- Datum:
- 26.03.2020
Funke Mediengruppe: Das Coronavirus breitet sich immer weiter aus. Wie ist Ihnen dabei zumute, Herr Heil?
Hubertus Heil: Das ist die größte Herausforderung unserer Generation. An erster Stelle steht der Schutz der Gesundheit. Es gibt allerdings auch wirtschaftliche Folgen. Ich kämpfe deshalb um jeden Arbeitsplatz und für soziale Sicherheit. Dazu haben wir im Kabinett ein enormes Sozialschutzpaket beschlossen, etwa erleichterte Regeln zur Kurzarbeit. Übrigens kann bei Kurzarbeit und Rente jetzt auch mehr hinzuverdient werden. Wir haben zudem den Zugang zur Grundsicherung erleichtert, damit schnelle Hilfen fließen können und keiner ins Bodenlose fällt. Darüber hinaus haben wir für Lohnersetz gesorgt, wenn Eltern nicht arbeiten können weil Kitas und Schulen geschlossen sind. Und wir haben soziale Einrichtungen abgesichert um sie vor Insolvenz zu schützen. Die Bundesregierung tut was sie kann, jeder an seiner Stelle.
Funke Mediengruppe: Sie waren bereits in Quarantäne, jetzt hat es Angela Merkel getroffen. Was können Sie der Kanzlerin empfehlen?
Hubertus Heil: Corona-Tests und häusliche Quarantäne sind eine interessante Lebenserfahrung. Sie lehrt zudem, dass Führung von zu Hause aus möglich ist. Ich habe selbst ein Ministerium ein paar Tage im Homeoffice geführt. Die Kanzlerin hat am Montag die Kabinettssitzung per Telefonkonferenz geleitet. Ich bin wieder an Bord und die Kanzlerin wird es in absehbarer Zeit auch sein. Ich freue mich, dass ihr erster Corona-Test negativ war.
Funke Mediengruppe: Die Politik will das Virus mit Ausgangs- und Kontaktsperren aufhalten. Wie lange verkraftet Deutschland diese beispiellose Einschränkung der Freiheitsrechte?
Hubertus Heil: Wir haben angesichts der Pandemie eine Ausnahmesituation. Und Viele von uns haben furchtbare Bilder aus Norditalien gesehen. Wir tun deshalb, was nötig und im Rahmen unserer Verfassung möglich ist, um das Leben von Menschen zu schützen. Das ist eine Güterabwägung. Natürlich sind die Maßnahmen, die Bund und Länder gemeinsam beschlossen haben, einschneidend für jeden Einzelnen. Aber sie dienen dem Schutz des Lebens. Ich freue mich, dass so viele Bürgerinnen und Bürger das genauso sehen und mitmachen. Das zeigt, dass unsere Gesellschaft zusammenhält. Gleichwohl wissen wir, dass uns das länger beschäftigen wird.
Funke Mediengruppe: Ganze Wirtschaftszweige sind im künstlichen Koma. Wirtschaftsforscher sagen voraus, dass in Deutschland mehr als eine Million Jobs verloren gehen. Befürchten Sie das auch?
Hubertus Heil: Niemand kann die wirtschaftlichen Folgen derzeit genau vorhersehen. Für unser Rettungspaket haben wir zugrunde gelegt, dass die Wirtschaftsleistung in diesem Jahr um mindestens fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts sinken wird. Das ist ein dramatischer Rückgang. Anders als in der Finanz- und Bankenkrise 2008/09 stehen jetzt alle - vom kleinen Selbstständigen bis zum Dax-Konzern - vor wirtschaftlichen Problemen. Aber wer, wenn nicht unser Land mit all seinen Stärken und mit den gut gefüllten Rücklagen aus der guten Zeit, hat das Zeug, diese Krise zu überstehen? Der Staat wird alles tun, damit wir diese Krise meistern können!
Funke Mediengruppe: Wie viele Betriebe haben schon Kurzarbeit angemeldet?
Hubertus Heil: Wir wissen von der Bundesagentur für Arbeit, dass der Bedarf nach Kurzarbeit enorm ist, auch nach Beratung. Viele Betriebe sind zum ersten Mal mit Kurzarbeit konfrontiert. Allein in der vergangenen Woche haben 76.700 Betriebe angekündigt, Kurzarbeit in Anspruch nehmen zu wollen und das wird bei weitem nicht das Ende der Fahnenstange sein. Davon betroffen sind alle Bundesländer und nahezu alle Branchen. Mein Appell an die Arbeitgeber ist, wo immer es geht, das Kurzarbeitergeld aufzustocken. Denn vor allem diejenigen mit geringem Lohn kämpfen mit Gehaltseinbußen. Leider wird das nicht überall möglich sein. Deshalb haben wir beschlossen, dass Menschen, die nicht mehr über die Runden kommen, leichter ergänzende Grundsicherung erhalten. Das wirkt wie ein Kombilohn für die Zeit der Krise.
Funke Mediengruppe: Sie lockern die Regeln für Hartz IV, prüfen Vermögen und Wohnungsgröße nicht mehr. Wie wollen Sie dabei Missbrauch verhindern?
Hubertus Heil: Es geht doch jetzt nicht um ideologische Debatten, sondern um ganz pragmatische Fragen. Wenn die Bundesagentur für Arbeit und die Jobcenter den Ansturm an Anträgen bewältigen und das Geld schnell auszahlen soll, dann müssen wir sie vorübergehend von Prüfungsaufgaben entlasten. Ich bin fest davon überzeugt, dass die allermeisten, die jetzt ihr gutes Recht auf ergänzende Leistungen in Anspruch nehmen, nach dieser Krise wieder auf eigenen Beinen werden stehen können.
