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"Wir müssen die gute Lage jetzt nutzen"

Interview von Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Soziales, mit dem Handelsblatt

Datum:
24.07.2018

Handelsblatt: Herr Heil, haben Sie kein Herz für die Wirtschaft?

Hubertus Heil: Wie kommen Sie denn darauf?

Handelsblatt: Wenn Sie ein Herz für die Wirtschaft hätten, könnten Sie den Arbeitslosenversicherungsbeitrag sofort um mindestens 0,5 Prozentpunkte senken.

Heil: Ich werde den Beitrag senken, und damit Wirtschaft und Arbeitnehmer um 0,3 Punkte, also um 3,5 Milliarden Euro, entlasten, so ist es im Koalitionsvertrag vorgesehen. Ich kann mir auch vorstellen, ein bisschen darüber hinauszugehen. Aber die Balance zwischen Entlastung der Wirtschaft und einer vorsorgenden Arbeitsmarktpolitik muss stimmen.

Handelsblatt: Selbst bei einer Senkung um 0,5 Punkte steigt die Rücklage der Bundesagentur für Arbeit bis Ende 2022 auf gut 28 Milliarden Euro.

Heil: Neben Beitragsrücklagen für Krisenzeiten müssen wir auch den Wandel in der Arbeitswelt im Blick halten. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung sagt uns, dass jeder vierte Beschäftigte in Deutschland in den nächsten zehn Jahren mit dem Thema Automatisierung zu tun bekommt. Deshalb will ich das Thema Fachkräftesicherung durch Investitionen in Qualifizierung unterstützen.

Handelsblatt: Also wann kommt die Beitragssenkung?

Heil: Ich will den Beitrag zum 1. Januar 2019 senken, um die Lohnnebenkosten zu stabilisieren. Wenn die Union meine Qualifizierungsoffensive unterstützt, kann ich mir vorstellen, den Beitrag noch ein Stück stärker zu senken.

Handelsblatt: Ist das ein Ultimatum?

Heil: Nein, ein Sachzusammenhang. Die Union will bei der Beitragssenkung vom Koalitionsvertrag abweichen. Ich bin da gesprächsbereit, aber ich habe auch eigene Vorstellungen. Ich kann nicht verstehen, dass die Union ständig nur Arbeitskreise bilden will, um über Digitalisierung und Fachkräftesicherung zu reden. Wir sind gefordert, da jetzt anzupacken.

Handelsblatt: Sie? Nicht die Unternehmen?

Heil: Der radikale Gegensatz "Der Staat muss alles machen" versus "Der Markt regelt das von selbst" ist bei Herausforderungen wie der Digitalisierung nicht zu halten. Ordnungspolitisch ist es natürlich erstmal Aufgabe der Unternehmen selbst, ihre Beschäftigten auf dem neuesten Stand zu halten. Aber für kleine und mittlere Unternehmen müssen wir Qualifizierungsanstrengungen unterstützen.

Handelsblatt: Sie sind mit Ihrer Qualifizierungsoffensive vorgeprescht. Machen Sie damit nicht die verabredete Nationale Weiterbildungsstrategie überflüssig?

Heil: Wir werden die Strategie unter gemeinsamer Federführung des Bildungs- und des Arbeitsministeriums entwickeln. Es geht unter anderem darum, das Angebot zu erweitern, also etwa die Hochschulen stärker für Weiterbildung zu öffnen. Aber ich will das Ganze auch materiell unterstützen, und das betrifft dann die aktuelle Debatte über die Arbeitslosenversicherung.

Handelsblatt: Sie hätten die Senkung des Arbeitslosenbeitrags mit dem Rentenpaket verknüpfen können, weil ja dort wegen der Leistungsausweitungen der Beitrag nicht absinkt…

Heil: Ich finde Verknüpfung da sinnvoll, wo sie in einem inhaltlichen Zusammenhang steht. Es ist in der Koalition wichtig, dass wir aufeinander zugehen und zu guten Kompromissen finden. Das darf man aber nicht mit Teppichhandel zwischen verschiedenen sozialen Sicherungssystemen verwechseln.

Handelsblatt: Dass die Rentenbeiträge 2019 nicht sinken werden, hat vor allem mit dem CSU-Projekt Mütterrente zu tun. Gleichzeitig werden Sie von der Union gerne als Verhinderer von Beitragssenkungen dargestellt. Nervt Sie das eigentlich?

Heil: Ich habe prinzipiell ganz starke Nerven. Aber die Frage, wie glaubwürdig solche Diskussionen aus der Union sind, die kann man stellen. Ganz grundsätzlich gilt: Angesichts der demografischen Herausforderungen wäre es nicht gut, den Rentenbeitrag jetzt zu senken – Leistungsverbesserungen hin oder her. Man kann nicht ein stabiles Rentenniveau verlangen, eine älter werdende Gesellschaft vernünftig organisieren und gleichzeitig Beiträge senken. Das ist eine Quadratur des Kreises.

