- Datum:
- 14.12.2018
Stuttgarter Zeitung: Herr Heil, Sie können immer neue Tiefstände bei der Arbeitslosenzahl vermelden. Trotzdem ist die soziale Frage präsent wie selten, beschleicht viele die Sorge, wie ihre Zukunft wohl aussehen wird. Warum ist das aus Ihrer Sicht so?
Hubertus Heil: Deutschland geht es gut, das stimmt, aber nicht allen Menschen. Es gibt große regionale Unterschiede – es gibt Gegenden mit 1,4 Prozent Arbeitslosenquote und manche mit 13,4. Es gibt Langzeitarbeitslose, die nichts vom Aufschwung abbekommen haben, und tüchtige Beschäftigte, deren Arbeitsbedingungen und Entlohnung deutlich verbessert werden müssen. Manche sorgen sich, ob es ihren Arbeitsplatz in Zukunft noch gibt. Verlust- und Abstiegsängste haben sich breitgemacht. All das gehört auch zur Realität unseres im Grunde reichen Landes.
Stuttgarter Zeitung: Was will die Bundesregierung dagegen tun?
Heil: Wir stehen arbeitsmarktpolitisch vor einer doppelten Herausforderung, weil wir den demografischen Wandel und die Digitalisierung gleichzeitig bewältigen müssen. Wir haben den Fachkräftemangel, der gerade in Baden-Württemberg schon Auswirkungen zeigt. Unser Fachkräftemonitor legt nah, dass bis 2025 etwa 1,3 Millionen Arbeitsplätze durch Digitalisierung wegfallen, aber zugleich 2,1 Millionen neue entstehen werden. Dafür ist jedoch wichtig, dass wir die Arbeitnehmer von heute so weiterbilden, dass sie die Arbeit von morgen erledigen können. Hier setzt unser Qualifizierungschancen-Gesetz an, das zum 1. Januar 2019 in Kraft tritt und die betriebliche Weiterbildung finanziell fördert.
Stuttgarter Zeitung: Neben einer stärkeren Förderung der inländischen Arbeitskräfte sitzen Sie und Ihre Ministerkollegen auch an einem Fachkräftezuwanderungsgesetz. Einigt sich die Koalition noch wie geplant vor Weihnachten auf diese Arbeitseinwanderung aus Staaten außerhalb der EU?
Heil: Ich bin zuversichtlich, weil ich in konstruktiven Verhandlungen mit dem Bundesinnenminister bin. Wir sind in verschiedenen Branchen – und nicht nur bei Akademikern, sondern auch bei beruflich Qualifizierten – auf Fachkräfteeinwanderung angewiesen. Ich warne übrigens vor der Annahme, dass die Interessenten uns mit Inkrafttreten des Gesetzes im Frühjahr sofort die Bude einrennen. Dazu braucht es mehr Personal in unseren Auslandsvertretungen zur Vergabe von Arbeitsvisa und eine gezielte Anwerbestrategie der deutschen Wirtschaft.
Stuttgarter Zeitung: Kommen wir zum Mühlstein, der Ihnen als Sozialdemokraten um den Hals hängt: Hartz IV. Ihre Parteichefin Andrea Nahles will das Sanktionssystem hinter sich lassen. Was heißt das?
Heil: Grundsätzlich müssen wir unseren Sozialstaat an neue Herausforderungen anpassen. Die Aufgaben, die jetzt vor uns liegen, sind andere als im Jahr 2005. Heute gibt es keine Massenarbeitslosigkeit mehr, aber einen verfestigten Sockel von Langzeitarbeitslosen. Zugleich hat durch die Digitalisierung – wir sprachen schon darüber – ein tiefgreifender Wandel der Arbeitswelt eingesetzt. Da müssen wir reagieren.
Stuttgarter Zeitung: Was muss aus Ihrer Sicht getan werden?
Heil: Arbeit muss auch in Zukunft einen Unterschied machen. Ich bin zum Beispiel gegen die idealistische Forderung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Erstens ist es ein Irrtum, dass dieser Gesellschaft die Arbeit ausgeht, es wird nur andere Arbeit sein. Zweitens ist Erwerbsarbeit ein bedeutender Faktor für den gesellschaftlichen Zusammenhalt – nicht zuletzt für Kinder ist es wichtig zu sehen, dass ihre Eltern einen durch Arbeit strukturierten Tagesablauf haben. Wer also arbeitet, muss mehr zum Leben haben und eine bessere soziale Sicherung, etwa eine höhere Rentenanwartschaft, als Menschen, die nicht arbeiten.
Stuttgarter Zeitung: Jetzt haben Sie noch nichts zu Hartz IV gesagt.
