- Datum:
- 30.05.2020
Spiegel: Herr Minister, Ihre Kinder sind sechs und sieben Jahre alt. Wer hat sich bei Ihnen zu Hause in den vergangenen Wochen um den Nachwuchs gekümmert?
Hubertus Heil: Wir kümmern uns beide darum, allerdings meine Frau mehr als ich, obwohl sie auch berufstätig ist. Wir erfahren gerade leidvoll, dass Homeoffice und Homeschooling sich schwer vereinbaren lassen. Es ist eine riesige Herausforderung für alle Familien. Eine Zeitlang habe ich ausschließlich von zu Hause gearbeitet...
Spiegel: ...weil Sie wegen Coronaverdachts in Quarantäne gezwungen waren.
Heil: Ja, am Anfang der Krise, aber gottseidank war der Test negativ.
Spiegel: Sind Sie besorgt, dass es vor allem die Frauen sind, die in der Pandemie Haushalt und Familie am Laufen halten?
Heil: In dieser Krise sehen wir wie durch ein Brennglas vergrößert, was schon zuvor nicht in Ordnung war. Wenn jetzt die Heldinnen und Helden des Alltags gefeiert werden, kann man oft getrost die weibliche Form nehmen: Wir reden über Verkäuferinnen, die jetzt beklatscht werden, aber schon vorher zu wenig verdient haben. Das muss sich ändern. Und im Homeoffice, habe ich den Eindruck, verschieben sich auch viele Aufgaben zu Lasten von Frauen.
Spiegel: Damit legt die Krise offen, dass wir in der Gleichstellung nicht so weit sind wie angenommen.
Heil: Befürchtungen, wie sie die Soziologin Jutta Allmendinger beschreibt, sind berechtigt: Viele Männer gehen ins Arbeitszimmer und schließen die Tür, um nicht gestört zu werden. Frauen arbeiten auch im Homeoffice, kümmern sich aber zugleich um den Haushalt und die Schulaufgaben der Kinder. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass es in der Arbeitswelt gerechter zugeht.
Spiegel: Damit sind Sie als Arbeitsminister doch selbst gefordert.
Heil: Ja, und ich arbeite dafür, dass sich das ändert. Viele Menschen, die jetzt als systemrelevant bezeichnet werden, arbeiten in Berufen, die nicht gut bezahlt werden. Es fällt deutlich auf, dass dies vor allem Frauenberufe sind. Ich habe gerade gelesen, dass von den fünf reichsten Bürgern dieses Landes drei Besitzer von Supermarktketten sein sollen. Gleichzeitig haben nur 25 Prozent der Betriebe im Einzelhandel einen Tarifvertrag. und nur da ist die Bezahlung besser. Die geringen Löhne in Frauenberufen hängen auch damit zusammen, dass Tarifverträge nicht mehr so verbreitet sind. Das ist ökonomisch und sozial nicht vertretbar.
Spiegel: Sie weichen aus, Tarifverträge sind Sache von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, nicht der Politik.
Heil: Ich war schon vor der Krise dafür, die Tarifbindung zu stärken. Wir sollten die Möglichkeiten erleichtern, Tarifverträge in einer Branche für alle Beschäftigten für allgemeinverbindlich zu erklären – auch im Einzelhandel. Die deutsche Sozialpartnerschaft ist in vielen Bereichen brüchig geworden. Diese Entwicklung müssen wir umkehren.
Spiegel: Wie wollen Sie das machen?
Heil: Ich kann mir langfristig steuerliche Anreize und mehr Gestaltungsspielraum für die Sozialpartner in Tarifverträgen vorstellen. Auch sollten wir überall öffentliche Aufträge an Tariftreue binden.
Spiegel: In der Automobilindustrie gibt es gute Löhne, an der Supermarktkasse oder in der Kita schlechte. Sind Frauen selbst verantwortlich, weil sie die falschen Berufe wählen?
Heil: Nein. Es gibt noch immer Rollenklischees, das will ich nicht leugnen. Aber ich glaube nicht, dass es allein eine kulturelle, sondern auch eine handfeste materielle Frage ist. Man könnte ketzerisch sagen: Würde in Erziehungsberufen oder im Einzelhandel deutlich besser bezahlt, würden sich auch mehr Männer dort tummeln.
Spiegel: Krisen produzieren Gewinner und Verlierer. Fürchten Sie, dass jetzt eine junge Generation Corona in ein prekäres Berufsleben startet?