Funke Mediengruppe: Das ändert nichts am Missbrauch, der auch beim neuen Sonderkündigungsschutz auf dem Wohnungsmarkt droht. Mieter könnten ihre Zahlungen ohne Not einstellen...
Hubertus Heil: Moment mal! Es ist nicht so, dass jetzt jeder seine Miete einfach aussetzen kann. Es geht darum, dass Mietschulden gestundet werden können. Keiner soll in dieser schwierigen Zeit seine Wohnung verlieren, weil er momentan seine Miete nicht mehr leisten kann. Neben den Ängsten um Gesundheit und Job soll sich niemand auch noch Sorgen um seine Unterkunft machen müssen.
Funke Mediengruppe: Eine besonders große Last tragen Menschen mit geringem Einkommen: die Kassiererin im Supermarkt, der Polizist, die Pflegekraft. Halten Sie einen Corona-Zuschlag für geboten?
Hubertus Heil: Ich halte es jedenfalls für geboten, den Begriff des Leistungsträgers neu zu diskutieren. Leistungsträger sind nicht nur Krawattenträger, sondern auch diejenigen, die jetzt im Supermarkt an der Kasse sitzen, die in Krankenhäusern Zusatzschichten schieben oder weiterhin unseren Müll entsorgen. Wir müssen uns bewusst machen, was Menschen da jeden Tag leisten - mitunter zu sehr geringen Löhnen. Wir sehen gerade unglaublich viele Heldinnen und Helden des Alltags. Die haben nicht nur warme Worte, sondern langfristig auch bessere Löhne verdient.
Funke Mediengruppe: Und kurzfristig?
Hubertus Heil: Wo das möglich ist, sollten jetzt schon höhere Löhne für Kassiererinnen oder Pfleger gezahlt werden. Aber das kann man nicht staatlich verordnen.
Funke Mediengruppe: Bleiben Sie bei Ihrer Forderung, den Mindestlohn in einem Schritt auf 12 Euro anzuheben?
Hubertus Heil: Die Anhebung des Mindestlohns müssen wir diskutieren - aber unabhängig von Corona. Ich halte es für einen Fehler, diese schwere Krise zu nutzen, um längst bekannte Forderungen zu wiederholen. Unsere erste Priorität gilt dem Gesundheitsschutz, die zweite der Sicherung von Arbeitsplätzen, Existenzen und Einkommen. Darauf konzentriere ich mich jetzt.
Funke Mediengruppe: Wie denken Sie über Arbeitgeber, die ihre Mitarbeiter in dieser Situation nicht ins Homeoffice lassen?
Hubertus Heil: Wo Homeoffice technisch möglich ist, sollte das umgesetzt werden. In ganz vielen Branchen findet das ja auch schon statt. Ich erlebe, dass Arbeitgeber und Beschäftigte ihre Interessenkonflikte zurückstellen und praktische Lösungen finden - ohne dass der Staat vorher Gesetze gemacht hat. Das verdient Anerkennung.
Funke Mediengruppe: Einen Rechtsanspruch auf Home Office halten Sie nicht mehr für nötig?
Hubertus Heil: Das ist jetzt nicht das Problem. In der Notbekämpfung brauchen wir schnelle, hilfreiche Lösungen. Arbeitsrechtliche Grundsatzdebatten können später geführt werden.
Funke Mediengruppe: Gilt das auch für die Reform des Rentensystems? Die Rentenkommission will noch in dieser Woche ihre Ergebnisse vorlegen …
Hubertus Heil: Was die Rentenkommission vorschlägt, werden wir uns noch in dieser Wahlperiode genau ansehen. Zum 1. Juli wird es eine Rentenerhöhung geben, die der guten Lohnentwicklung des vorangegangenen Jahres folgt. Die Rentenkommission hatte die Aufgabe, sich um die langfristige Entwicklung zu kümmern. Corona hin oder her - die sozialen Sicherungssysteme müssen auch in den nächsten Jahren und Jahrzehnten stabil sein.
Funke Mediengruppe: Kommt denn die Grundrente wie vereinbart zum Jahresbeginn 2021?
Hubertus Heil: Das ist mein Ziel und daran arbeite ich weiter.
Funke Mediengruppe: Wie groß sind Ihre Zweifel?
Hubertus Heil: Ich will, dass die Grundrente kommt. Allerdings kann keiner sagen, wie lange diese Krise andauert und wie lange bewährte Abläufe eingeschränkt werden müssen. Auch der Bundestag arbeitet unter veränderten Bedingungen.
Funke Mediengruppe: Was wird übrig sein von unserer sozialen Marktwirtschaft, wenn diese Krise vorbei ist?
Hubertus Heil: Wir werden sehen, dass wir in einem starken Staat leben, der Krisen meistern kann. Unsere soziale Marktwirtschaft ist das beste Mittel, das wir in dieser Situation zur Verfügung haben. Ich bin überzeugt, dass wir schwierige Fragen besser lösen können als Länder, die einen schwächeren Sozialstaat haben. Eine weitere Lektion der Corona-Krise wird sein, dass sich Entstaatlichung nicht bewährt. Wir brauchen einen handlungsfähigen Staat mit einem starken Gesundheitswesen. Privatisierung darf dabei nicht zu weit gehen.