente entspricht nicht dem Koalitionsvertrag. Glauben Sie wirklich, dass die Union auf eine Bedürftigkeitsprüfung verzichten wird?
Heil: Ich halte mich bei der Grundrente an die vereinbarten Ziele des Koalitionsvertrages: Es geht um den Respekt vor Menschen, die eine Lebensarbeitsleistung erbracht haben. Wir machen das etwa für Friseurinnen, Lagerarbeiter und Altenpflegerinnen, die ihr Leben lang fleißig waren, aber aufgrund zu niedriger Löhne nur Mini-Renten haben. Die sollen im Alter mehr haben als jene, die den ganzen Tag auf dem Sofa gesessen haben. Im Koalitionsvertrag steht klar, dass die Grundrente über die Rentenversicherung laufen soll. Und die kennt keine Bedürftigkeitsprüfung.
Handelsblatt: Moment: Im Koalitionsvertrag wird diese Prüfung als Bedingung für die Grundrente genannt.
Heil: Bei der Grundrente liegt die Betonung auf Rente. Wir wollen keine neue Form der Grundsicherung im Alter. Ich werde einen Gesetzentwurf auf Basis meines Modells vorlegen. Die Rentenansprüche von Geringverdienern, die mindestens 35 Jahre ins System eingezahlt haben beziehungsweise Zeiten der Kindererziehung oder Pflege vorweisen können, werden höher gewertet.
Handelsblatt: Der Streit mit CDU und CSU ist vorprogrammiert.
Heil: Über Einzelheiten werden wir im Verfahren reden müssen. Bei den Verbesserungen der Mütterrente habe ich aber niemanden aus der CSU erlebt, der da eine Bedürftigkeitsprüfung gefordert hat. Es ging ebenfalls um Respekt – vor der Kindererziehung. Deshalb sehe ich die Diskussion sehr gelassen.
Handelsblatt: Kritiker werfen Ihnen vor, das Geld mit der Gießkanne zu verteilen.
Heil: Das lasse ich nicht gelten: Wir helfen drei bis vier Millionen Menschen zielgenau. Davon sind 75 Prozent Frauen, die durch Teilzeitarbeit oder Kindererziehungszeiten nur geringe Rentenansprüche erworben haben. Und wenn in der Debatte das altbackene Beispiel der Zahnarztgattin angeführt wird, die das Geld angeblich nicht nötig habe: Erstens haben sich diese Menschen ihre Ansprüche durch Arbeit und Leistung erworben. Und zweitens müssen bei einem höheren Haushaltseinkommen von Ehepaaren auch mehr Steuern gezahlt werden. Es wird also niemand zu viel bekommen.
Handelsblatt: Reicht ein mittlerer einstelliger Milliardenbetrag pro Jahr für die Finanzierung aus?
Heil: Ja. Ich verschweige nicht, dass es ein erheblicher finanzieller Kraftakt wird. Das sollte es unserer Gesellschaft aber wert sein. Die genauen Kosten hängen von der Ausgestaltung der Grundrente ab.
Handelsblatt: Ist es gerecht, dass jemand mit 35 Versicherungsjahren die Grundrente bekommt, mit 34 Jahren aber nicht?
Heil: Zum einen werden da auch Zeiten der Kindererziehung und der Pflege von Angehörigen mitgezählt. Ich kann mir außerdem vorstellen, dass wir den Übergang etwas fließender gestalten. Dafür müssen wir aber die Gesamtfinanzierung klären.
Handelsblatt: Ihr früherer Parteichef Sigmar Gabriel hat Sie für den Vorschlag zur Grundrente gelobt. Haben Sie sich darüber gefreut?
Heil: Ich habe mich vor allem über den großen Zuspruch aus der Bevölkerung gefreut. Offensichtlich haben wir einen gesellschaftlichen Nerv getroffen. Übrigens habe ich hinter den Kulissen auch Zuspruch aus den Reihen von CDU und CSU bekommen. All das stimmt mich zuversichtlich, dass wir eine Grundrente durchsetzen werden, die den Namen verdient.
Handelsblatt: Jeder fünfte Beschäftigte arbeitet im Niedriglohnsektor. Das sind alles potenzielle Kandidaten für die Grundrente, oder?
