- Datum:
- 29.04.2018
Tagesspiegel: Herr Heil, am Dienstag feiert Deutschland den Tag der Arbeit. Viele Menschen fragen sich aber, ob es in einer digitalisierten Zukunft noch genügend Arbeit gibt. Zu Recht?
Hubertus Heil: Die Arbeit wird uns nicht ausgehen, aber es wird oft andere Arbeit sein.
Tagesspiegel: Dass intelligente Roboter die Arbeit in Zukunft besser und schneller machen könnten, sehen Sie nicht als Gefahr?
Heil: Natürlich ist es so, dass bestimmte Tätigkeiten wegfallen. Umbrüche hat es aber immer gegeben, man kann sie nicht stoppen. Vor 150 Jahren haben die Weber versucht, die neuen mechanischen Webstühle zu zerstören, bekanntermaßen ohne Erfolg. Aber dann sorgten Arbeiterbildungsvereine, Gewerkschaften und Sozialdemokratie durch Bildung dafür, dass viele Menschen vom technischen Fortschritt profitierten. Das ist auch jetzt wieder unsere Aufgabe.
Tagesspiegel: Allerdings verfällt der Wert des Wissens heute viel schneller als damals.
Heil: Das stimmt, wir stehen vor gewaltigen Umbrüchen. Es gilt: Nie war Weiterbildung so wichtig wie heute.
Tagesspiegel: Wie viele Jobs werden verloren gehen?
Heil: Der Umbruch wird spürbar sein, weil unsere Volkswirtschaft so stark von der Industrie geprägt ist, in der die Digitalisierung Produktionsprozesse stark verändert. Zugleich werden aber auch neue Stellen geschaffen.
Tagesspiegel: Ist Deutschland vorbereitet?
Heil: Wir müssen noch eine Menge tun, vor allem bei der Vorbereitung der Arbeitnehmer auf den Wandel. Mein Ministerium arbeitet schon auf Hochtouren. Wir haben eine eigene Denkfabrik eingerichtet, die internationale Trends erspüren soll, damit wir in der Arbeitsmarktpolitik rechtzeitig die Weichen stellen und Arbeitnehmer weiter qualifizieren können. Bei der Bundesagentur für Arbeit wollen wir deshalb einen Rechtsanspruch auf Weiterbildungsberatung schaffen. Mir ist vor dem Wandel übrigens nicht bange, denn er birgt auch große Chancen.
Tagesspiegel: Welche Chancen bietet die neue Arbeitswelt denn für den Einzelnen?
Heil: Die Arbeitswelt wird menschlicher, da sich Beruf und Familie besser vereinbaren lassen, wenn man flexibler arbeiten kann. Arbeitnehmer werden außerdem von vielen stupiden Tätigkeiten entlastet, langfristig wird niemand mehr Papiere abheften müssen. Und es wird weniger schwere körperliche Arbeit geben, die von Menschen gemacht werden muss.
Tagesspiegel: Und was ist mit den Risiken?
Heil: In einer digitalisierten Arbeitswelt nehmen psychische Belastungen zu, weil alles viel schneller wird. Deshalb müssen wir eine faire Balance finden zwischen den Interessen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer.
Tagesspiegel: Wie soll diese Balance aussehen?
Heil: Es muss die Möglichkeit geben, Auszeiten zu nehmen oder in Teilzeit zu gehen, ohne dass einem daraus Nachteile erwachsen. Unternehmen verlangen von ihren Beschäftigten hohe Flexibilität. Dann müssen sie auch bereit sein, genauso flexibel auf die Wünsche ihrer Mitarbeiter einzugehen. Menschen müssen auch mal durchatmen können. Darum haben wir das Gesetz zur Brückenteilzeit auf den Weg gebracht, das genau dafür Lösungen schafft.
Tagesspiegel: Schon jetzt wächst der Druck auf Arbeitnehmer, rund um die Uhr verfügbar zu sein...
Heil: Es bringt auch den Unternehmen nichts, wenn sie ihre Mitarbeiter so auspressen, dass die nicht mehr produktiv sind. Wir halten deshalb am Arbeitszeitgesetz fest: Der Acht-Stunden-Tag muss die Regel bleiben. Natürlich wissen wir auch, dass die Digitalisierung den Arbeitsalltag verändert. Der Koalitionsvertrag sieht deshalb eine Experimentierklausel vor, die es tarifvertraglich gebundenen Unternehmen ermöglicht, probeweise von den bisherigen Arbeitszeitregelungen abzuweichen.
Tagesspiegel: Raten Sie Arbeitnehmern davon ab, spät abends noch Mails des Chefs zu beantworten?
Heil: Nicht grundsätzlich. Es geht aber nicht, dass Arbeitnehmer permanent verfügbar sind. Sie brauchen auch Privatheit und Zeit für die Familie.