Handelsblatt: Kommen wir auf Ihr Rentenpaket zu sprechen. Die Deutsche Rentenversicherung benötigt einigen Vorlauf, um etwa bei der ausgeweiteten Mütterrente die Voraussetzungen für die Auszahlung zu schaffen. Wann muss das Gesetz spätestens durch den Bundestag, damit es nicht zu Verzögerungen kommt?

Heil: Damit es zum 1. Januar nächsten Jahres in Kraft treten kann, muss es spätestens im September im Kabinett beschlossen werden. Und da wir inzwischen in der Ressortabstimmung sind, bin ich ganz hoffnungsfroh, dass wir das auch hinbekommen. Die Rentenversicherung kennt ja die Regierungspläne, und ich bin überzeugt, dass sie alles rechtzeitig umgesetzt bekommt. Eine entscheidende Frage muss aber noch im parlamentarischen Verfahren geklärt werden.

Handelsblatt: Welche?

Heil: Entweder wir geben Müttern mit drei oder mehr vor 1992 geborenen Kindern einen zusätzlichen Rentenpunkt, wie die CSU es will und wie es auch im Koalitionsvertrag steht. Davon profitieren etwa drei Millionen Menschen. Aber das wird Gerechtigkeitsfragen aufwerfen: Was ist mit denen, die sich nur für ein oder zwei Kinder entschieden haben? Oder wir machen 0,5 Rentenpunkte für alle, die Kinder haben, was finanziell ungefähr aufs Gleiche herauskommt. Davon würden ungefähr zehn Millionen Menschen profitieren. Ich kann mir die zweite Variante vorstellen.

Handelsblatt: Glauben Sie denn, dass die CSU da mitzieht, oder wird das erst nach der bayerischen Landtagswahl entschieden?

Heil: Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass auch in der Union viele nachdenklich werden, wenn sie jetzt Briefe von Müttern mit einem oder zwei Kindern bekommen. Man kann dagegen argumentieren, dass es für Frauen mit vielen Kindern meist nicht möglich war, eine Beschäftigung aufzunehmen. Rechtlich ist das nicht die Frage, man kann Ungleiches ungleich behandeln, aber will man das politisch?

Handelsblatt: Sie haben sich in Ihrer Amtszeit vor allem um die gesetzliche Rente gekümmert. Sehen Sie bei Betriebsrenten und der privaten Riester-Vorsorge keinen Handlungsbedarf?

Heil: Wir müssen uns alle drei Säulen der Alterssicherung anschauen, und das wird die von mir eingesetzte Rentenkommission auch tun. Da stellen sich einige Fragen – etwa die Auswirkungen der Niedrigzinsphase auf die private und betriebliche Altersvorsorge. Bei den Betriebsrenten müssen wir das Problem der doppelten Krankenversicherungsbeiträge auf die Auszahlungen angehen. Das ist ein Hemmschuh.

Handelsblatt: Gesundheitsminister Spahn bezweifelt, dass es finanziellen Spielraum für eine Abschaffung der Doppelverbeitragung gibt …

Heil: Wir werden das gemeinsam überprüfen, das hat mir Jens Spahn per Brief zugesichert. Ich will da aber keine Illusionen wecken, dass man das von jetzt auf gleich und für alle Bereiche vollständig abbauen kann. Aber wir müssen darüber reden, ob wir nicht wenigstens die Hälfte dieses Effekts korrigieren können. Ich bin da ganz zuversichtlich, weil ja auch Unionsfraktionsvize Carsten Linnemann, der in der CDU nicht ohne Einfluss ist, die Meinung vertritt, dass wir da was bewegen sollten.

Handelsblatt: Teilen Sie die Sorgen der Wirtschaft, dass der Fachkräftemangel zur Wachstumsbremse werden könnte?

Heil: Die Gefahr gibt es. Wir haben bereits Fachkräftemangel in einzelnen Branchen und Regionen. Deshalb müssen wir drei Dinge tun: Erstens die Berufsorientierung in den Schulen verbessern, die duale Ausbildung stärken und Beschäftigte weiterbilden. Dann müssen wir die Arbeitsbedingungen in Mangelberufen verbessern – allen voran in der Altenpflege. Und drittens werden wir nach der Sommerpause Eckpunkte für ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz vorlegen.

Handelsblatt: Viele Innenpolitiker der Union sehen Einwanderung eher als Gefahr. Steht Ihr Kabinettskollege Seehofer da nicht auf der Bremse?

Heil: Wir sind da in guten Gesprächen zwischen Innenministerium, Wirtschaftsministerium und Arbeitsministerium. Und ich habe Rückenwind, weil die SPD ja im Koalitionsausschuss durchgesetzt hat, dass wir bis Ende des Jahres das Gesetz durchs Kabinett gebracht haben werden. Wenn ich die Sommerpressekonferenz der Bundeskanzlerin richtig verstanden habe, dann hat sie das auch als wichtiges Thema für sich identifiziert.