Heil: Wir haben noch keine Zahlen, dass auf breiter Front Ausbildungsplätze weggebrochen sind. Aber angesichts des tiefen wirtschaftlichen Einschnitts ist die Gefahr sehr groß, vor allem bei den Unternehmen, die besonders viele junge Menschen ausbilden – und das sind die kleinen Handwerksbetriebe. Deshalb haben wir in dieser Woche entschieden, dass Betriebe eine Prämie erhalten sollen, wenn sie Auszubildende von insolventen Firmen übernehmen, damit die ihre Ausbildung abschließen können.
Spiegel: Das hilft aber nur Jugendlichen, die schon eine Lehrstelle haben.
Heil: Ja, und deshalb möchte ich zusätzlich, dass wir im Konjunkturpaket eine Ausbildungsprämie für kleine Unternehmen verabreden, die die Zahl ihrer Ausbildungsplätze auch in Coronazeiten halten. Sie soll ein Anreiz sein, dieses Jahr Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen. Wir entlasten damit die Handwerksbetriebe in dieser schwierigen Situation und sichern die Fachkräftebasis von morgen.
Spiegel: Droht die Rückkehr eines Schreckgespenstes: der Langzeitarbeitslosigkeit?
Heil: Wir haben die Instrumente, das zu verhindern. Die Arbeitslosigkeit ist leicht gestiegen, aber im Verhältnis zum wirtschaftlichen Einbruch ist sie erstaunlich niedrig. Wir sichern gerade Millionen von Arbeitsplätzen mit der Kurzarbeit. Jetzt gilt es, die Wirtschaft schnellstmöglich wieder hochzufahren und dabei unser Land im Strukturwandel zu modernisieren.
Spiegel: Wollen Sie den Strukturwandel etwa politisch verordnen?
Heil: Ich will ihn gestalten. Ich will die Kurzarbeit stärker mit Qualifizierung verbinden. Wir haben bereits den Zugang zur Kurzarbeit erleichtert und die Zahlung erhöht. Diese veränderten Regeln laufen zunächst bis zum Jahresende. Ich gehe davon aus, dass wir sie auch darüber hinaus beibehalten werden, weil die wirtschaftliche Krise so tief ist. Aber dann möchte ich, dass die Zeit der Kurzarbeit stärker zur Weiterbildung genutzt wird. Solche Instrumente müssen wir jetzt an den Start bringen, damit wir möglichst gestärkt aus dieser Krise herauskommen – und nicht mit einer verfestigten Arbeitslosigkeit.
Spiegel: Die Automobilindustrie fordert Abwrackprämien, im Zweifel auch für Verbrennungsmotoren. Einen modernen Strukturwandel würde die Bundesregierung damit nicht fördern, im Gegenteil.
Heil: Für den Wandel der Automobilindustrie brauchen wir eine breit angelegte Strategie. Das geht vom beschleunigten Ausbau von Ladeinfrastruktur für Elektromobilität über die Wasserstoff-Forschung bis zum Aufbau von Fabriken für Batteriezellen. Die Abwrackprämie war 2009 in der damaligen Form konjunkturell richtig. Aber jetzt haben wir 2020. Wir müssen Konjunkturimpulse jetzt stärker mit ökologischer und technischer Erneuerung verbinden.
Spiegel: Wir stellen fest, dass ausgerechnet der Arbeitsminister kein Freund der Abwrackprämie ist...
Heil: Ich bin für eine Kaufprämie und dafür sie anders zu gestalten als 2009. Meine Heimat ist das Autoland Niedersachsen. Ich weiß, was alles am Flaggschiff Automobilbau hängt, vom Maschinenbau über Handel und Handwerk, bis zu den kleinen Zulieferern. Es reicht nicht, allein den Motor wieder ins Laufen zu bringen, wir müssen ihn auch erneuern. Ich will die Arbeitsplätze langfristig sichern.
Spiegel: Und wie sähe eine moderne Autoprämie aus Ihrer Sicht aus?
Heil: Genau daran wird gerade intensiv gearbeitet. Neben Kaufanreizen gibt es auch die Möglichkeit in der öffentlichen Beschaffung mehr für die Anschaffung von modernen und effizienten Fahrzeugen zu tun und damit die Nachfrage anzukurbeln.