Tagesspiegel: Es wird Verlierer der Digitalisierung geben. Wie kann der Sozialstaat helfen?
Heil: Wir brauchen eine vorbeugende Arbeitsmarktpolitik, die massiv auf Weiterbildung setzt. Wir müssen aber auch dafür sorgen, dass die Menschen, die in Schwierigkeiten kommen, sich auf den Sozialstaat verlassen können. Dass er funktioniert, nicht bürokratisch ist und effizient.
Tagesspiegel: Ihre Parteichefin Andrea Nahles sagt, der Sozialstaat müsse bürgernäher, emanzipativer und gerechter werden. Wie wollen Sie das gewährleisten?
Heil: Viele Betroffene haben das Gefühl, dass sie in diesem System nicht fair behandelt werden. Wenn Menschen sich herumgeschubst fühlen, ist das nicht gut. Ich werde mir die Sozialgesetzbücher gründlich anschauen. Manche Regelungen und Vorgaben sind zu bürokratisch, da müssen wir ran. Wir sollten außerdem anders über Sozialleistungen reden. Niemand muss sich schämen, wenn er den Sozialstaat im Notfall in Anspruch nehmen muss. Es ist im Gegenteil ein gutes Recht.
Tagesspiegel: Wissen Sie, wie viele Formularseiten eine alleinerziehende Mutter mit einem Kind ausfüllen muss, damit sie Hartz IV erhält?
Heil: Ich schätze mal um die 20 Seiten.
Tagesspiegel: Mindestens 18 Seiten. Muss das sein?
Heil: Nein, das ist zu viel, wir werden das überprüfen. Aber das genügt natürlich nicht. Wir müssen dafür sorgen, dass Alleinerziehende gar nicht erst im System landen. Deshalb wollen wir den Kinderzuschlag ausweiten, der es ermöglicht, ohne Grundsicherung über die Runden zu kommen. Mir liegt das sehr am Herzen: Meine Mutter musste mich und meinen Bruder in den 70er Jahren alleine durchbringen, sie war voll berufstätig. Ich weiß, wie schwer das für sie war.
Tagesspiegel: Was stimmt eigentlich in den Jobcentern nicht, wenn sich so viele Menschen vom Hartz-System gegängelt fühlen?
Heil: Das liegt jedenfalls nicht an den Mitarbeitern, die machen ihre Arbeit in der Regel sehr gut. Davon konnte ich mich letzten Donnerstag bei meinem Besuch im Jobcenter in Gelsenkirchen erneut überzeugen.
Tagesspiegel: An was liegt es dann?
Heil: Mir ist im Gespräch mit diesen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern noch einmal ganz deutlich geworden: Wenn Jobvermittler den Menschen wirklich helfen wollen, brauchen sie Zeit, um deren Probleme zu klären. Und die sind ganz unterschiedlich. Da gibt es diejenigen, die in zweiter oder dritter Generation arbeitslos sind. Da gibt es aber auch Leute mit ordentlicher Qualifikation, die keinen Anschluss mehr gefunden haben, nachdem ihr Betrieb kaputt ging. Und dann gibt es alleinerziehende Mütter. Ich werde mir bei weiteren Besuchen in den Jobcentern ein noch detaillierteres Bild verschaffen. Klar ist: Wo es nötig ist, werden wir mehr Personal einsetzen.
Tagesspiegel: In der SPD bezweifeln viele, dass es einen menschlicheren Sozialstaat mit Hartz IV geben kann...
Heil: Eine grundsätzliche Debatte ist notwendig. Aber ich bin dafür, dass wir nicht nur in Überschriften reden. Wir dürfen nicht theoretisch oder parteitaktisch diskutieren. Natürlich muss man ein solches System nach 15 Jahren auch mal in die Werkstatt schieben, aufbocken und schauen, welche Teile ausgewechselt werden müssen. Das ist aber ein mühsamer Prozess, da legt man nicht einfach mal den Schalter um. Ich werde im Juni einen Dialog zur Zukunft der Arbeit und der sozialen Sicherheit starten. Ich will mit den betroffenen Menschen reden, mit den Praktikern vor Ort, mit Unternehmen, Gewerkschaften und Sozialverbänden.
Tagesspiegel: Aber Sie wollen Hartz IV nicht komplett abschaffen?
Heil: Ich will nicht, dass wir den Eindruck erwecken, als könne man das Rad zurückdrehen.
Tagesspiegel: Wie kann Hartz IV weiter entwickelt werden?
Heil: Wir werden einen sozialen Arbeitsmarkt einführen, um Langzeitarbeitslosen eine neue Chance zu geben. Der Staat fördert sozialversicherungspflichtige Jobs in der freien Wirtschaft, den Kommunen oder bei den Wohlfahrtsverbänden. Die Menschen sollen nicht in kurzatmigen Maßnahmen landen, sondern für einen längeren Zeitraum Unterstützung erhalten, mindestens fünf Jahre. Wer lange draußen war, kann nicht vom ersten Tag an Vollgas geben. Der braucht Zeit und gutes Coaching.