Heil: Ja. Die Frage ist: Finden wir uns damit ab? Wir müssen die Tarifbindung in Deutschland stärken. Da sind Gewerkschaften und Arbeitgeber gefordert. Ein höherer Mindestlohn alleine wird das Problem nicht lösen.
Handelsblatt: Die SPD will den Mindestlohn auf zwölf Euro die Stunde anheben.
Heil: Die Richtung, die in meiner Partei diskutiert wird, finde ich richtig. Das Ziel muss aber sein, dass viele mehr verdienen als die Lohnuntergrenze. Und das geht nur mit Tarifverträgen.
Handelsblatt: Die Mindestlohndebatte zeigt: Ihre Partei zieht voll nach links. Wo bleibt eigentlich die Wirtschaftskompetenz der Sozialdemokraten?
Heil: Für uns gehören wirtschaftliche Vernunft und sozialer Ausgleich zusammen. Wir werden den Sozialstaat nur auf hohem Niveau halten können, wenn wir auch ökonomisch erfolgreich sind. Entscheidender als die Höhe der Transferleistungen ist die Frage, ob der Sozialstaat zu einem selbstbestimmten Leben befähigt – durch Bildung, Ausbildung, Arbeit. Wenn wir Menschen jetzt stärker weiterbilden, ist das ein Beitrag zur Bekämpfung des Fachkräftemangels und damit auch Wirtschaftspolitik.
Handelsblatt: Altkanzler Gerhard Schröder hat die Wirtschaftskompetenz Ihrer Parteichefin Andrea Nahles indirekt in Frage gestellt…
Heil: Gerhard Schröder hat als Bundeskanzler große Verdienste um unser Land, er hat damals dringend nötige Reformen durchgesetzt und auch außen- und sicherheitspolitisch Großes geleistet.
Handelsblatt: Aber?
Heil: Jetzt ist eine andere Generation dran, und die richtet den Blick nach vorn.
Handelsblatt: Die Vorschläge der SPD drehen sich nur um die gesetzliche Rente. Haben Sie eigentlich die betriebliche und die private Altersvorsorge aus den Augen verloren?
Heil: Ich stehe für eine ganzheitliche Alterssicherung. Die gesetzliche Rente ist die tragende Säule und wird es auch bleiben. Mittlerweile haben über 70 Prozent der Beschäftigten eine Betriebs- oder Riesterrente. Aber gerade Geringverdiener haben kaum ergänzende Vorsorge. In Ostdeutschland sind 90 Prozent der Menschen auf die gesetzliche Rente angewiesen. Wo immer es geht, müssen wir betriebliche und private Vorsorge unterstützen. Mit dem Betriebsrentenstärkungsgesetz haben wir für Geringverdiener mit der Nichtanrechnung auf die Grundsicherung und Fördermodelle für Beschäftigte, die weniger als 2200 Euro im Monat verdienen, schon viel erreicht.
Handelsblatt: Die Erfolge sind überschaubar: Gewerkschaften und Arbeitgeber machen bisher keinen Gebrauch von der neuen Möglichkeit, in Tarifverträgen eine Betriebsrente einzubauen.
Heil: Das sogenannte Sozialpartnermodell ermöglicht einfache, attraktive, sehr kostengünstig organisierte Betriebsrenten bei gleichzeitig hoher Sicherheit. Wir haben uns diese Woche mit den Sozialpartnern zusammengesetzt, und sie ermuntert, das neue Angebot im Sinne der Beschäftigten zu nutzen. Dazu habe ich mit den Sozialpartnern vereinbart, im Bundesarbeitsministerium ein Forum zu etablieren, in dem sich Praktiker austauschen können, um konkrete Probleme bei der Einführung der neuen Angebote zu lösen. Hier ist das Bohren dicker Bretter angesagt, aber ich bin zuversichtlich.
Handelsblatt: Betriebsrenten sind auch deshalb wenig attraktiv, weil die Bezieher neben dem Arbeitnehmer- auch den Arbeitgeberanteil zur Krankenversicherung zahlen müssen. Diese sogenannte Doppelverbeitragung sorgt für Unmut bei den Bürgern.