Spiegel: Die Coronakrise greift in Gesellschaft und Wirtschaft ein wie kein anderes Ereignis der vergangenen Jahrzehnte. Müssen wir den Sozialstaat neu verhandeln?
Heil: Wir müssen ihn weiterentwickeln, ich sehe das als Chance. In der Krise besinnen wir uns auf vieles, was lange bürokratische Last genannt wurde – zum Beispiel den Arbeitsschutz. Über Jahre wurde er in der Öffentlichkeit nur karikiert: Ob ein Paternoster Gefahren birgt, wie groß eine Teeküche sein muss. Eigentlich geht es aber darum, wie Menschen am Arbeitsplatz gesund bleiben, körperlich und psychisch. Die Pandemie macht sichtbar, wie wichtig Arbeitsschutz ist – von Hygienestandards in der Fleischindustrie bis hin zu Schutzmaßnahmen in Friseurbetrieben. Die Krise ist ein Weckruf, den Sozialstaat zu stärken, wo er zu schwach geworden ist.
Spiegel: Es gibt aber auch eine gegenteilige Sicht, die davor warnt, den Einfluss des Staates zu überdehnen. Der CDU-Politiker Friedrich Merz spricht sich dafür aus, alle Leistungen auf den Prüfstand zu stellen.
Heil: Bei allem Respekt vor Friedrich Merz als Person halte ich seine Aussagen auch ökonomisch nicht für plausibel. Solche Sprüche stammen aus einer Welt, die schon in der Finanzkrise 2009 gescheitert ist. Unser Sozialstaat wirkt gerade auch als wirtschaftlicher Stabilisator, indem er hilft, Arbeit zu erhalten – und damit auch Kaufkraft. In den USA ist das nicht der Fall.
Spiegel: Fürchten Sie keine neue Gerechtigkeitsdebatte? Während viele Löhne durch die Krise sinken, erhöht die Bundesregierung Sozialleistungen. Auf Dauer kann auch das eine Gesellschaft spalten.
Heil: Da, wo es notwendig ist, muss ein starker Sozialstaat unterstützen. Selbstständige sind jetzt teilweise auf die Grundsicherung angewiesen. Auch mit dem Kurzarbeitergeld haben viele Menschen schmerzhafte Gehaltseinbußen, deswegen war es richtig, es zu erhöhen. Und die Heldinnen und Helden des Alltags werden im Alter von der Grundrente profitieren. Das ist gerecht und sichert Kaufkraft. Aber ich weiß, dass es Grenzen dessen gibt, was ein Sozialstaat leisten kann.
Spiegel: Wo liegen die?
Heil: Ein leistungsfähiger Sozialstaat braucht wirtschaftliche Dynamik. Deswegen bringen wir jetzt das Konjunkturpaket auf den Weg. Langfristig, nach der Krise, wenn wir die Wirtschaft wieder in Gang gebracht haben, müssen wir auch über eine faire Verteilung der Lasten sprechen.
Spiegel: Und wer sollte aus Ihrer Sicht für die Milliardenlasten bezahlen?
Heil: Mir ist wichtig, dass wir einen fairen Lastenausgleich hinbekommen. Ich bin erst einmal froh, dass über 90 Prozent der Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen künftig nicht mehr den Solidaritätszuschlag zahlen müssen. Das ist ein erster, ausbalancierter Schritt.
Spiegel: Die Union mault aber und will auch alle höheren Einkommen entlasten.
Heil: Maulen reicht nicht. Es braucht ein Konzept. Es ist jedenfalls nicht logisch, wenn Teile der Union klagen, dass der Staat zur Bekämpfung der Krise zu viel Geld aufwende – und sie gleichzeitig die Schieflage bei den öffentlichen Finanzen durch eine komplette Streichung des Soli noch verschärfen wollen.
Spiegel: Sie wollen also Gut- und Besserverdiener für die Krise zahlen lassen?
Heil: Zuerst müssen wir dafür sorgen, dass überall anständige Löhne gezahlt werden. Aber nach der Krise werden wir auch über eine andere Verteilung im Steuersystem sprechen müssen. Täten wir das nicht, wäre die einzige Alternative, die Handlungsfähigkeit des Staates zu beschneiden. Wirtschaft und Gesellschaft aber brauchen einen handlungsfähigen Staat, der auch investieren kann.