Tagesspiegel: Der Regierende Bürgermeister Michael Müller fordert ein solidarisches Grundeinkommen. Langzeitarbeitslose sollen dauerhaft für die Kommunen arbeiten. Ist das sinnvoll?
Heil: Ich möchte Menschen, wo immer es geht in sozialversicherungspflichtige Arbeit bringen. Das ist für sie wichtig: aus finanziellen Gründen, aber auch, um soziale Teilhabe zu ermöglichen. Ich habe mir bei meinem Besuch in Gelsenkirchen auch ein Projekt angeschaut, das seit einiger Zeit Menschen beschäftigt, die zuvor lange nicht in Arbeit waren. Und im Gespräch mit ihnen ist mir noch deutlicher geworden, wie wichtig das ist. Und wir dürfen das Ehrenamt auf keinen Fall verstaatlichen. Ich habe mit Michael Müller gesprochen und wir sind uns einig, dass sein Modell noch eine Fülle von Fragen offen lässt. Ich finde seinen und jeden seriösen Beitrag aber interessant für die längerfristige Debatte.
Tagesspiegel: Gehört das Prinzip Fordern und Fördern zu einem gerechten Sozialstaat dazu?
Heil: Mich stört der unproduktive Streit, der seit 15 Jahren die Gesellschaft spaltet. Die einen behaupten, alle Arbeitslosen seien zu faul zum Arbeiten und müssten nur ordentlich getriezt werden. Und die anderen sehen in jeder Mitwirkungspflicht eine Verletzung der Menschenwürde. Beides ist Unsinn. Es braucht Chancen und Regeln.
Tagesspiegel: Also sollte es weiterhin Sanktionen für Hartz-Empfänger geben?
Heil: Die Sanktionen machen in der Praxis nur drei Prozent der Fälle aus. Trotzdem ist es ein Thema, das viele umtreibt. Wir müssen jede Sanktion einzeln überprüfen und gucken, ob sie notwendig ist. Wir sollten die Menschen nicht unnötig verunsichern, die haben es ohnehin nicht leicht. Es gibt sinnvolle Sanktionen aber auch solche, die überflüssig sind.
Tagesspiegel: Welche?
Heil: Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich will Sanktionen nicht generell abschaffen. Wenn jemand eine Chance angeboten bekommt und dann Termine mehrmals nicht einhält, finde ich Sanktionen richtig. Ich halte es aber für falsch, bei den Kosten der Unterkunft zu kürzen, das versetzt viele Menschen in Angst. Und es ist unfair, dass wir junge Leute unter 25 Jahren schärfer sanktionieren als Ältere. Natürlich gibt es Jüngere, die sich hängen lassen. Es gibt aber auch viele, die ambitioniert sind und etwas schaffen wollen. Genauso sieht es bei den Älteren aus.
Tagesspiegel: Was tut die SPD für diejenigen, die jeden Morgen zur Arbeit gehen, obwohl ihr Einkommen kaum über Hartz IV liegt?
Heil: Wir tun eine Menge. Wir sorgen dafür, dass auch Geringverdienern mehr von ihrem Einkommen verbleibt. Wer von der Senkung der Lohn- und Einkommensteuer nicht profitiert, den wollen wir bei den Sozialbeiträgen entlasten. Wir werden den Soli für untere und mittlere Einkommen abschaffen. Außerdem ist es wichtig, dass der gesetzliche Mindestlohn weiter steigt, im Juni wird die Kommission einen konkreten Vorschlag machen. Und wir müssen die Tarifbindung in den sozialen Berufen stärken, davon profitieren Erzieherinnen ebenso wie Pflegekräfte.
Tagesspiegel: Herr Heil, was wollen Sie am Ende der Legislatur erreicht haben, um sagen zu können: Ich habe meine Arbeit gut gemacht?
Heil: Ich will praktische Probleme lösen, damit es den Menschen wirklich besser geht. Also die Situation von Alleinerziehenden verbessern, die Rechte von Arbeitnehmern im Wandel sichern und vielen Langzeitarbeitslosen wieder ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Außerdem steht das Thema Fachkräftesicherung ganz oben auf meiner Tagesordnung. Ich weiß: Wir stehen vor großen Aufgaben. Aber ich bin sicher - mit vereinten Kräften werden wir die Zukunft besser machen als die Gegenwart. Ich will dazu beitragen, dass Menschen sich wieder mehr auf morgen freuen können. Weil sie erlebt haben, dass sie sich auf den Staat verlassen können. Konservativen fällt beim Thema starker Staat an erster Stelle die innere Sicherheit ein. Dabei ist soziale Sicherheit in Zeiten des Wandels genauso bedeutend.