- Datum:
- 22.09.2020
Rheinische Post: Wie wird sich die Lage am Arbeitsmarkt im nächsten Jahr entwickeln?
Hubertus Heil: Ich bin vorsichtig optimistisch, dass wir 2021 eine Frühjahrsbelebung bekommen und der Arbeitsmarkt wieder Fahrt aufnimmt. Ich rechne nicht mit der Rückkehr von Massenarbeitslosigkeit wie vor 15 Jahren und hoffe ab 2023 dann wieder auf gute Zahlen am Arbeitsmarkt. Voraussetzung ist natürlich, dass es keinen zweiten bundesweiten Lockdown gibt und wir im zweiten Halbjahr 2021 einen Impfstoff haben. Branchen wie der Messebau und Veranstalter, aber auch der Maschinenbau und das Verarbeitende Gewerbe sind von der Corona-Krise und strukturellem Wandel stark betroffen. Risiken bestehen auch in einem harten Brexit und im ungewissen Ausgang der US-Wahl im November. Deshalb haben wir die Kurzarbeiterregelungen auch ins nächste Jahr verlängert. Diese stabile Brücke hilft Unternehmen und Beschäftigten in unsicheren Zeiten.
Rheinische Post: Krisenbedingt steigen Löhne und Gehälter nicht mehr so stark, eine Nullrunde für die Rentner ist daher 2021 möglich. Was können Sie den Rentnern im Wahljahr versprechen?
Heil: Wir hatten in diesem Jahr eine sehr kräftige Rentenerhöhung aufgrund der guten Lohnentwicklung im letzten Jahr. Für nächstes Jahr kann ich aber keine großen Versprechen machen, weil die entsprechenden Daten noch nicht vorliegen. Es wird in jedem Fall keine Rentensenkung geben. Aber alles andere wäre jetzt Spökenkiekerei.
Rheinische Post: Sie haben für den Herbst Vorschläge zur Zukunft der Rente angekündigt. Wollen Sie Selbstständige in die Rentenversicherung einbeziehen?
Heil: Corona hat gezeigt, dass wir eine breite Debatte über die Absicherung von Selbstständigen brauchen. Wir werden die Einbeziehung der Selbstständigen in das System der Alterssicherung noch in dieser Legislaturperiode regeln. Daran arbeiten wir mit Hochdruck. Viele Selbstständige erleben gerade in der Krise, wie schlimm es ist, im Alter nicht abgesichert zu sein. Anfang 2021 werden wir im nächsten Schritt darüber reden, wie wir angesichts der schnellen Alterung der Bevölkerung langfristig die Finanzierung der Rentenversicherung sicherstellen.
Rheinische Post: Auch beim Mindestlohn wollen Sie im Herbst Reformvorschläge vorlegen, damit er schneller auf zwölf Euro steigt. Wann soll er diese Höhe erreichen?
Heil: Der Mindestlohn ist eine Erfolgsgeschichte. Wir müssen dennoch Konsequenzen aus der Corona-Krise ziehen. Eine davon muss sein, dass diejenigen, die als Heldinnen und Helden des Alltags gefeiert wurden, mehr bekommen als warme Worte. Deshalb begrüße ich auch den neuen Tarifvertrag in der Altenpflege. Sobald uns ein entsprechender Antrag vorliegt, werden wir ihn zügig prüfen und wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, für die gesamte Branche verbindlich erklären. Eine starke Tarifbindung hat für mich Priorität, gemeinsam mit einer angemessenen Lohnuntergrenze. Bei deren Weiterentwicklung sollten wir uns stärker an der mittleren Lohn- und Gehaltsentwicklung orientieren. Dieser Weg öffnet eine Perspektive, um rascher zu zwölf Euro zu kommen. Ich möchte grundsätzlich an der Mindestlohnkommission festhalten, in der Sozialpartner uns Vorschläge zum Mindestlohn machen.
Rheinische Post: Soll der Mindestlohn noch in der nächsten Legislaturperiode, also bis 2025, auf zwölf Euro steigen?
Heil: Das halte ich für erreichbar.
Rheinische Post: Wie wollen Sie die Tarifbindung der Unternehmen steigern?
Heil: Eine starke Tarifbindung ist vor allem Sache der Sozialpartner. Aber der Staat muss Anreize setzen. Ein Beispiel: Die meisten Bundesländer haben Tariftreuegesetze, nach denen Aufträge nur an Unternehmen gehen, die an Tarifverträge gebunden sind. Das hat der Bund bisher nicht. Ich kann mir vorstellen, dass wir das auch auf Bundesebene einführen.