Spiegel: Diese Krise wird auch die Sozialabgaben steigen lassen, wenn der Staat nicht eingreift. Im Koalitionsvertrag steht, dass die Gesamtbelastung 40 Prozent eines Bruttolohnes nicht übersteigen darf. Passt diese Grenze in die Corona-Zeit?
Heil: Die 40 Prozent-Marke ist für diese Legislaturperiode vereinbart worden. In diesem und im nächsten Jahr wird es keine Erhöhung der Sozialbeiträge geben, das wäre wirtschaftlich kontraproduktiv. Die langfristige Entwicklung ist erst nach Bewältigung der Krise überschaubar.
Spiegel: Im Juli steht eine Rentenerhöhung an, die wie aus der Zeit gefallen wirkt. Im Osten steigen die Renten um 4,2 Prozent, im Westen um 3,45.
Heil: Und darüber sollten wir uns freuen.
Spiegel: Was halten Sie von Forderungen, die Erhöhung wegen der Krise zu verschieben oder auf zwei Jahre zu verteilen?
Heil: Nichts. Wer so etwas fordert, hat das Rentensystem nicht verstanden. Die Rentenerhöhung in diesem Jahr zeichnet die gute Lohnentwicklung des Vorjahres nach. Es ist auch eine Frage der Verlässlichkeit, dass wir diesen Mechanismus in Krisenzeiten nicht einfach abschaffen. Und die Rentenerhöhung ist jetzt auch ein Nachfrageimpuls.
Spiegel: Klassische SPD-Themen feiern Erfolge wie lange nicht. Höhere Löhne für Pflegekräfte. Ein starker Staat. Gesellschaftliche Solidarität. Warum kann die SPD selbst keine Erfolge feiern?
Heil: Mir ist wichtig, dass wir solide Politik mit sozialdemokratischer Handschrift machen. Die Menschen haben aktuell doch kein Interesse an reiner Parteipolitik. Die wollen gut durch die Krise kommen. Richtig ist, dass das Bewusstsein für die Ziele der SPD gewachsen ist. Es gibt eine Nachfrage nach sozialdemokratischer Politik, und wir machen bei der Bundestagswahl ein gutes Angebot dafür.
Spiegel: Warum wird ihr Angebot dann nicht geschätzt. Die SPD-Minister Giffey, Scholz und Heil sind präsent wie lange nicht, trotzdem dümpelt die SPD in Umfragen um die 15 Prozent herum.
Heil: Die SPD in der Bundesregierung, im Bundestag, in den Ländern und im Willy-Brandt-Haus leistet derzeit einen wichtigen Beitrag, um unser Land durch schwierige Zeiten zu führen. Und die Bundestagswahl ist im nächsten Jahr.
Spiegel: Die beiden Parteivorsitzenden haben Sie bei diesem Lob nicht ausdrücklich erwähnt. Mit Absicht?
Heil: Da sollten Sie bitte nichts hineingeheimnissen. Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken schließe ich mit ein. Uns alle verbindet, dass wir nach der Bundestagswahl eine SPD-geführte Regierung wollen.
Spiegel: Derzeit haben Sie noch nicht einmal einen Kanzlerkandidaten. Walter-Borjans und Saskia Esken haben den SPD-Fraktionsvorsitzenden Ralf Mützenich dafür ins Rennen gebracht. Eine gute Wahl?
Heil: Wir werden zum richtigen Zeitpunkt entscheiden und führen solche Debatten nicht über den Spiegel...
Spiegel: Und wie stellen Sie sich den richtigen Kandidaten vor?
Heil: Person, Programm und Performance müssen zusammenpassen. Jetzt geht es erst einmal darum, ein Konjunkturpaket auf den Weg zu bringen – und Bundestagswahl ist 2021.
Spiegel: Sie haben schon erklärt, dass Sie selbst nicht antreten wollen.
Heil: Das gilt unverändert.
Spiegel: Finanzminister Olaf Scholz erreicht die höchsten Zustimmungswerte aller SPD-Politiker. Warum sollte die Partei diesem Urteil nicht einfach vertrauen?
Heil: Keine Sorge. Unseren Kanzlerkandidaten werden wir Ihnen rechtzeitig vorstellen. Gehen Sie ganz grundsätzlich davon aus, dass ich von Olaf Scholz sehr viel halte und ich mich freue, dass das viele Menschen in Deutschland genau so sehen.
Spiegel: Herr Heil, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.