Heil: Da habe ich eine Lösung im Angebot. Wir haben das Rentenniveau stabilisiert, die Mütterrente ausgebaut und werden eine ordentliche Grundrente einführen. Da Rentner auch Krankenkassenbeiträge zahlen, sorgen wir also für Mehreinnahmen in der Krankenversicherung des Kollegen Jens Spahn. Mit diesem Geld kann er die Doppelverbeitragung bei Betriebsrenten abmildern.
Handelsblatt: Aber hat die Kanzlerin nicht gerade gesagt, dass dieses Thema für sie nicht vorrangig ist?
Heil: Die CDU hat aber andere Beschlüsse gefasst. Und nach ihrer Äußerung hat die Diskussion in der CDU über eine Entlastung der Betriebsrentner ja nicht aufgehört.
Handelsblatt: Wer ist bei Meinungsäußerungen aus der CDU wichtiger für Sie: Die neue Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer oder Frau Merkel?
Heil: Ich bin Mitglied des Kabinetts, deshalb ist meine Regierungschefin die Bundeskanzlerin. Ich nehme aber zur Kenntnis, dass es jetzt in der Koalition mehr Akteure gibt als noch vor einem Jahr: CSU-Chef Markus Söder etwa und die CDU-Vorsitzende im Konrad-Adenauer-Haus. Gute Regierungsarbeit ist, dass wir den Koalitionsvertrag umsetzen, und wenn es hakt, gibt es einen Koalitionsausschuss.
Handelsblatt: Sie erwarten also, dass Merkel bei der Doppelverbeitragung noch ihre Meinung ändert?
Heil: Ich schätze die Bundeskanzlerin außerordentlich und ich weiß, dass sie immer für gute Argumente aufgeschlossen ist.
Handelsblatt: Gibt es im Moment nicht dringendere Probleme? Sie reisen nächste Woche zu Gesprächen über den transatlantischen Handelsstreit in die USA. Was erhoffen Sie sich?
Heil: Ich spreche mit meinem Amtskollegen Alexander Acosta, mit Vertretern der Autoindustrie und der Gewerkschaft United Auto Workers, um ihnen klar zu sagen: Für Deutschland ist Protektionismus keine Antwort auf die Globalisierung und Digitalisierung. Beschäftigte gewinnen durch offene Märkte. Deutsche Firmen, die in den USA investieren, schaffen dort rund 700.000 hochproduktive Arbeitsplätze. Alexander Acosta ist darüber hinaus sehr am deutschen System der dualen Ausbildung interessiert.
Handelsblatt: Welche Folgen erwarten Sie durch mögliche US-Autozölle für den deutschen Arbeitsmarkt?
Heil: Die Auswirkungen sind schwer kalkulierbar. Allerdings betrachte ich mit Sorge, dass mittlerweile in vielen exportorientierten Branchen die Unsicherheiten für die Unternehmen zunehmen und die Beschäftigten mit weniger Zuversicht in die Zukunft blicken, als es die momentan gute wirtschaftliche Lage eigentlich erlauben würde.
Handelsblatt: Die nächste Hürde für Ihre Partei sind die Europawahlen im Mai. Sie werben mit einem "Sozialen Europa". Fürchten Sie nicht den Vorwurf, die SPD will nur Geld nach Griechenland und Italien schicken?
Heil: Nein, das wichtigste Thema der EU-Ratspräsidentschaft, die Deutschland 2020 übernimmt, ist die Zukunft der Arbeit. Und wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, einen europäischen Rahmen für Mindestlöhne und Grundsicherungssysteme zu schaffen. Das heißt nicht, dass wir einen einheitlichen Mindestlohn wollen. Der wäre nicht vernünftig. Aber ein gemeinsamer Rahmen für nationale Mindestlöhne und Grundsicherungssysteme ist angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede in Europa notwendig.
Handelsblatt: Bei der letzten Europawahl hat die SPD 27 Prozent geholt, wo liegt denn jetzt Ihre Schmerzgrenze?
Heil: Ich spekuliere nicht, sondern werde mich als Sozialdemokrat in diesen Europawahlkampf einbringen. Dort geht es nicht nur um das soziale Europa, sondern auch um die Auseinandersetzung mit Nationalismus und Rechtspopulismus und um die Frage, wie sich Europa wirtschaftlich behaupten kann.