- Datum:
- 13.10.2018
WELT: Frau Giffey, Herr Heil, wir wollen über ein Versprechen des Koalitionsvertrags reden, das da lautet: "Wir bekämpfen Kinderarmut". Was heißt das eigentlich, wenn ein Kind in einem reichen Land wie Deutschland arm ist?
Franziska Giffey: Bei uns verhungert kein Kind oder lebt in einer Wellblechhütte. Was Armut bei uns bedeutet, das habe ich als Bürgermeisterin von Neukölln viele Jahre erlebt. Armut ist, wenn Kinder nicht gleichberechtigt teilhaben können. Wenn das Geld für Freizeitaktivitäten fehlt, für Bücher oder Ausflüge in der Schule und das warme Mittagessen.
Hubertus Heil: Natürlich haben wir keine Verhältnisse wie in Somalia oder Bangladesch. Aber es geht um die Kernfrage: Hat ein Kind bei uns in Deutschland faire Chancen auf Bildung und Teilhabe, wenn es in eine Familie geboren ist, in der die Eltern entweder arbeitslos sind oder im Niedriglohnsektor festhängen? Oder nehmen Sie Alleinerziehende: Das ist ein Thema, das mich ganz persönlich berührt. Meine Eltern haben sich in den späten 1970er Jahren getrennt, meine voll berufstätige Mutter musste dann zwei Jungs ohne Unterhalt allein durchbringen. Ich habe erlebt, was es heißt, mit wenig Geld in einer Hochhaussiedlung aufzuwachsen. Und wie mir später gute Bildungsmöglichkeiten geholfen haben, meinen eigenen Lebensweg zu gehen.
WELT: Nach dieser Definition: Wie viele arme Kinder gibt es im Land?
Giffey: Wir haben in Deutschland zwölf Millionen Kinder. 80 Prozent geht es im Schnitt gut. Es gibt aber auch die anderen 20 Prozent der Kinder, die in einer schwierigen sozialen Lage sind. Um die müssen wir uns als Staat besonders kümmern.
Heil: Das ist übrigens ein Kernliegen der Sozialdemokratie: Nicht Herkunft soll zählen, sondern Talent und Leistung.
WELT: Es brauchte 2010 aber erst ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das der Politik ins Stammbuch schrieb: Alle Kinder haben ein Recht auf Bildung und Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben. Die damalige Sozialministerin Ursula von der Leyen (CDU) hat mit dem sogenannten "Bildungs- und Teilhabepaket" reagiert. War das zu kurz gesprungen?
Heil: Das war ein Fortschritt, allerdings noch sehr bürokratisch organisiert. Wir sind jetzt sieben Jahre weiter und wissen, wo wir besser werden und unsere Anstrengungen verstärken müssen. Das machen wir nun ganz konkret mit einem Familienstärkungsgesetz.
WELT: Was trägt der Sozialminister dazu bei?
Heil: Erstens geben wir mehr Geld für das Schulstarterpaket. Nur mal ein Beispiel: Ein billiger Taschenrechner kostet 24 Euro. Dazu kommen Ranzen, Federmappe, Stifte, Hefte, Tuschkasten, Schere, Papier und möglicherweise Lern-Apps. Die 100 Euro pro Schuljahr, die es bislang gab, waren da schnell weg. Deshalb erhöhen wir auf 150 Euro. Dann übernehmen wir die vollen Kosten für die Fahrkarten zur Schülerbeförderung und machen das Mittagessen in Schule oder Kita kostenlos. Und schließlich weiten wir die Lernförderung aus. Bislang gibt es da erst Unterstützung, wenn ein Kind versetzungsgefährdet ist – das ist absurd!
WELT: Wieviel Kinder werden davon profitieren?
Heil: Wir gehen am Ende des Tages von bis zu einer Million aus. Das sind Kinder, deren Eltern Sozialleistungen beziehen, in gering bezahlten Jobs arbeiten oder Wohngeld erhalten.
Giffey: Und im Familienressort kümmern wir uns um den Kinderzuschlag. Der ist geschaffen worden für diejenigen, die geringe Einkommen haben, jeden Tag aufstehen und arbeiten gehen, aber durch ihre Kinder trotzdem in den Hartz-IV-Bezug zu fallen drohen. Mit unserem Gesetz wollen wir dafür sorgen, dass wir mit dem Zuschlag 500.000 Kinder mehr erreichen als bisher. Dann würden insgesamt 750.000 Kinder vom Kinderzuschlag profitieren. Damit entwickeln wir ein echtes Familienstärkungsgeld.