Rheinische Post: Sie haben ein "Recht auf Homeoffice" angekündigt. War das so zu verstehen, dass Arbeitnehmer einen Rechtsanspruch darauf erhalten?
Heil: Es geht um ein neues Gesetz, damit Arbeit besser zum Leben passt. Wir brauchen einen Ordnungsrahmen für mobiles und ortsflexibles Arbeiten, den ich im Herbst vorlegen will. Die Corona-Krise war ja ein ungewollter Großversuch für viele Beschäftigte im Homeoffice. Ich bin dafür, dass wir daraus Konsequenzen ziehen. Ich möchte das Recht der Beschäftigten stärken, Homeoffice zu ermöglichen, wo es erwünscht ist und betrieblich nichts dagegenspricht. Homeoffice darf aber auch nicht zur Entgrenzung der Arbeit führen, Arbeitszeitregeln müssen auch zuhause beachtet werden. Und ich möchte keinen Zwang für Homeoffice der Beschäftigten schaffen.
Rheinische Post: Und auch keinen Zwang für die Arbeitgeber?
Heil: Es geht darum, die Rechtsposition der Beschäftigten zu stärken. Wo Homeoffice möglich ist, soll es auch möglich gemacht werden. Ich sehe mich nicht als Zwangsminister, sondern als Ermöglicher.
Rheinische Post: Die Finanzierung der Sozialversicherungen wird demografiebedingt künftig schwieriger. Sind Sie deshalb für Steuererhöhungen?
Heil: Wir haben in der Koalition vereinbart, dass wir in der pandemiebedingten schwierigen Situation die Sozialbeiträge mit der Sozialgarantie stabil halten wollen. Die Frage, wie sich die Beiträge nach der Krise entwickeln, wird wesentlich davon abhängen, wie stark die Wirtschaft wächst und wie viele sozialversicherungspflichtige Jobs wir haben. Meine Priorität ist es deshalb Arbeitsplätze zu erhalten und neue zu schaffen.
Rheinische Post: Nochmal: Müssen künftig die Steuern für bestimmte Gruppen steigen?
Heil: Bei der Bundestagswahl wird es sicher darum gehen, ob man den Sozialstaat zurückfährt, wie es einige in der Union wollen, oder ob wir einen starken und handlungsfähigen Sozialstaat behalten. Das führt unweigerlich zu der Debatte, wie die Chancen und Lasten in der Gesellschaft gerecht verteilt werden.
Rheinische Post: Sie wollen ein Lieferkettengesetz einführen, dass deutsche Unternehmen verpflichtet, in der gesamten Lieferkette ihrer Produkte auf Menschenrechte und Umweltstandards zu achten. Warum soll es eine zivilrechtliche Haftung für die Unternehmen geben?
Heil: Es geht im Kern um den Kampf gegen Kinderarbeit und Ausbeutung von Menschen in den Lieferketten. Wir haben seit Jahren auf Freiwilligkeit gesetzt, aber festgestellt, dass sich nur wenige Unternehmen daran beteiligen. Wir wollen nichts Unmögliches, sondern dass die Unternehmen die Risiken der Verletzung der Menschenrechte in ihren Lieferbeziehungen kennen und dass sie geeignete Maßnahmen dagegen ergreifen müssen. Dann muss es auch einen Mechanismus geben, wenn sich ein Unternehmen darum nicht kümmert. Das ist die Idee der zivilrechtlichen Haftung der Unternehmen für in Deutschland geltende Sorgfaltspflichten. Das halte ich für notwendig, weil sonst das ganze Lieferkettengesetz nur ein Placebo ist. Wir wollen schon mithelfen, dass Deutschland seiner Verantwortung für Menschenrechte stärker gerecht wird in der Welt.
Rheinische Post: Das wollen Sie gegen den Widerstand der deutschen Wirtschaft durchsetzen?
Heil: Wen meinen Sie mit der deutschen Wirtschaft? Ich sehe immer mehr ein Auseinanderdriften zwischen den Wirtschaftsverbänden und den Unternehmern vor Ort. Es gibt eine große Initiative namhafter Unternehmen, die für ein Lieferkettengesetz sind, weil es für fairen Wettbewerb steht. Und es gibt die üblichen ablehnenden Reflexe der Verbände.