Heil: Wir müssen vor der Grundsicherung ansetzen und die Arbeitslosenversicherung verlässlicher machen. Auch hier geht es um Weiterbildung und wer lange eingezahlt hat, sollte auch länger Arbeitslosengeld beziehen können. Denn es bleibt mein Ziel, dass möglichst wenige Menschen die Grundsicherung in Anspruch nehmen müssen.
Stuttgarter Zeitung: Das ist bei aktuell 4,1 Millionen Hartz-IV-Empfängern optimistisch. Was tun Sie für sie?
Heil: Wir haben mit dem Umbau des Systems bereits begonnen. Mit dem sozialen Arbeitsmarkt holen wir Langzeitarbeitslose aus dem System. Dann haben wir das Thema der Sanktionen, die übrigens nur drei Prozent aller Bescheide betreffen, aber dennoch die Gesellschaft gespalten und das Klima vergiftet haben. Die einen meinen, alle Langzeitarbeitslosen seien zu faul zu arbeiten, was natürlich Unsinn ist. Die anderen halten jede Art von Mitwirkungspflicht bereits für einen Anschlag auf die Menschenwürde, was ich ebenfalls für Quatsch halte. Zwischen diesen beiden Extrempositionen sollten wir über Reformen reden.
Stuttgarter Zeitung: Geht es etwas konkreter?
Heil: Ich bin dafür, dass wir Sanktionen abschaffen, die unwürdig und unverhältnismäßig sind. Das betrifft zum Beispiel die Tatsache, dass wir Menschen, die 25 Jahre oder jünger sind, sehr stark sanktionieren, ihnen die Kosten für Miete und Unterkunft wegstreichen können. Das hat in der Praxis keinerlei positive Auswirkungen und verunsichert Menschen nur. Ich bin aber grundsätzlich für Mitwirkungspflichten. Wenn jemand zum wiederholten Male trotz Vereinbarung nicht zum Amt kommt, sollte das Konsequenzen haben.
Stuttgarter Zeitung: Sprechen Sie da "nur" als SPD-Politiker mit Blick auf das nächste Wahlprogramm oder doch als Bundesarbeitsminister? Im Koalitionsvertrag steht bekanntlich nichts von einer Hartz-IV-Reform.
Heil: Im Koalitionsvertrag stand auch nichts von einem Qualifizierungschancen-Gesetz. Es ist jenseits des bereits Vereinbarten aber nicht verboten, neue Ideen umzusetzen, wenn wir uns in der Koalition darüber einig sind.
Stuttgarter Zeitung: Die Union dürfte auch Probleme mit ihrer mittelfristigen Forderung nach einem Mindestlohn in Höhe von zwölf Euro haben.
Heil: Erst einmal wird der Mindestlohn in zwei Schritten bis 2020 auf 9,35 Euro steigen. Im Gesetz steht aber auch, dass ich dann den bestehenden Anpassungsmechanismus zur Erhöhung des Mindestlohns überprüfen soll. Dann können wir klären, wie wir zu schnelleren Erhöhungsschritten kommen können. Wir könnten aber als Bundesregierung auch mit gutem Beispiel vorangehen und den Mindestlohn für die öffentlichen Aufträge des Bundes erhöhen. Aber ich lege Wert auf die Feststellung, dass der Mindestlohn immer nur eine gesetzliche Lohnuntergrenze sein wird.
Stuttgarter Zeitung: Was meinen Sie damit?
Heil: Die für höhere Löhne entscheidende Frage ist die nach der Tarifbindung. Niedrige Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen gibt es überproportional oft dort, wo es keine Tarifverträge gibt. Die Tarifbindung hat in den letzten 30 Jahren stetig abgenommen. Unsere wunderbare Sozialpartnerschaft in Deutschland ist brüchig geworden - nur noch 50 Prozent der Unternehmen in Deutschland sind tarifgebunden. Wer keine Gelbwesten-Proteste wie in Frankreich will, muss auch im Niedriglohnbereich für höhere Löhne sorgen - die gibt es bei stärkerer Tarifbindung.
Stuttgarter Zeitung: Wie wollen Sie das erreichen?
Heil: Wir sollten über Anreize für eine höhere Tarifbindung nachdenken. Aufträge der öffentlichen Hand könnten nur noch an tarifgebundene Unternehmen gehen - es kann nicht sein, dass wir mit Steuergeld Sozialdumping finanzieren. Weil die Tarifbindung eine Art öffentliches Gut ist, könnten wir sie als Gesetzgeber belohnen. Ich bin der Meinung: Der Staat sollte tarifgebundene Unternehmen steuerlich besser behandeln als nicht tarifgebundene. Eine Debatte über diese Frage wäre wichtig, um unseren Sozialstaat und die Sozialpartnerschaft für die Zukunft zu rüsten. Die meisten Rechte von Arbeitnehmern stehen nämlich nicht im Gesetzbuch, sondern sind Teil von Tarifverträgen.