WELT: Sie legen das Gesetz gemeinsam vor. Warum?
Giffey: Weil die Aufgabe, Familien zu entlasten und zu stärken, nur ressortübergreifend möglich ist. Wir haben ja bereits, unter Federführung des Finanzministers, das Familienentlastungsgesetz beschlossen, das diese Woche im Bundestag beraten wurde. Damit wird das Kindergeld ab nächstem Jahr erhöht, auch die Kinderfreibeträge steigen. Dann haben wir das Gute-Kita-Gesetz gemacht, mit dem die Qualität der Betreuung verbessert werden soll. Außerdem sollen damit Eltern bei den Kitagebühren entlastet werden. Und jetzt folgt das Familienstärkungsgesetz für die ärmeren Familien. Das sind wesentliche Bausteine unserer Strategie für starke Familien und gegen Kinderarmut.
WELT: Was konkret ändern Sie beim Kinderzuschlag?
Giffey: Zunächst erhöhen wir ihn von bis zu 170 auf bis zu 183 Euro. Dann muss der Zuschlag nicht jedesmal neu berechnet werden, nur weil sich das Einkommen leicht verändert hat, sondern wird pauschal für ein halbes Jahr berechnet und bewilligt. Das ist eine Riesenerleichterung für die Betroffenen und für die Verwaltung. Wichtig ist auch, dass die sogenannte Abbruchkante wegfallen wird.
WELT: Die was, bitte?
Giffey: Bislang kann es passieren, dass der komplette Kinderzuschlag gestrichen wird, wenn man etwas mehr Geld verdient und über der Einkommensgrenze liegt – und da reichen schon zehn Euro – im schlimmsten Fall hat man dann viel weniger als vorher. Fachleute nennen das Abbruchkante. Die führt dazu, dass die Leute sagen: Es lohnt sich für mich nicht, mehr zu arbeiten und mehr zu verdienen. Im Gegenteil, dann verliere ich Geld. Künftig soll der Kinderzuschlag nach und nach abschmelzen, wenn das Einkommen steigt, aber nicht gleich komplett wegfallen. Es gibt also immer den Anreiz, mehr zu arbeiten. Wer mehr arbeitet und mehr verdient, hat auch mehr in der Tasche.
Heil: Leistung und Anstrengungen werden belohnt und gleichzeitig unterstützen wir die, die bisher ihre sozialen Rechte nicht in Anspruch nehmen konnten, weil sie in verschämter Armut stecken.
Giffey: Genau. Ich sage lieber verdeckte Armut. Das heißt: Leute haben einen Anspruch, nutzen den aber nicht. Weil sie sagen: Ich bin nicht arbeitslos, ich arbeite doch für kleines Geld jeden Tag, ich gehe nicht zum Jobcenter. Die Folge: Geringverdiener sind am schlechtesten gestellt, teils noch schlechter als die Hartz-IV-Bezieher. Wir wollen ermöglichen, dass diese Gruppe einen leichteren Zugang zum Kinderzuschlag hat und nicht zum Jobcenter gehen muss, um Aufstockerleistungen zu bekommen, sondern den Kinderzuschlag bei der Familienkasse beantragen kann.
WELT: Klingt immer noch alles reichlich kompliziert…
Giffey: Das ist es auch, aber es wird insgesamt viel unbürokratischer. Das gilt auch für den letzten Baustein der Reform, die Unterstützung von Alleinerziehenden. Wenn diese vom Staat einen Unterhaltsvorschuss bekommen, weil der andere Elternteil nicht zahlt, können sie bislang keinen Kinderzuschlag erhalten. Künftig werden wir nur noch einen Teil des Vorschusses anrechnen, so dass Alleinerziehende den Kinderzuschlag auch erhalten können. Damit ist dann auch der Zugang zur Befreiung von Kita-Gebühren und zu Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets eröffnet. Das kann für Alleinerziehende dann schnell mehrere hundert Euro pro Monat ausmachen.
WELT: Wann wird das Gesetz kommen?
Heil: Unser Ziel ist, das Familienstärkungsgesetz zum 1. Juli nächsten Jahres, wenn auch die Kindergelderhöhung kommt, in Kraft zu setzen. Deshalb müssen wir im November oder Dezember damit ins Kabinett.
WELT: Was wird das Ganze kosten?