Handelsblatt: Wie wollen Sie die Bedenken zerstreuen?

Heil: Wir müssen sehr sorgfältig arbeiten. Wir wollen ja nicht eine Einwanderung in die Sozialsysteme organisieren, sondern pragmatische Lösungen für unseren Fachkräftebedarf hinbekommen. Da ergeben sich ganz praktische Fragen. Muss eine Fachkraft schon im Ausland Deutsch gelernt haben? Muss der Antrag zur Anerkennung beruflicher Qualifikationen schon aus dem Ausland gestellt werden? Gibt es eine Anwerbestrategie der deutschen Wirtschaft, der Bundesagentur für Arbeit?

Handelsblatt: Wir hatten uns Antworten erhofft, keine Fragen.

Heil: Wir werden diese Fragen im Herbst präzise beantworten. Ich bin erst einmal froh, dass die SPD es geschafft hat, die jahrelange ideologische Selbstblockade von CDU und CSU beim Einwanderungsgesetz zu durchbrechen. Es geht darum, die Fachkräftesicherung durch gesteuerte Einwanderung zu unterstützen. Das machen andere moderne Volkswirtschaften auch so.

Handelsblatt: Darf eine Fachkraft aus Ihrer Sicht auch kommen, wenn sie noch keinen Arbeitsvertrag vorweisen kann?

Heil: Ich weiß aus Erfahrung, dass die Anerkennung von Berufsabschlüssen, die innerhalb Deutschlands schon schwer genug ist, im Ausland in Teilen fast unmöglich ist. Deswegen kann ich mir vorstellen, dass Menschen, die ihre Deutschprüfungen abgelegt haben und in Deutschland arbeiten wollen, für ein halbes Jahr hierher kommen können, um ihren Berufsabschluss anerkennen zu lassen und einen Job zu suchen.

Handelsblatt: Um das Koalitionsziel der Vollbeschäftigung zu erreichen, müssen Sie den Sockel der Langzeitarbeitslosigkeit aufbrechen. Was machen Sie besser als Ihre Vorgänger?

Heil: Fairerweise muss man sagen, dass ich mehr Möglichkeiten als meine Vorgänger habe. Wir müssen die gute Wirtschafts- und Arbeitsmarktlage jetzt nutzen, um diesen Sockel aufzubrechen. Viele Langzeitarbeitslose haben verschiedenste soziale und gesundheitliche Probleme. Und wer sieben, acht oder mehr Jahre draußen ist, hat oft schon Probleme, seinen Tag zu organisieren. Diese Menschen kann man nicht mit kurzatmigen Maßnahmen in Arbeit bringen, sondern sie brauchen längerfristige Perspektiven.

Handelsblatt: Sie planen dafür einen Sozialen Arbeitsmarkt. Wäre es nicht leichter, Arbeitgebern, die für Langzeitarbeitslose geeignete Jobs schaffen, nicht ständig neue Knüppel zwischen die Beine zu werfen? Stichwort Regulierung der Zeitarbeit oder befristeter Jobs.

Heil: Bei der Arbeitnehmerüberlassung hat es Reformen gegeben, um den Missbrauch einzudämmen. Aber die Zeitarbeit ist nicht abgeschafft. Sie ist ja sinnvoll, um zum Beispiel Auftragsspitzen von Unternehmen abzufedern. Aber sie sollte nicht dauerhaft dazu führen, dass Stammbelegschaften durch Leiharbeit ersetzt werden.

Handelsblatt: Und was ist mit den Zeitverträgen?

Heil: Der sachgrundlosen Befristung, die im Koalitionsvertrag steht, werden wir uns im nächsten Jahr zuwenden. Es gibt aber auch danach immer noch eine Balance zwischen Sicherheit und Flexibilität am Arbeitsmarkt. Alle Arbeitsmarktregulierung ändert aber nichts am Kernproblem, dass Menschen nach langen Jahren der Arbeitslosigkeit aus Unternehmersicht nicht produktiv sind. Deshalb brauchen wir den Sozialen Arbeitsmarkt mit Lohnkostenzuschüssen, die mit der Zeit abschmelzen.

Handelsblatt: Sie betonen, Politik für die Menschen zu machen. Das kommt aber bei den Menschen offenbar nicht an, denn die Umfragewerte Ihrer Partei verharren im Keller. Was läuft schief?

Heil: Die SPD verbindet wirtschaftliche Vernunft mit sozialer Sicherheit. Das müssen wir noch deutlicher machen. Es geht um ganz praktische Antworten auf die Herausforderungen des Wandels in der Arbeitswelt durch die Digitalisierung. Und wir als Sozialdemokraten müssen Dinge offen und hart ansprechen, die gesellschaftspolitisch nicht in Ordnung sind – aber nicht im Ton einer Weltuntergangsstimmung. Wir müssen realistische Zuversicht ausstrahlen und dürfen nicht so sauertöpfisch durch die Gegend gucken. Unser Land hat alle Chancen für eine gute Zukunft.