Heil: Der Teil aus dem Familienministerium wird eine Milliarde Euro kosten, der Teil, der das Arbeitsministerium betrifft, rund 210 Millionen Euro. Wir haben im Vorfeld natürlich mit dem Finanzminister gesprochen. Und ich bin auch zuversichtlich, dass die anderen Ressorts erkennen, dass wir keine milden Gaben verteilen, sondern Geld in unsere Zukunft investierten. Wir haben das im Koalitionsvertrag nicht umsonst als prioritäres Vorhaben ganz an den Anfang gestellt.
WELT: Rechnen wir mal zusammen: 9,3 Milliarden Euro kostet die Entlastung der Familien, 5,5 Milliarden das Gute-Kita-Gesetz, Ihr Projekt jetzt noch einmal über eine Milliarde Euro. Fragen Sie sich manchmal, warum die SPD trotz dieser enormen neuen Sozialausgaben weiter an Zustimmung verliert?
Giffey: Weil wir nicht genug darüber reden, was wir konkret erreichen. Wir regieren, und es kommt zu wenig in die öffentliche Wahrnehmung, was gut läuft. Wir debattieren über alles Mögliche, vor allem über den Untergang. Aber nicht über die Maßnahmen, die das Leben der Menschen spürbar verbessern. Aus der Praxis von 16 Jahren Kommunalpolitik sage ich Ihnen: Dieser eine Euro Eigenanteil, den bedürftige Schüler künftig für ihr Schulessen nicht mehr bezahlen müssen, der macht einen Riesenunterschied für den Alltag von ganz vielen Menschen aus. Im Übrigen auch, was den Wegfall des immensen Verwaltungsaufwands dafür angeht. Das sollten wir dann schon auch mal ansprechen.
WELT: Passiert nur nicht. Als Sie das Gute-Kita-Gesetz vorgestellt haben, stritten die Regierungsparteien über die Zukunft eines Beamten, Verfassungsschutz-Chef Maaßen. Ihr Gesetz blieb in der öffentlichen Wahrnehmung eine Randnotiz. Waren Sie sauer?
Giffey: Ich finde, wir haben viel Aufmerksamkeit für das Gesetz bekommen. Aber klar, ohne Streit wäre es mehr gewesen. Wir wären in der Tagesschau auf Platz eins und nicht auf zwei gelaufen.
Heil: Fragen Sie mich mal! Ich habe an dem Tag das Qualifizierungschancengesetz durchgebracht, das war überhaupt nicht mehr in der Tagesschau. In der Öffentlichkeit ist der Eindruck entstanden, wir würden uns in der Regierung nur zanken. Dabei bewegen wir in der Sache eine ganze Menge für unser Land, aber vieles wurde durch die zwei Regierungskrisen im Sommer überdeckt. Das war nicht gut, das muss aufhören.
Giffey: Tatsächlich klappt die Zusammenarbeit doch sogar über Parteigrenzen hinweg, etwa bei der konzertierten Aktion in der Pflege zusammen mit Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Ich glaube weiter daran, dass man mit guter Arbeit und beherztem Zupacken überzeugen kann. Aber entscheidend ist: Du musst so darüber reden, dass die Menschen es verstehen, behalten und im Idealfall auch noch der SPD zuordnen können. Da kommt es gerade auf uns als Minister an. So verstehe ich den Job jedenfalls.
Heil: In einer Zeit, in der Menschen an der Handlungsfähigkeit von Politik zweifeln, überzeugen wir nicht durch irgendwelche Parolen aus Werbeagenturen, sondern durch Lösungen für den Alltag. Gleichzeitig wollen die Menschen erkennen, was dahintersteckt: welche Haltung, welches Gesellschaftsbild. Nur mit Grundsatzdebatten und Kommissionen gewinnen wir niemanden zurück. Die Verbindung aus Pragmatismus und Werten muss bei der SPD erkennbarer werden. Und ich bin zuversichtlich, dass uns das gelingt.
WELT: Wirklich? Angesichts des wahrscheinlich mageren Ergebnisses der SPD werden doch eher die üblichen Dauerdebatten wieder losgehen: Müssen wir aus der GroKo raus, ist Andrea Nahles die richtige Parteichefin. Oder?
Heil: Ich hoffe, dass die SPD in Bayern morgen besser abschneidet als in den Umfragen. Zudem haben wir in zwei Wochen alle Chancen, die politischen Verhältnisse in Hessen zu ändern.
WELT: Ihre Parteichefin scheint weniger optimistisch, was die Zukunft der Regierung angeht. Wenn der unionsinterne Zoff weiterhin alles überlagere, mache gute Sacharbeit irgendwann keinen Sinn mehr, hat sie diese Woche in einem Interview gesagt. Und die Parteilinke will an diesem Wochenende über Politikalternativen jenseits der Union nachdenken. Da drängt sich die Frage auf: Wie lange hält die GroKo noch?
Heil: Ich konzentriere mich als Arbeits- und Sozialminister darauf, den Menschen den Alltag konkret zu erleichtern, für soziale Sicherheit zu sorgen und das zu tun, was für die Zukunft der Arbeit im digitalen Wandel notwendig ist. Und ich wünsche mir, dass sich auch CDU/CSU wieder auf die Sacharbeit in der Regierung konzentrieren.
Giffey: Ich bin angetreten, um hier gute Arbeit zu machen. Ich will, dass etwas vor Ort ankommt, dass Leute merken, dass wir etwas für die Familien getan haben. Genauso arbeite ich und dabei denke ich nicht jeden Tag über die Frage nach, wie lange die Koalition hält. Mir geht es um Ergebnisse.
WELT: Wie lässt sich der Frust in Ihrer Partei über die große Koalition überwinden? Geht das überhaupt?
Heil: Wir haben nach der Bundestagswahl eine Studie veröffentlicht: "Aus Fehlern lernen". Ich würde noch eine ergänzen: "Aus Erfolgen lernen". Wir haben in den vergangenen Jahren ja durchaus auch Wahlen gewonnen und regieren in einigen Bundesländern äußerst erfolgreich. Am Ende geht es doch darum, dass wir als Sozialdemokraten in Regierungsverantwortung unser Land wirtschaftlich erneuern und sozial zusammenhalten.
Giffey: Und die SPD muss sich auch auf Themen fokussieren, die nicht zu ihren Klassikern gehören, etwa die innere Sicherheit. Sicherheit und Ordnung sind doch das Fundament für vieles andere. Über 90 Prozent der Weltbevölkerung geht es schlechter als den Deutschen, trotzdem hat man vom Jammerton her manchmal den Eindruck, bei uns stehe alles vor dem Zusammenbruch. Woher kommt das? Die Leute blicken unsicher in die Zukunft, weil sie fürchten, dass sich ihre Lage verschlechtert: durch Kriminalität, aber auch Sorgen um Rente oder ungewisse berufliche Perspektiven und die Veränderung der Arbeitswelt. Diese Verlustängste muss die SPD aufnehmen. Die Menschen brauchen einen handlungsfähigen Staat, dem sie vertrauen können.
WELT: Wenn Sicherheit das Fundament ist: Warum ist von der SPD so wenig zu Kontrolle und Ordnung in der Migrationspolitik zu hören?
Heil: Sie müssen nur genau hinhören. Im Gegensatz zum Wortgeklingel der CSU sorgen wir tatsächlich für Ordnung: Wir sichern das humanitäre Asylrecht, schaffen ein Einwanderungsgesetz und sorgen für Integration. Andere Parteien setzen entweder auf totale Abschottung oder träumen davon, dass es weltweit keine Grenzen mehr gibt. Wir setzen also auf Realismus und nicht auf Angst oder Träumerei.
Giffey: Eins ist doch klar, wir haben in vielen Branchen Fachkräftemangel in Deutschland, der sich zunehmend zum Wachstumshemmnis entwickelt. Wir werden das nur lösen können, wenn wir auch auf Zuwanderung von Arbeitskräften aus anderen Ländern setzen. Das erfordert aber Qualifikation und dass Menschen, die hier arbeiten wollen, auch für sich selbst sorgen können. Und jeder der kommt, muss sich an unsere Gesetze und Regeln halten. Da gibt es keinen kulturbedingen Spielraum. Das vorausgesetzt müssen wir uns aber auch fragen: Welche Geschichten erzählen wir? Viel zu oft sind es die von gescheiterter Integration. Dabei gibt es unzählige Beispiele von Menschen unterschiedlichster Herkunft, die in Deutschland jeden Tag hart arbeiten, sich gut um ihre Kinder kümmern und dazu beitragen, den Wohlstand dieses Landes zu wahren und zu mehren. Diese Geschichten erzählen wir viel zu selten, dabei sind sie auch Teil einer Zukunft, in die wir mit Zuversicht blicken sollten.